DVD-Kritik: Über die nette, gut besetzte Krimikomödie „Henry & Julie“

November 7, 2011

Das DVD-Cover von „Henry & Julie: Der Gangster und die Diva“ mit Keanu Reeves, der eine MP in seiner Hand hält, ist reiner Etikettenschwindel. Denn außer einigen Revolvern gibt es in dieser romantischen Bankräuberkomödie mit Screwball-Touch keine Schusswaffen.

Der von Keanu Reeves gespielte Henry ist ein Allerweltsjunge, der von allen herumgestoßen wird, sein Leben weitgehend passiv erleidet und der gerade von seiner Nachtschicht als Mautkassierer an einer Autobahn in der Nähe von Buffalo, New York, zurückgekommen ist und sich mit seiner Frau über ihre Babypläne unterhält, als er von seinen Freunden ohne sein Wissen in einen Banküberfall hineingezogen und als einziger verurteilt wird.

Nach seinem Gefängnisaufenthalt beschließt er, die Bank auszurauben. Immerhin wurde er bereits dafür verurteilt. Zusammen mit seinem Knastkumpel Max (James Caan) planen sie den Einbruch in die Bank – durch einen alten Tunnel, der in einem alten Theater beginnt. In ihm wird gerade eine Aufführung von Anton Tschechows letztem Theaterstück „Der Kirschgarten“ geprobt und Henry verliebt sich in die impulsive Hauptdarstellerin Julie (Vera Farmiga). Als Max herausfindet, dass der Tunnel in der Garderobe des Hauptdarstellers beginnt, verschafft er Henry die Rolle, die auch die Beziehung von Henry und Julie spiegelt.

Henry & Julie“ ist eine angenehm altmodische Komödie, die eindeutig eine Liebeserklärung an die klassischen Screwball- und romantischen Hollywood-Gaunerkomödien, die irgendwann in den sechziger Jahren aus den Kinos verschwanden, ist und die in den letzten Jahren immer wieder von Woody Allen in seinen Krimis verklärt wurden. Entsprechen gediegen ist die Machart, die Auswahl der Schauplätze und auch die Musikauswahl erfreut das Herz des Nostalgikers. Die Schauspieler, vor allem Vera Farmiga, James Caan und Peter Stormare als Theaterregisseur, haben erkennbar ihren Spaß und liefern herrlich exzentrische Charakterstudien ab. Dagegen wirkt Keanu Reeves als Biedermann, der zum Gewalt ablehnenden Verbrecher wird, noch blasser. Insgesamt ist „Henry & Julie“ eine kurzweilige, aber auch weitgehend überraschungsfreie Unterhaltung, bei der sich für Henry und Julie das Leben und die Kunst immer mehr miteinander vermischen und das Publikum eine einmalige Tschechow-Premiere erlebt.

Henry & Julie: Der Gangster und die Diva (Henry’s Crime, USA 2010)

Regie: Malcolm Venville

Drehbuch: Sacha Gervasi, David N. White (nach einer Geschichte von Stephen Hamel und Sacha Gervasi)

mit Keanu Reeves, Vera Farmiga, James Caan, Peter Stormare, Bill Duke, Danny Hoch, Fisher Stevens

DVD

Sunfilm

Bild: 16:9 (1:2,35)

Ton: Deutsch (DD 5.1, DTS), Englisch (DD 5.1)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Trailer (deutsch, englisch)

Länge: 108 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

(Blu-ray identisch)

Hinweise

Homepage zum Film

Wikipedia über „Henry & Julie: Der Gangster und die Diva“ (deutsch, englisch)

Collider: Interview mit Keanu Reeves über „Henry & Julie“ (20. September 2010)

Bonusmaterial

eine Version des DVD-Covers, die wohl für uns zu bieder war

man hätte natürlich auch das Originalplakat verwenden können

eine Pressekonferenz gab es auf dem Toronto International Film Festival

 

 


DVD-Kritik: die tolle Dennis-Lehane-Verfilmung „Gone Baby Gone“

November 7, 2011

Als Ben Affleck sagte, dass er Dennis Lehanes hochgelobten Privatdetektivroman „Gone Baby Gone“ mit den Privatdetektivpaar Patrick Kenzie und Angela Gennaro verfilmen wollte, war die Skepsis groß. Gut, er hatte mit Matt Damon das Oscar-nominierte Drehbuch für „Good Will Hunting“ geschrieben, aber das war 1997. Danach spielte er in „Armageddon – Das jüngste Gericht“, „Pearl Habor“, „Der Anschlag“, „Daredevil“ und „Paycheck – Die Abrechnung“ mit, er sammelte Razzie-Nominierungen und erhielt Razzies, wie andere Rubbellose sammeln. Von einem intellektuellem Anspruch war bei diesen Filmen nichts zu spüren.

