Das, wofür Don Winslow zuletzt in „Das Kartell“ über achthundert Seiten und eine sich über ein Jahrzehnt mäandernde Geschichte brauchte, erzählt Denis Villeneuve in seinem hochspannenden Action-Thriller „Sicario“ innerhalb von zwei Stunden anhand einer auf den ersten Blick eher kleinen Episode im mexikanisch-amerikanischen Drogenkrieg.
Kate Macer (Emily Blunt), FBI-Expertin für Geiselbefreiungen, stößt bei einem Einsatz zufällig auf ein Kartellhaus. In den Wänden stapeln sich die Leichen. Eine Sprengfalle tötet mehrere ihrer Kollegen.
Danach erhält sie das Angebot, in dem Team von Matt Graver (Josh Brolin) mitzuarbeiten. Graver versichert ihr, dass sie mit seiner Hilfe gegen die Hintermänner, die für den Tod ihrer Kollegen verantwortlich sind, vorgehen kann. Sie könne das Drogenübel an der Wurzel packen. Macer ist einverstanden – und sie betritt eine Welt, in der die normalen Regeln der Polizeiarbeit nicht mehr gelten.
Ihren ersten Einblick in Gravers Welt erhält sie bei einer Gefangenenüberstellung von Juárez in die benachbarte USA. In dem Autokonvoi ist neben Graver und etlichen schwer bewaffneten Männern, die auf den ersten Blick mehr Erfahrung im Kampf in Kriegsgebieten als mit der regulären Polizeiarbeit haben, auch Alejandro (Benicio Del Toro), ein südamerikanischer Ex-Staatsanwalt mit dunkler Vergangenheit. Genau wie Graver sagt er ihr nur das Nötigste und es ist immer unklar, ob sie ihr die Wahrheit sagen, Wichtiges verschweigen oder sie einfach belügen.
Schockiert beobachtet sie bei der Rückfahrt in die USA, wie einige Drogen-Killer, während sie im Stau vor der Grenze stehen, sie überfallen wollen. Aber Gravers Männer sind schneller. Skrupellos töten sie am helllichten Tag auf offener Straße alle, die sie bedrohen oder ihre Mission gefährden könnten. Danach verlassen sie, entgegen allen Regeln der Polizeiarbeit, die von Macer bislang akribisch befolgt wurden, den Tatort.
Diese Überstellung des mexikanischen Gefangenen ist nur der erste Schritt auf Macers Weg in die Finsternis, in das Land der Wölfe, wie es mal halbpoetisch genannt wird. Denn Graver, der mal sagt, er arbeite für die CIA, und seine Männer kümmern sich, im Gegensatz zu Macer, herzlich wenig um Recht und Gesetz. Bei ihnen zählt nur die Effektivität bei ihrer Jagd nach einem Drogenboss.
Denis Villeneuve, zuletzt „Enemy“, zeigt wieder einmal, dass er keine Lust hat, den gleichen Film zweimal zu drehen. Dieses Mal inszenierte er einen knallharten Thriller, der eine kleine Episode aus dem schon seit Jahrzehnten andauernden, erfolglosen Drogenkrieg erzählt. Die nur auf den ersten Blick geradlinige und einfache Geschichte wird schnell zu einem breiten Panorama des Krieges an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, bei dem alle moralischen Gewissheiten verschwinden und der genau deshalb zum Nachdenken anregt.
Das macht „Sicario“ zum Action-Polit-Thriller für den denkenden Menschen, der sich über die gelungene Verknüpfung von grandiosen, hochspannenden Action-Szenen, auch dank der Kamera von Veteran Roger Deakins und der effektiven Musik von Jóhann Jóhannsson, treffender politischer Analyse, genauem Einblick in eine für uns fremde Welt und dem Aufwerfen vielfältiger moralischer Fragen freut. Denn in dem Film hat jeder gute Gründe für seine Taten. Ob wir am Ende in Macers oder Alejandros Welt leben wollen, müssen wir selbst beantworten. All das sichert „Sicario“ einen Platz in meiner Jahresbestenliste; – wenn ich dazu komme, eine solche zu erstellen.
„Sicario“ kann, auch weil Benicio Del Toro eine ähnliche Rolle spielt (jedenfalls können wir uns mit einigen kleineren gedanklichen Verrenkungen vorstellen, dass der „Traffic“-Polizist Javier Rodríguez heute Alejandro ist), als Fortsetzung von „Traffic – Macht des Kartells“ (USA 2000, Regie: Steven Soderbergh) gesehen werden. So wie Soderberghs Film vor fünfzehn Jahren eine Bestandsaufnahme des Scheiterns des US-amerikanischen „war on drugs“ war, ist „Sicario“ eine aktualisierte Bestandsaufnahme dieses inzwischen grandiosen Scheiterns, die zeigt, wie sehr sich, im Schatten des „wars on terror“, die Lage verschlimmerte und der Drogenkrieg jegliches Maß verlor.
Als Ergänzung zu „Sicario“ empfehle ich die ab 6. Oktober als VoD erhältliche (ansehbare?) und in einigen Kinos laufende Doku „Cartel Land“ von Matthew Heineman. Er porträtiert den Ex-Soldaten Tim ‚Nailer‘ Foley, Anführer einer Bürgerwehr gegen mexikanische Einwanderer und Drogenkuriere in Arizona, und Doktor José ‚El Doctor‘ Mireles, Anführer der Autodefensas, einer Gruppe Bürger, die sich im mexikanischen Bundesstaat Michoacan gegen die Macht der dortigen Drogenkartelle wehren. Mit einem überraschendem Ergebnis.
Sicario (Sicario, USA 2015)
Regie: Denis Villeneuve
Drehbuch: Taylor Sheridan
mit Emily Blunt, Benicio Del Toro, Josh Brolin, Victor Garber, Jon Bernthal, Daniel Kaluuya, Jeffrey Donovan, Raoul Trujillo, Julio Cedillo, Hank Rogerson, Bernardo P. Saracino, Maximiliano Hernández
Länge: 122 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
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Hinweise
Amerikanische Facebook-Seite zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Sicario“
Moviepilot über „Sicario“
Metacritic über „Sicario“
Rotten Tomatoes über „Sicario“
Wikipedia über „Sicario“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Denis Villeneuves „Enemy“ (Enemy, Kanada/Spanien 2013)
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Die Cannes-Pressekonferenz