Neu im Kino/Filmkritik: „Hardcore“ – es gibt nur eine Perspektive

Ein Actionfilm aus der Ego-Shooter-Perspektive – wie kann das gehen? Immerhin lebt ein Actionfilm von, nun, der Action. Also Schlägereien, Gerenne, Verfolgungsjagden, Autocrashs. Stunts eben, bei denen der Stuntman sich auch verletzten kann. Und dann muss er das alles noch mit einer Kamera machen. Zum Glück – und deshalb konnte „Hardcore“ inszeniert werden – wurden die Filmkameras in den letzten Jahren immer kleiner und leistungsfähiger. Verschiedene YouTube-Videos zeigen das. Ebenso verschiedene Aufnahmen bei Sportübertragungen. Zum Beispiel bei Autorennen. Im Film wurden dann auch fast ausschließlich GoPro-Kameras verwandt, was auch zu einer eher nervige Fischaugenoptik und einer auf der großen Leinwand schlechten Bildqualität führt. Das ist dann näher an Found-Footage-Filmen als an einem wirklichen Kinoerlebnis.

Gleichzeitig ist die Idee, einen Film, wie einen Roman, aus der Ich-Perspektive zu erzählen, faszinierend. Bei Romane wird das ständig gemacht und es ist kein Problem. Bei Filmen sehr selten. Erst 1946 inszenierte Robert Montgomery mit der Raymond-Chandler-Verfilmung „Die Dame im See“ (The Lady in the Lake) erstmals einen Film ausschließlich mit subjektiver Kamera. Die damals zu bewältigenden technischen Schwierigkeiten waren enorm. Der Film selbst scheiterte letztendlich, weil das, was in einem Roman grandios funktioniert, in einem Film nicht funktioniert. Jedenfalls nicht über die Länge eines Spielfilms. Ilya Naishuller (oder der Ausstatter) kennt diesen Film. Denn während einer Verfolgungsjagd sehen wir in einem Zimmer ein Plakat von „The Lady in the Lake“. Aber er erzählt keinen dialoglastigen Kriminalfilm, sondern einen waschechten Action-Thriller.

In „Hardcore“ erwacht Henry in einem Labor. Ohne Gedächtnis, ohne Stimme und ohne einige Glieder. Gerade werden ihm von seiner Frau Estelle künstliche Ersatzglieder angeschraubt. Plötzlich bricht die Hölle los. Estelle wird von einem Gangsterboss entführt und Henry versucht, leicht desorientiert, sie in Moskau zu retten. Dabei hilft ihm, während sich die Leichen stapeln, der höchst seltsame Jimmy.

Gut, wegen der zunehmend abstrus werdenden Geschichte wird niemand in „Hardcore“ gehen. Trotzdem hätten die Macher sich eine stringentere und logischere Geschichte überlegen müssen. So ist es nur eine krude Anordnung von Actionstücken, die sogar einen Film aus der Luc-Besson-Fabrik wie ein Beispiel hochartifizieller Filmkunst erscheinen lassen. Interessant ist das nicht. Emotional involvierend auch nicht.

Die Action ist, zum Beispiel bei der Autoverfolgungsjagd (siehe Trailer), teilweise spektakulär in der Hinsicht, dass man sich fragt, wie sie genau inszeniert wurde und wie dabei die Sicherheit der Stuntmen garantiert wurde. Teils, wenn an Gebäuden herumgeklettert oder über Eisenträger gelaufen wird, solala, weil sie gefährlicher aussieht, als sie ist und man aufgrund der gewählten Ego-Shooter-Perspektive auch oft nicht genau weiß, wie gefährlich die Stunts waren. So kann der Eisenträger zehn Zentimeter oder drei Meter über dem Boden sein. Teils, wenn über Treppen und Straßen gelaufen wird, 08/15, aber sie gewinnt natürlich durch die Perspektive. Am Ende, wenn dann auf einem Hochhausdach der finale Kampf ist, kennen die Macher keine Grenzen mehr. So als wollten sie das Schlachtfest in der Kirche aus „Kingsman: The Secret Service“ überbieten. Es gelingt ihnen nicht. Allein schon aufgrund der schieren Menge an sterbenden Menschen langweilt die hemmungslos übertriebene Szene schnell.

Das größte Problem von „Hardcore“ ist allerdings die durchgängig gewählte Perspektive, die in einem Film nicht wirklich funktioniert. Wir sehen nur, was der Protagonist sieht. Wir erfahren allerdings nie, wie er darauf reagiert. Es ist, auch weil in „Hardcore“ der Protagonist stumm ist und es kein Voice-Over gibt, eine seltsam amputierte Perspektive, die dazu führt, dass man dem Protagonisten emotional nicht näher, sondern weiter weg ist.

So zeigt „Hardcore“, dass die Ego-Shooter-Perspektive im Film nicht funktioniert. Jedenfalls nicht über neunzig Minuten.

Hardcore - Plakat 4

Hardcore (Hardcore Henry, Russland/USA 2016)

Regie: Ilya Naishuller

Drehbuch: Ilya Naishuller

mit Sharlo Copley, Haley Bennett, Daniela Kozlovsky, Tim Roth (eigentlich nur ein Cameo)

Länge: 92 Minuten

FSK: ab 18 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Hardcore“

Metacritic über „Hardcore“

Rotten Tomatoes über „Hardcore“

Wikipedia über „Hardcore“ (deutsch, englisch)

2 Responses to Neu im Kino/Filmkritik: „Hardcore“ – es gibt nur eine Perspektive

  1. […] Meine Besprechung von Ilya Naishullers „Hardcore“ (Hardcore Henry, Russland/USA 2016) […]

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