Deutschland im Jahr 2019: wir haben eine Kanzlerin (schon wieder); einen überwachungsgeilen Innenminister (er schleppt immer noch ein 9/11-Trauma mit sich herum); eine supergeheime, dem Innenminister unterstellte Spezialeinheit; mittels Videokameras eine Totalüberwachung der Bürger und linke Systemgegner, die mit täglichen Demonstrationen und dem Zerstören von Kameras die Polizei auf Trab halten.
Vor diesem dystopischen Hintergrund spielt sich Markus Stromiedels zweiter Roman „Feuertaufe“ ab. Er schließt unmittelbar an „Zwillingsspiel“ an, kann aber vollkommen unabhängig von seinem Debüt gelesen werden. Sogar wer „Zwillingsspiel“ kennt, wird die wenigen Hinweise in „Feuertaufe“ auf „Zwillingsspiel“ mit der Lupe suchen müssen.
In „Feuertaufe“ sterben in Kreuzberg bei einer Brandstiftung in einem mehrstöckigem Mietshaus zwölf Menschen. Nur ein neunjähriger Junge überlebt.
Jetzt soll Kommissar Paul Selig den Täter finden. Jedenfalls ist das die offizielle Version. Denn eigentlich soll Selig nur den Grüßaugust für die Presse spielen und die Soko-Kollegen in Ruhe ihre Arbeit machen lassen. Selig mischt sich trotzdem in die Ermittlungen ein.
Gleichzeitig will er herausfinden, wer seinem siebzehnjährigem Sohn Tobias eine Pistole, die vor einem Jahr in Schottland bei einem Banküberfall benutzt wurde, in die Jackentasche steckte.
Und, als ob all das noch nicht genug wäre, will Selig einen Mann mit einer Tätowierung in der Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger finden. Der Mann war auch, wie Selig herausfindet, bei dem Brandanschlag dabei und die Täter scheinen verdammt gute Verbindungen zur Polizei und der Regierung zu haben.
Das klingt jetzt nach einem Politthriller ganz nach meinem Geschmack. Auch dass Stromiedel seine negative Zukunftsutopie eher langsam enthüllt dürfte mir gefallen. Immerhin ist für seine Charaktere die Überwachung Alltag. Auch die kleinen Schlenker zu Berliner Lieblingsprojekten, wie der fertiggestellten U 55 (sehr unwahrscheinlich) und der Tempelhof-Nachnutzung als Endlager für Berliner Behörden (nicht unwahrscheinlich), gefallen.
Aber (genau auf dieses „aber“ habt ihr gewartet) die Dystopie wirkt angesichts der schon heute existierenden technischen Möglichkeiten hoffnungslos veraltet. Stromiedels Überwachungsszenario ist vor allem eine gigantische Videoüberwachung, auf die die Polizei in Echtzeit zugreifen und per Gesichtserkennung Personen verfolgen kann. Das liest sich wie ein Mix aus „1984“, „Minority Report“ und „Staatsfeind Nr. 1“.
Das ist natürlich eine erschreckende Zukunft, aber die schon heute existierenden Überwachungsmöglichkeiten leisten auch ohne eine Echtzeit-Verknüpfung aller Videokameras ähnliches. Bis vor wenigen Tagen wurden alle Verbindungsdaten im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung sechs Monate gespeichert. Schon damit war, wenn die Person ein Handy mitgenommen hatte, ein lückenloses Bewegungsprofil möglich. Die Polizei kann Bankdaten abfragen. Es besteht, ohne das Wissen des Besitzers, die Möglichkeit einer Online-Durchsuchung von Computern.
Angesichts dieser schon heute bestehenden technischen Möglichkeiten einer Überwachung und bestehender Kompetenzen der Polizei und der Geheimdienste verharmlost Stromiedels in knapp zehn Jahren spielende Utopie mögliche Entwicklungen hin zu einem freundlichen Überwachungsstaat.
Auch die Manipulationen von Daten und das Einloggen in Computer geht in „Feuertaufe“ zu einfach. Bei Stromiedel genügt ein einfaches Passwort. Möglich und heute schon möglich wären Fingerabdrücke und Irisscans. Möglich wären auch interne Plausibilitätsüberprüfungen (zum Beispiel ob die Person die sich anmeldet auch im Gebäude ist) und Analysen des Tippverhaltens. Daran wird gearbeitet. Ebenso wird daran gearbeitet, anhand bestimmter Wort- und Satzkonstruktionen auch unter verschiedenen Namen schreibende Autoren zu identifizieren.
Der Plot selbst ist für einen eingefleischten Politthriller-Fan extrem vorhersehbar. Auch wer der Bösewicht ist. Nur das Motiv bleibt bis zum Schluss im Dunkeln und, nachdem es enthüllt wird, stellt sich die Frage, warum die Bösewichte um ihr Ziel zu erreichen ein ganzes Haus in Brand stecken mussten. Es gibt auch einige weitere unbeantwortete Fragen, damit zusammenhängende Plotlöcher und nicht konsequent durcherzählte Handlungsstränge, die den Eindruck erwecken, Stromiedel habe große Teile der Geschichte beim Schreiben entwickelt; – weshalb immer wieder, wenn es beginnt langweilig zu werden, der sprichwörtliche Mann mit der Pistole den Raum betritt. Das sorgt dann für die nötige Action und hält Kommissar Selig so sehr in Bewegung, dass seine seltsamen Ermittlungsmethoden kaum auffallen. Denn Selig kümmert sich keine Sekunde um die üblichen Verdächtigen und Motive, sondern sucht von Anfang an nur den tätowierten Mann und stößt ziemlich schnell auf Widerstände im Polizeiapparat.
Markus Stromiedel: Feuertaufe
Knaur, 2010
496 Seiten
8,95 Euro
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Lesung
Markus Stromiedel stellt „Feuertaufe“ am Dienstag, den 9. März, um 20.00 Uhr im Kriminaltheater Berlin (Palisadenstraße 48) vor. Guntbert Warns liest, Marion Brasch moderiert den Abend und wer wirklich einen Sitzplatz bekommen will, sollte sich vorher anmelden.
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Hinweise
Homepage von Markus Stromiedel
