Neu im Kino/Filmkritik: Über Vincent Maël Cardonas Charakterstudie „Die Magnetischen“

Frankreich, frühe achtziger Jahre: in der Provinz betreiben die Brüder Jerôme und Philippe einen Piratensender. Jerôme ist der allgemein bewunderte Zampano. Philippe der stille Beobachter und Macher im Hintergrund. Das beginnt sich zu ändern, als sie sich in die gleiche Frau, die mit einer kleinen Tochter aus Paris zurückgekehrte Marianne, verlieben und Philippe als Soldat nach West-Berlin muss. Er kann beim britischen Militärsender, wo er den schillernden Moderator Dany trifft, arbeiten. Er überzeugt ihn mit einer spontanen Improvisation aus Tonbändern, die er live wild zusammenschneidet und mit allen Effekten, die das Studio hergibt, verfeinert. Dieser Moment, also das Zusammenschneiden eines Drei-Minuten-Stücks in drei Minuten, ist natürlich reinste Fantasy. So etwas hätte damals Tage, wenn nicht sogar Wochen, gedauert. Es ist trotzdem einer der schönsten Momente in diesem an schönen Momenten reichen Film.

In dem Sender überwindet Philippe seine Scheu vor dem Mikrofon, erkundet die pulsierende Berliner Musikszene und kehrt als anderer Mensch zurück in sein Dorf, wo die alten und neue Probleme auf ihn warten.

Beim Ansehen von Vincent Maël Cardonas „Die Magnetischen“ hat man das Gefühl, die kaum fiktionalisierten Jugenderinnerungen des Regisseurs zu sehen. So gut trifft Cardona das Gefühl vom gottverlassenen Leben in der Provinz, in der damals noch länger als in den Großstädten auf die neuesten Singles und Langspielplatten von angesagten Bands gewartet wurde. Liebevoll zusammengestellte Mixtapes wurden unter Freunden ausgetauscht und bis zum gehtnichtmehr gehört. Piratensender und, nennen wir es, ‚besondere‘ Radiosender spielten diese Singles von unbekannten Bands, die von radiohörenden Jugendlichen aufgenommen wurden (wenn sie nicht gerade darüber fluchten, dass der blöde Moderator mal wieder in den Song gequatscht hatte). Es war die Zeit nach Punk und vor dem Internet.

Dabei hat Cardona diese Zeit nicht erlebt. Er kam 1980 in der Bretagne auf die Welt und schrieb das Drehbuch zusammen mit den ungefähr gleichaltrigen Romain Compingt, Chloé Larouchi, Maël Le Garrec, Rose Philippon und Catherine Paillé. Sie wollten, so Cardona, „ermessen inwiefern die digitale Revolution die Welt verändert hat, in die wir hineingeboren wurden“. Und da sind die frühen achtziger Jahre wirklich ein Blick in eine andere, eine vordigitale Zeit, die inzwischen lang genug zurückliegt, um nostalgisch verklärt zu werden.

Es ist auch ein Blick, der sich ausschließlich auf die Liebesgeschichte und die Musik konzentriert. Politik wird nicht erwähnt. Angesichts der damaligen Proteste gegen die etablierte Politik, bei denen Jugendliche eine wichtige Rolle spielten, ist diese Lücke erstaunlich. Diese Lücke führt dazu, dass die vielfältigen, intensiven Verflechtungen zwischen Protest, Jugendprotest, Musik und Popkultur ignoriert werden. In „Die Magnetischen“ wird das Unbehagen an und der Protest gegen die Gesellschaft auf eine ästhetische Dimension, auf eine Frage der richtigen Musik, reduziert.

Die Story selbst ist vernachlässigbar in dieser Charaktestudie, die die Beschreibung eines Zustandes und eines mentalen Ortes ist. Entsprechend plötzlich kommt das Ende, das nicht von einer dramaturgischen Notwendigkeit oder Hollywood-Drehbuchkonventionen, sondern von der Laufzeit des Films diktiert wird. Das Ende, um im Duktus des Films zu bleiben, des Tonbands ist erreicht. Die Musikkassette ist voll.

Insofern ist „Die Magnetischen“ ein gelungenes Mixtape, das bei Älteren wohlige Erinnerungen heraufbeschwört und Jüngeren einen Einblick in eine noch gar nicht so lange zurück liegende, aber ganz andere Zeit gewährt.

Die Magnetischen (Les magnétiques, Frankreich/Deutschland 2021)

Regie: Vincent Maël Cardona

Drehbuch: Vincent Maël Cardona, Romain Compingt, Chloé Larouchi, Maël Le Garrec, Rose Philippon, Catherine Paillé

mit Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes, Fabrice Adde, Louise Anselme, Younès Boucif, Maxence Tual, Judith Zins, Philippe Frécon

Länge: 99 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Die Magnetischen“ 

Moviepilot über „Die Magnetischen“

AlloCiné über „Die Magnetischen“

Rotten Tomatoes über „Die Magnetischen“

Wikipedia über „Die Magnetischen“

Indiekino über „Die Magnetischen“ (Zeitzeuge Tom Dorow über den Film und wie politisch es damals zwischen Hausbesetzung, Straßenprotest und Clubbesuch in Berlin war)

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