Dass er dann auch noch die Hauptrolle mit seinem jüngeren Bruder Casey Affleck besetzte, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Ein Milchbubi, der bislang nur als unauffälliger Sidekick in den Ocean’s-Filmen bei denen halb Hollywood mitspielte und vernachlässigbaren Filmen wie „American Pie 2“ auftrat, sollte einen Hardboiled-Privatdetektiv spielen. Undenkbar.

Da sah man vor seinem geistigen Auge schon eine vermurkste Bestsellerverfilmung, bei der man überall erklären musste, dass das Buch viel besser sei. Dass Lehane eine tolle Geschichte geschrieben habe; eine in der es um das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern, um Verantwortung gegenüber den eigenen und fremden Kindern, über Werte und auch um die Frage, was man, wenn Recht, die eigene Moral und das offensichtlich beste für ein Kind diametral gegenüber stehen, tun soll. Ernste Themen, die Lehane in seinem Roman in einer fein komponierten Geschichte auf über fünfhundert Seiten kurzweilig erzählte und die so dicht und detailreich ist, dass man sich schon fragte, wie der Drehbuchautor die fünfhundert Seiten in zwei Filmstunden pressen wollte. Doch auch dann würde noch ein Genrefilm entstehen, der eher an Howard Hawks‘ Raymond-Chandler-Verfilmung „Tote schlafen fest“ (mit Humphrey Bogart) als an einen Blockbuster-Actionfilm erinnern würde.

Dann kam der Film in die Kinos – und die Kritiker und Krimifans waren begeistert. Denn Ben Affleck hatte einen richtig guten Privatdetektiv-Krimi mit grandiosen Schauspielern (Morgan Freeman, Ed Harris, die Oscar-nominierte Amy Ryan; um nur die bekanntesten zu nennen) und, dank des Drehs vor Ort mit lokalen Schauspielern und Laien, einem tiefen Gefühl für Boston und die Besonderheiten der Stadt gedreht. Dass die Geschichte dafür etwas entschlackt wurde, war zu verschmerzen. Es wird zwar nicht mehr die Komplexität des Romans erreicht, aber ob Patrick Kenzie am Ende die richtige Entscheidung getroffen hat, bleibt im Film genau so offen, wie im Buch. Affleck vertraute hier, genau wie Dennis Lehane (der 2010 in „Moonlight Mile“ Patrick Kenzie und Angela Gennaro wieder mit dem Fall und den Folgen konfrontierte), auf den mündigen Zuschauer.

Die beiden Privatdetektive sollen, beauftragt von der Schwiegermutter die verschwundene vierjährige Amanda McCready suchen. Die Mutter Helene taugt nur als schlechte Beispiel und alle befürchten das Schlimmste. Denn obwohl die Polizei, unterstützt von den Medien und halb Boston Amanda sucht, gibt es keine Spur.

Im Film, wie im Buch (da noch deutlicher), begeben sich Kenzie und Gennaro in das Herz der Finsternis. Denn weil es keine Lösegeldforderung gibt, befürchten sie, dass Amanda entweder in den Händen von Kinderschändern ist und vielleicht schon tot ist.

Als sie Amanda am Ende entdecken, stehen sie vor der Frage, ob sie Amanda aus den Händen der Entführer befreien und sie, entsprechend ihrem Auftrag, zur Mutter, die sich in der Vergangenheit einen Scheiß um ihre Tochter kümmerte, zurückbringen oder sie bei der sie liebenden Familie lassen sollen.

Gennaro möchte das Kind bei der Familie lassen. Kenzie entscheidet sich dagegen. Er bringt Amanda zurück, stürzt damit mehrere Familien und Polizisten ins Verderben und im letzten Bild lässt Regisseur Affleck uns mit der Frage, ob Patrick Kenzie richtig gehandelt hat, zurück. Denn Helene kümmert sich immer noch nicht um ihre Tochter.

Gone Baby Gone“ ist ein klassischer Privatdetektiv-Krimi, der fest in der Tradition verwurzelt ist, sich deutlich am New-Hollywood-Kino der siebziger Jahre orientiert und seine Geschichte als spannenden Vorwand nimmt, um moralische Fragen vielschichtig zu behandeln und den Zuschauer am Ende ohne eine einfache Antwort zurücklässt. Da ähnelt er sehr Clint Eastwoods ebenso gelungener Dennis-Lehane-Verfilmung „Mystic River“. Gleichzeitig fällt auf, wie sehr Ben Affleck auch mit vielen Außenaufnahmen, einheimischen Schauspielern und Laien, ein Bild von seiner Heimatstadt zeichnet.

