Alte Bekannte, neue Werke: David Peace und „Tokio, neue Stadt“

Damit hat wahrscheinlich niemand mehr gerechnet. Vierzehn Jahre nach dem Auftakt seiner Tokio-Trilogie, zwölf Jahre nach dem zweiten Band und nachdem er zwei, bislang nicht übersetzte Einzelromane (Keine Kriminalromane!) veröffentlichte, erschien jetzt mit „Tokio, neue Stadt“ der Abschluss seiner Tokio-Trilogie. Die drei Romane sind ein beklemmendes Porträt Tokios und Japans, das sich vor allem auf die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert. In jedem dieser Noirs steht ein wahres Verbrechen im Mittelpunkt. Und jeder dieser Kriminalromane kann für sich allein gelesen werden.

In „Tokio, neue Stadt“ geht es um den Tod von Sadanori Shimoyama. Der Präsident der Nationalen Japanischen Eisenbahngesellschaft verschwindet am 5. Juli 1949. Kurz darauf wird seine Leiche gefunden. Er wurde von einem Zug überfahren. Laut der Obuktion war Shimoyama, als er überfahren wurde, bereits seit längerem tot. Aber er wurde nach seinem Tod von mehreren Menschen noch quicklebendig gesehen.

Bis heute ist der Tod von Shimoyama nicht aufgeklärt.

In seinem Roman stellt David Peace die verschiedenen Theorien vor: Selbstmord, Mord, mal von dieser, mal von jener Gruppe verübt, mal mehr, mal weniger politisch, mal waren die Besatzungsmächte mehr, mal weniger involviert. Beim Vertuschen haben dann alle geholfen.

Peace erzählt die Geschichte in drei Kapiteln. Das erste spielt 1949. Im Zentrum steht der ermittelnde Polizist Harry Sweeney. Er ist der typische Hardboiled-Ermittler in der Fremde. Sweeneys Ermittlungen schildert Peace strikt chronologisch.

Im zweiten, 1964 spielendem Teil, steht der Ex-Polizist und Privatdetektiv Murota Hideki im Mittelpunkt. Er soll, innerhalb weniger Tage, den spurlos verschwundenen Schriftsteller Kuroda Roman finden. Vor seinem Verschwinden schrieb Roman an einem Buch über den Fall Shimoyama.

Während Hideko Roman sucht, erfahren wir in Rückblenden mehr über Romans Roman, sein Leben und seinen Wahn bezüglich dem Fall Shimoyama.

Im dritten, 1988 und 1949 spielendem Teil steht Donald Reichenbach im Mittelpunkt. Reichenbach war 1949 Chief of Station, selbstverständlich Geheimdienstler und in den Fall Shimoyama verwickelt.

Dieser auf mehreren Zeit- und Bewusstseinsebenen spielende, munter collagierte Teil ist dann am nächsten an dem David Peace, den wir aus seinen früheren Romanen kennen. In „Tokio, neue Stadt“ wird die Noir-Geschichte, beginnend mit einem fast schon konventionellem Hardboiled-Auftakt zunehmend wahnsinnig, weil ihre verschiedenen Hauptfiguren den Verstand verlieren.

In dem Moment wird auch die politische Dimension des Falles immer offensichtlicher. Denn die westlichen und östlichen Geheimdienste suchten nach einer Möglichkeit, wie sie von Shimoyamas Tod profitieren könnten. Vierzig Jahre später sind ihre damaligen Irrtümer und die Folgen ihrer Taten offensichtlich. Wer Shimoyama getötet hat, ist dagegen weiterhin rätselhaft. Dafür interessiert Peace sich nicht. Ihm geht es nämlich nicht um ein Mördersuchspiel oder das Aufdecken eines Komplotts, sondern um ein Stimmungsbild.

Wer also nur einen konventionellen Kriminalroman lesen möchte, sollte „Tokio, neue Stadt“ besser nicht lesen. Es ist zwar, vor allem in der ersten Hälfte, konventioneller und sprachlich ruhiger als David Peaces vorherige Romane, die sich teilweise wie ein stundenlanger Maschinengewehr-Rap lesen (das wird besonders deutlich, wenn David Peace seine Romane vorliest). Aber der fulminante Abschluss seiner Tokio-Trilogie ist immer noch meilenweit von einem konventionellem Kriminalroman entfernt. Wer es gerne etwas literarischer hat, sollte hier zugreifen – und dann mit seinen anderen Romanen fortfahren.

David Peace: Tokio, neue Stadt

(übersetzt von Peter Torberg)

Liebeskind, 2021

432 Seiten

24 Euro

Originalausgabe

Tokyo Redux

Faber & Faber, London, 2021

Alfred A. Knopf, New York, 2021

Die Tokio-Trilogie

Tokio im Jahr Null (Tokyo Year Zero, 2007)

Tokio, besetzte Stadt (Occupied City, 2009)

Tokio, neue Stadt (Tokyo Redux, 2021)

Hinweise

Wikipedia über David Peace (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von David Peaces „Tokio im Jahr Null“ (Tokyo Year Zero, 2007)

Meine Besprechung von David Peaces „Tokio, besetzte Stadt“ (Occupied City, 2009)

Meine Besprechung der „Red Riding Trilogy“ (der grandiosen Verfilmung der entsprechenden Romane von David Peace)

David Peace in der Kriminalakte

One Response to Alte Bekannte, neue Werke: David Peace und „Tokio, neue Stadt“

  1. […] 1. Platz: David Peace: Tokio, neue Stadt (Liebeskind). Deutsch von Peter Torberg […]

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