Das ist ein Schatz der deutschen Krimi-Geschichte, den der Argument-Verlag hier gehoben hat. Denn so etwas wie kontinuierliche Klassikerpflege gibt es in der notorisch geschichtsvergessenen deutschen Krimi-Geschichte nicht. Wer kennt heute noch Hansjörg Martin, Friedhelm Werremeier und seine Trimmel-Romane (ja, „Taxi nach Leipzig“), den Sozio- und den Frauenkrimi?
Da ist Pieke Biermann mit ihren vier Berlin-Krimis eine wichtige Stimme. Wobei sie, wenn ich mir aktuell tätige Krimiautorinnen ansehe, letztendlich mehr Solitär und weniger Vorbild und Vorreiterin für andere Autorinnen ist.
Sie ist auch die einzige Frau, die Thomas Wörtche 2006 in seiner im Bücher Spezial veröffentlichten Liste der „10 deutschsprachige Classics von Glauser bis Steinfest“ aufgenommen hat. Er schreibt über Pieke Biermann: Sie „führte die Realität der Polizeiarbeit u. a. vermittels des Personals ihres Kommissariats in die deutschsprachige Kriminalliteratur ein und die exakten sozialen Realitäten von Berlin, einschließlich Huren als stolze Hauptfiguren. Sie mobilisierte virtuos sämtliche Verfahren der Moderne: Polyphonie, Rollenprosa, Montage, radikale Komisierung etc., Verzicht auf ‚Erklärungen‘ und epische Breite, öffnete damit die Feuilletons für deutsche Kriminalliteratur, machte sie international sichtbar und erreichte gleichzeitig ein breites Publikum.“
Uff, was kann gegen so viel überschwängliches Lob gesagt werden?
Vielleicht einige nüchterne Fakten.
„Potsdamer Ableben“, „Violetta“, „Herzrasen“ und „Vier, fünf, sechs“ erschienen zwischen 1987 und 1997 im Rotbuch und, der vierte Roman, im Goldmann Verlag. Sie zeigen Berlin unmittelbar vor und nach dem Mauerfall. Es sind die Jahre, bevor Berlin wieder zum Regierungssitz wurde.
Damit sind die vier Krimis dann auch die Chronik eines heute vergangenen Westberlins, der damaligen Szenen, Befindlichkeiten und Klüngel.
Pieke Biermann war damals, also vor der Veröffentlichung von „Potsdamer Ableben“ als Aktivistin der Frauenbewegung und ‚Frontfrau‘ der Hurenbewegung bekannt. Heute ist sie auch als Journalistin und Übersetzerin bekannt. Sie übersetzte unter anderem Werke von Agatha Christie, Liza Cody, Dorothy Parker und Walter Mosley.
In ihrem Krimidebüt „Potsdamer Ableben“ stirbt bei der Präsentation der Band „Richard Röhm und die Kerle“ (das war noch vor Rammstein und der Neuen Deutschen Härte, aber die Krupps und Laibach traten schon auf) die großmäulige Radiomoderation Beatrice Bitterlich am Buffet. Kriminalhauptkommissarin Karin Lietze beginnt mit ihrem Team zu ermitteln. Oder besser gesagt ’stochert herum‘.
In „Violetta“ müssen Lietze und ihr Team im Sommer 1989 (und damit vor dem Fall der Mauer) in zwei Mordserien ermitteln. In der einen werden Prostituierte ermordet. Der Täter schreibt ihnen in Sütterlin den Anfangsbuchstaben ihrer Nationalität auf die Stirn. In der anderen werden junge Männer nach dem Geschlechtsverkehr getötet.
In „Herzrasen“ ist die Mauer gefallen und Berlin eine wiedervereinigte Stadt, die nach ihrer Identität sucht, während die Kommisare nach dem Mörder eines Kindes suchen.
In „Vier, fünf, sechs“, dem vierten und letzten Krimi mit Kommissarin Karin Lietze, geht es um die bombige Ermordung eines hochrangigen Polizisten im Flughafen Tempelhof während einer Anti-Terror-Übung.
Allerdings interessieren Pieke Biermann diese Fälle und die sich daraus ergebenden Ermittlungen nicht sonderlich. Sie sind Nebensache gegenüber einem wilden Ritt durch das Leben der irgendwie von den Taten betroffenen Menschen. Sie sind eine Polyphonie von Geräuschen, die durch den Fall einen Anfang und ein Ende bekommen.
Deshalb sind ihre Bücher für Fans traditioneller Kriminalromane ein Graus.
So ist in „Potsdamer Ableben“ bis kurz vor Schluss vollkommen unklar, woran die Radiojournalistin auf Seite 24 gestorben ist. Stattdessen stürzt Biermann sich in eine Abfolge von Szenen, die ein Porträt der Stadt und ihrer subkulturellen Milieus, Kämpfe und Aktionen ergeben.
Damit ähnelt sie -ky (aka Horst Bosetzky). Er beschreibt in seinen seit den frühen Siebzigern entstandenen, oft in Berlin spielenden Krimis ähnlich genau Milieus, Szenen und Lebenslagen. Seine Geschichten sind allerdings wesentlich traditioneller aufgebaut.
Wer also etwas über das Berlin vor einigen Jahrzehnten erfahren möchte, es literarisch avancierter mag, als Krimifan auch mal auf einen Krimiplot verzichten kann, der/die/das sollte zugreifen.
P. S.: Schöne Covers!
–
Pieke Biermann: Das Berlin-Quartett – Schuber mit 4 Bänden
Ariadne, 2021
1104 Seiten
50 Euro
–
Die Einzelromane
Pieke Biermann: Potsdamer Ableben
Ariadne, 2021
192 Seiten
15 Euro
–
Pieke Biermann: Violetta
Ariadne, 2021
304 Seiten
15 Euro
–
Pieke Biermann: Herzrasen
Ariadne, 2021
320 Seiten
15 Euro
–
Pieke Biermann: Vier, fünf, sechs
Ariadne, 2021
288 Seiten
15 Euro
–
Die Karin-Lietze-Krimis
Potsdamer Ableben, 1987
Violetta, 1990 (Deutscher Krimipreis Platz 1)
Herzrasen, 1993 (Deutscher Krimipreis Platz 1)
Vier, fünf, sechs, 1997 (Deutscher Krimipreis Platz 2)
–
Hinweise
Krimi-Couch über Pieke Biermann