Und Casey Affleck erscheint jetzt als die einzig mögliche Besetzung für Patrick Kenzie, den er als einen jugendlichen (31 Jahre!), von der Aufgabe scheinbar überforderten (normalerweise sucht er mit seiner Partnerin untergetauchte Erwachsene), bauernschlauen, furchtlosen und auch hartnäckig-starrköpfigen Mann spielt, dessen resignierte Traurigkeit schon von der ersten Minute erahnen lässt, wie schlecht die Geschichte ausgeht. Nach „Gone Baby Gone“ spielte Casey Affleck in „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ den Bösewicht und er war das Beste an diesem bedeutungsschwanger-langatmigen Western. In der zu texttreuen und daher durchwachsenen Jim-Thompson-Verfilmung „The Killer inside me“ war er der Antiheld Lou Ford und gerade sein harmloses Aussehen machte Lou Ford noch bedrohlicher. Beide Male zeigte Casey Affleck was er kann und auch in der jetzt im Kino laufenden Einbrecherkomödie „Aushilfsgangster“ spielt er wieder einen Charakter, der sich, aufgrund seiner Wertvorstellungen, gegen seine Freunde stellen muss.

Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ ist, auch beim wiederholten Sehen, ein guter Film, der mit der Zeit sogar besser wird. 2007 war er, als er im Kino lief, einer meiner Lieblingsfilme – und vier Jahre später hat sich an meiner Meinung nichts geändert. Im Gegenteil.

Und wenn ich irgendwann eigene Kinder habe…

 

Das Bonusmaterial

 

Das Bonusmaterial ist auf den ersten Blick nicht besonders umfangreich, aber sehenswert. Besonders die informativen Audiokommentare zum Film und den „Geschnittenen Szenen“ (wobei sie hier wenig sagen) von Regisseur und Drehbuchautor Ben Affleck und Drehbuchautor Aaron Stockard beeindrucken durch ihre nüchterne, analytische Schärfe, die man eher bei einem Audiokommentar, der Jahre nach der Fertigstellung des Films aufgenommen wurde, vermutet hätte. Bei den „Geschnittenen Szenen“ nimmt der anders geschnittene Anfang, in dem Patrick Kenzie und Angela Gennaro bei der Arbeit und in ihrer Wohnung gezeigt werden, die Hälfte der 17 Minuten in Anspruch. Affleck hatte die Szenen dann aus Zeitgründen weggelassen.

Die beiden Featurettes sind okay, aber etwas kurz und arg hektisch geschnitten.

Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel (Gone Baby Gone, USA 2007)

Regie: Ben Affleck

Drehbuch: Ben Affleck, Aaron Stockard

LV: Dennis Lehane: Gone, Baby, Gone, 1998 (Kein Kinderspiel; später, aufgrund des Films „Gone Baby Gone“)

mit Casey Affleck, Michelle Monaghan, Morgan Freeman, Ed Harris, John Ashton, Amy Ryan

DVD

Studio Canal

Bild: 1,85:1 (anamorph)

Ton: Deutsch, Englisch (5.1 DD)

Untertitel: Deutsch, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte

Bonusmaterial: 6 zusätzliche Szenen und alternatives Ende; Audiokommentar von Autor und Regisseur Ben Affleck und Co-Autor Aaron Stockard; Authentizität einfangen: Die Besetzung von „Gone Baby Gone“; Heimkehr: Hinter den Kulissen mit Ben Affleck; Trailer; Wendecover

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Wikipedia über „Gone Baby Gone“ (deutsch, englisch)

Homepage von Dennis Lehane

Thrilling Detective über Patrick Kenzie und Angela Gennaro

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Coronado“ (Coronado, 2006)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Moonlight Mile“ (Moonlight Mile, 2010)

Dennis Lehane in der Kriminalakte


TV-Tipp für den 7. November: Lone Star

November 7, 2011

 

Arte, 20.15

Lone Star (USA 1996, R.: John Sayles)

Drehbuch: John Sayles

In Texas wird in der Wüste ein Skelett mit einem Sheriffstern gefunden. Sheriff Sam Deeds (Chris Cooper) versucht den vierzig Jahre alten Mordfall zu klären und schnell fragt er sich, was sein verstorbener Vater, der ungekrönte und immer noch geachtete Herrscher der Stadt, mit dem Mord zu tun hat und ob er sein Andenken beschmutzen soll.

Sayles ist ein Meisterwerk mehrschichtigen Erzählens gelungen: mit knapp einem Dutzend wichtigen Rollen, mit überlegter Koppelung von Gegenwart und Vergangenheit, lakonisch-doppelsinnigen Dialogen, ausgefeilter Kameraarbeit, Musik, die drei Kulturen einfängt, und atemberaubenden Zeitübergängen.“ (Fischer Film Almanach 1998)

Bei dem Lob vergisst man fast, dass „Lone Star“ auch ein verdammt unterhaltsamer Krimi ist.

Das Drehbuch war für einen Oscar („Fargo“ gewann), einen Golden Globe, den BAFTA, den Independent Spirit Award und den Preis der Writers Guild of America (wieder gewann „Fargo“) nominiert.

mit Chris Cooper, Elisabeth Pena, Kris Kristofferson, Miriam Colon, Matthew McConaughey, Frances McDormand

Hinweise

Wikipedia über „Lone Star“ (deutsch, englisch)

Homepage von John Sayles

John Sayles in der Kriminalakte