Brauchen wir wirklich noch eine Geschichte, in der im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet ein US-Amerikaner in Mexiko für Gerechtigkeit sorgt? Nach der Lektüre von Sam Hawkens bei uns neuem Roman „Vermisst“ lautet die Antwort: eindeutig Ja.
Außerdem kann „Vermisst“ als gelungener und überfälliger Gegenentwurf zu dem letzten Rambo-Film „Rambo: Last Blood“ gesehen werden. Dabei erschien in den USA „Vermisst“ bereits 2014 und damit lange vor dem letzten Rambo-Film. An seiner Aktualität hat Hawkens Roman nichts eingebüßt.
Jack Searle ist in Laredo, Texas, ein Handwerker und Witwer, der seine beiden pubertierenden Stieftöchter liebevoll aufzieht. Er trifft sich auch regelmäßig mit den mexikanischen Verwandten seiner verstorbenen Frau, die in Nuevo Laredo leben; einer Grenzstadt, die sich in den Händen von Verbrecherkartellen befindet.
Eines Abends gehen seine Tochter Marina und die etwas ältere, mit ihr verwandte Patricia Sigala in Nuevo Laredo zu einem Konzert. Nach dem Konzert verschwinden sie spurlos.
Searle und Patricias Vater Bernardo wenden sich an die Polizei. Dort wird Gonzalo Soler mit dem Fall betraut. Und, im Gegensatz zu anderen Polizisten, legt er den Fall nicht zu den Akten, sondern er ermittelt und findet erste Spuren.
Diesen Teil seiner Noir-Geschichte erzählt Hawken indem er einfach der normalen Ermittlungsroutine folgt. Dank seiner klaren Sprache und der detaillierten Beschreibung der Ermittlungen von Soler und den Gefühlen und Aktionen von Searle und Sigala entsteht schon auf diesen Seiten eine beträchtliche Spannung. Das liegt auch daran, dass Sam Hawken die Gegend und die Menschen gut kennt. Schon seine vorherigen auf Deutsch erschienen Romane „Die toten Frauen von Juárez“ und „Kojoten“ spielen im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet. Er erzählt seine Kriminalgeschichten vor dem Hintergrund wahrer Ereignisse und Entwicklungen.
Daher ist auch die nächste Entwicklung von „Vermisst“ historisch verbürgt. Das Militär übernimmt die Stadt. 2011 wurde in Nuevo Laredo die gesamte Polizei suspendiert, um sich „Professionalisierungsmaßnahmen und Umschulungen“ zu unterziehen. Drei Jahre später, als Hawken seinen Roman beendete, war die Polizei immer noch suspendiert und die Stadt ein „kriminelles Irrenhaus“ (Hawken).
Währenddessen soll das Militär gegen die Drogenkartelle kämpfen und gleichzeitig die normale Polizeiarbeit übernehmen. Denn, so die Regierung, die Korruption in der Polizei und die Verflechtung zwischen ihnen und den Kartellen verhindere einen erfolgreichen Kampf gegen sie. Dass das Militär keine Ahnung von der normalen Polizeiarbeit hat, ist egal. Soler wird der Fall entzogen. Er wird, wie alle Polizisten, bis zum Ende seiner Überprüfung in den unbezahlten Urlaub geschickt.
Searle engagiert Soler und gemeinsam beginnen sie nach den verschwundenen Mädchen zu suchen.
Diese gemeinsame Suche führt dann zu einem schon im Klappentext angedeuteten blutgetränkten Rachefeldzug von Searle gegen die Verbrecherkartelle, der auch in „Rambo: Last Blood“ gut aufgehoben wäre. Für mein Empfinden kommt Searles Blutrausch, weil nichts in seinen vorherigen Handlungen einen darauf vorbereitet, zu unvermittelt.
Aber das ist nur ein kleiner Einwand gegen einen hochspannenden Thriller, der eine kleine, alltägliche Geschichte mit differenziert und lebensnah gezeichneten Figuren, äußerst detailliert und mit viel gut präsentiertem Hintergrundwissen (in Teilen liest sich „Vermisst“ wie eine gute Zeitungsreportage) präsentiert. Zu Recht wurde „Vermisst“ für den CWA Gold Dagger Award und den CWA Ian Fleming Award nominiert.
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Sam Hawken: Vermisst
(übersetzt von Karen Witthuhn)
Polar, 2020
400 Seiten
22 Euro
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Originalausgabe
Missing
Serpent’s Tail, 2014
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Mehr von Sam Hawken auf Deutsch
Sam Hawken: Die toten Frauen von Juárez
(übersetzt von Joachim Körber)
Tropen, 2012
320 Seiten
19,95 Euro (vergriffen)
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Originalausgabe
The Dead Women of Juárez
Serpent’s Tail, 2011
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Sam Hawken: Kojoten
(übersetzt von Karen Witthuhn)
Polar, 2015
304 Seiten
14,90 Euro
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Originalausgabe
La Frontera
Betimes Books, 2013
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Hinweise
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