Neu im Kino/Filmkritik: „Dear Evan Hansen“, Eltern sind Idioten

Evan Hansen hat psychische Probleme. Deshalb soll er jeden Tag einen Brief an sich schreiben, der ihn auf einen fröhlichen, erfüllten und aufbauenden Tag einstimmt. Eines Tages schreibt er in seiner Highschool am Schulcomputer einen zweiten Brief an sich. Der ausgedruckte Brief gerät in die Hände von Connor. Connor ist der von allen gemiedene, aggressive, keine Freunde habende Schulpsycho.

Kurz darauf bringt Connor sich um. Seine Eltern, Cynthia Murphy und ihr neuer Mann Larry Mora, entdecken in Connors Nachlass Evan Hansens Brief. Allerdings glauben sie, aufgrund der Anrede „Dear Evan Hansen“/“Lieber Evan Hansen“ und der fehlenden Unterschrift, dass der Brief von ihrem Sohn ist, er in ihm über seine Gefühle schreibt und indirekt seinen Suizid ankündigt.

Evan hat in dem Moment nicht die Kraft, sie über ihren Irrtum aufzuklären. Stattdessen erfindet er Geschichten über Connor und sich.

Dear Evan Hansen“ ist die Verfilmung des gleichnamigen, mit sechs Tony-Awards ausgezeichnetem Broadway-Musical. Ben Platt, der schon am Broadway Evan Hansen spielte, übernahm wieder die Rolle. Und damit kommen wir zu einem eher kleinerem Problem des Musicals. Platt, der Evan Hansen als eine linkische jüngere Inkarnation von Woody Allen spielt, ist Jahrgang 1993 und damit schon lange aus dem Schulalter. Im Theater stört so etwas nicht sonderlich. Im Film führt dies zu einem seltsamen Verfremdungseffekt. Auch die anderen Schüler werden von Schauspielern gespielt, die schon lange die Highschool verlassen haben.

Ein größeres Problem des sich bis auf wenige Momente realistisch gebenden Films ist, dass die Prämisse ziemlich unglaubwürdig ist und die Themen ‚psychische Probleme‘ und ‚Suizid‘ oberflächlich behandelt werden. Regisseur Stephen Chbosky und Drehbuchautor Steven Levenson (und sicherlich auch das dem Film zugrunde liegende Musical) zeigen außerdem eine erschreckend oberflächliche Welt. So glauben alle, vor allem Connors verzweifelte Eltern, sofort an Evans Lüge über seine Freundschaft zu Connor. Eigentlich treiben sie ihn für ihr eigenes Seelenheil zu dieser Lüge.

Die Eltern – im Film werden nur die Eltern von Connor Murphy und Evan Hansens ihn allein erziehende Mutter gezeigt – haben erschreckend wenig Ahnung von dem Alltag und den Problemen ihrer Kinder. Sie interessieren sich auch nicht dafür. Die Lehrer, die Schulleitung und die Therapeuten, sofern sie überhaupt im Film vorkommen, haben ebenfalls keine Ahnung davon. Denn Evan Hansens Charade beginnt mit einem Gespräch mit Connors Eltern und dem Schuldirektor, der den Brief genau wie Connors Eltern interpretiert. Deshalb fragen sie sich auch nicht, warum ein Jugendlicher heute einen Brief am Computer schreibt und ihn dann ausdruckt, anstatt ihn seinem Empfänger elektronisch zuzuschicken.

Später wird auch von Evans Mitschülern seine Lüge umstandslos akzeptiert. Er wird zum großen Helden der Schule, weil er mit dem Toten befreundet war, jetzt trauert und auf einer pompösen Schultrauerfeier darüber reden kann.

Nur Connors Schwester weist anfangs darauf hin, dass niemand Connor mochte oder mit ihm befreundet war.

Regisseur Chbosky zeichnet dieses für uns doch sehr fremde Schulmilieu vollkommen kritiklos und unreflektiert als Ort, an dem Konkurrenzdruck, Mobbing, Verlogenheit und Oberflächlichkeit alltäglich sind. Es ist ein Ort, der, abhängig von der Schulleitung, zu psychischen Krankheiten, Suiziden und Amokläufen (die es in „Dear Evan Hansen“ nicht, aber an anderen Highschools gibt) führen muss. In „Dear Evan Hansen“ werden für die Probleme von Evan, Connor und den anderen Schülern trotzdem keine strukturellen Lösungen, sondern ein Arrangieren mit diesen Regeln und der Konsum von Tabletten vorgeschlagen. Als gäbe es in den USA keine Opioid-Epidemie, die jährlich zu zehntausenden Toten führt. Letztes Jahr starben über 90.000 Menschen an diesen oft von Ärzten verschriebenen Opioid-Schmerzmitteln. In „Dear Evan Hansen“ werden Tabletten dann wie Smarties genommen.

Die Musik – im Film sind elf Songs aus dem Musical und vier weitere Songs enthalten – gefällt als gefällige, altmodische Popmusik. Für die deutsche Fassung wurden die Songs ebenfalls synchronisiert.

So ist „Dear Evan Hansen“ ein prominent besetztes Musical, das wichtige Probleme nur antippt und sie mit gefälligen Songs abschmeckt.

Dear Evan Hansen (Dear Evan Hansen, USA 2021)

Regie: Stephen Chbosky

Drehbuch: Steven Levenson (nach dem Musical von Justin Paul, Steven Levenson und Benj Pasek)

mit Ben Platt, Kaitlyn Dever, Amy Adams, Julianne Moore, Daniel Pino, Amandla Stenberg, Nik Dodani, Colton Ryan

Länge: 137 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Dear Evan Hansen“

Metacritic über „Dear Evan Hansen

Rotten Tomatoes über „Dear Evan Hansen“

Wikipedia über „Dear Evan Hansen“ (deutsch, englisch)

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