Neu im Kino/Filmkritik: Der Berlinale-Gewinner “Alcarràs – Die letzte Ernte”

Gleich am Filmanfang wird der Familie Solé mitgeteilt, dass sie am Ende des Sommers den Hof verlassen müssen. Dort bauen sie, inzwischen schon seit mehreren Generationen, Pfirsische an. Der Eigentümer des Landes will dort Solaranlagen aufstellen. Das bringt mehr Geld. Und die Solés können ja die Anlagen warten.

In den folgenden knapp zwei Stunden erzählt Carla Simón, was in diesem Sommer passiert. Dabei interessiert sie sich nicht für den Kampf der Familie Solé um ihre Existenz. Der findet nämlich, bis auf ein, zwei Alibi-Aktionen, nicht statt. Sie macht aus ihrer Prämisse auch keinen den Kapitalismus laut anklagenden Ken-Loach-Film. Das alles interessiert sie nicht. Angesichts dieses Desinteresses an dem unmittelbar erkennbarem Konfliktpotential der Prämisse stellt sich daher schon die Frage, warum Simón diese Prämisse wählte.

Sie interessiert sich nämlich nur für die Familie Solé. Voller Empathie und unter dem Verzicht auf traditionelle Hollywood-Spannungsbögen erzählt sie einen Sommer aus dem Leben der Familie Solé. Und wüssten wir nicht, dass es deren letzter Sommer auf ihrem Land ist, würden wir diesen Sommer für einen ganz normalen Sommer halten, in dem sie arbeiten, lieben und es Konflikte zwischen dem Vater und dem Sohn über die Fortentwicklung des Betriebs gibt.

Simón zeigt auch, am Beispiel einer Familie, wie die Gesellschaft und die Wirtschaft sich im Lauf eines guten Jahrhunderts veränderten. Drei Generationen, – die jüngsten noch Kinder, der älteste kurz vor dem Tod -, leben in dem Haus, das in Katalonien in Alcarràs steht. Sie arbeiten alle auf der Pfirsichplantage. Das Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Es ist eine harte Arbeit, die wenig Gewinn abwirft. Helfen tun ihnen aus Afrika kommende Arbeiter.

Der Großvater ist für die aktuelle Malaise verantwortlich. Denn er verließ sich darauf, dass der vor achtzig Jahren per Handschlag geschlossene Vertrag bis in alle Ewigkeit gilt. Er ist auch zunehmend gebrechlich und hilft deshalb bei der Ernte nicht mehr mit. .

Die Plantage wird von seinem Sohn Quimet geführt. Er kann sich kein anderes Leben vorstellen. Seine Kinder und die anderen Familienmitglieder arbeiten mit. Dabei können sich die Kinder ein anderes Leben gut vorstellen. Für die jüngsten Kinder, die auch vom Alter her noch Kinder sind, ist die Farm ein riesiger Abenteuerspielplatz.

Das erzählt Carla Simón mit einem aus nicht professionellen Schauspielern bestehendem Ensemble. Vor dem Dreh probte die Regisseurin über drei Monate intensiv mit ihnen. In der Zeit wurden sie zu der Familie, die sie im Film spielen. Sie sprechen, was den wenigsten auffallen dürfte, den regionalen Dialekt. Sie kennen die spezifischen Handgriffe und Bewegungen, mit denen die Arbeit gemacht wird. Dieser fast schon dokumentarische Realismus fällt angenehm auf; auch wenn man selbst noch keine Pfirsische gepflügt hat und einen Traktor nur aus dem Fernsehen kennt.

So entsteht ein feinfühliges Porträt einer Grofamilie, die von der Landwirtschaft lebt.

Das genügt in diesem Fall für einen guten Film.

Die dramaturgische Klammer mit dem drohenden Verlust der Existenz hätte es, wie gesagt, nicht gebraucht. Sie stört sogar mehr als dass sie nutzt. Denn natürlich stellt sich irgendwann die Frage, warum sie ihr Schicksal so klaglos ertragen.

Alcarràs – Die letzte Ernte (Alcarràs, Spanien/Italien 2022)

Regie: Carla Simón

Drehbuch: Carla Simón, Arnau Vilaró (Co-Autor)

mit Josep Abad, Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Albert Bosch, Xénia Roset, Ainet Jounou, Montse Oró, Carles Cabós

Länge: 120 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Alcarràs“

Metacritic über „Alcarràs“

Rotten Tomatoes über „Alcarràs“

Wikipedia über „Alcarràs“ (deutsch, englisch, katalanisch [aktuell sehr ausführlich], spanisch)

Berlinale über „Alcarràs“

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