Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über die Max-Frisch-Verfilmung „Stiller“

Oktober 30, 2025

Ich bin nicht Stiller!“

Die Prämisse liest sich spannend. Ein Mann sitzt in der Schweiz im Gefängnis. Er soll der vor sieben Jahren spurlos verschwundene Schweizer Anatol Stiller sein. Er sagt, er sei der US-Amerikaner James Larkin White. Lügt er? Oder irren sich die Behörden?

Ausgehend von dieser Frage schrieb Max Frisch seinen Roman „Stiller“. Er wurde 1954 veröffentlicht und ein Bestseller. Seitdem wurde immer wieder über eine Verfilmung gesprochen. Stefan Haupt, der den Roman jetzt verfilmte, unterhielt sich noch vor Frischs Tod am 4. April 1991 mit ihm darüber und erhielt die Rechte. Seine damaligen und andere Verfilmungspläne zerschlugen sich.

Als ein Grund wurde immer gesagt, dass „Stiller“ zu wenig und die falsche Handlung für eine Verfilmung habe.

Ich bin nicht Stiller!“

Jetzt verfilmte Haupt, nach einem von ihm und Alex Buresch geschriebenem Drehbuch, den Roman nah am Roman als gediegenen TV-Film. Die Besetzung ist prominent. Albrecht Schuch spielt White, Paula Beer die mit Stiller verheiratete Balletttänzerin Julika Stiller-Tschudy, Max Simonischek Staatsanwalt Rolf Rehberg, Maria Leuenberger seine fremdgehende Frau Sibylle Rehberg, Stefan Kurt Dr. Bohnenblust und Sven Schelker spielt in den Rückblenden Anatol Stiller.

Der Film beginnt, wie der Roman, mit Whites Verhaftung. Was ihm genau vorgeworfen wird – außer dass er einen falschen Pass haben soll und alkoholisiert gegenüber Polizisten ausfällig wurde – erfährt White nicht. Ihm werden mehrere unbeschriebene Hefte gegeben. Der amtliche Verteidiger rät ihm, die Wahrheit aufzuschreiben. White beginnt zu schreiben über seine aktuelle Situation, sein Leben als White, von ihm erfundene Geschichten und über das, was ihm über Stiller und das Umfeld des verschwundenen Bildhauers berichtet wird.

Das ist gediegen, immer auf TV-Niveau inszeniert. Kein Bild verlangt nach der großen Kinoleinwand. Kein Bild und kein Dialog verunsichert. Dabei betonen Haupt und Co-Drehbuchautor Buresch an ein, zwei Stellen den Krimiplot stärker als im Roman. So wird im Film deutlich angedeutet, Stiller könnte in eine politische Affäre verwickelt sein, möglicherweise sogar einen Mord begangen haben und sich seitdem auf der Flucht befinden.

Oder bin ich doch Stiller?

Haupts Film hält sich, mit einigen notwendigen Straffungen und Akzentverschiebungen, an die Struktur und Geschichte des Romans. Damit hat er auch die massiven Probleme des Romans. „Stiller“ erzählt, nach einem vielversprechendem ersten Satz eine aus Sicht eines Krimilesers durchgehend unlogische Geschichte. Im Film wird das noch deutlicher als im Roman. Im Film wird White mehrmals gesagt, er könne das Gefängnis sofort verlassen, wenn er sagt, er sei Stiller. Danach, vor der Tür der Haftanstalt, könne er sich wieder White nennen und seines Weges gehen. Warum er das Angebot nicht annimmt, bleibt unklar.

Stiller“ ist, wie gesagt kein Kriminalroman. Max Frisch hatte auch nie die Absicht, einen Kriminalroman zu schreiben. Er ist absolut desinteressiert an allem, was zu einem Kriminalroman gehört. So bleibt bis zum Ende unklar, was White/Stiller genau vorgeworfen wird. Also woher das übergroße Interesse der Schweiz an seiner Inhaftierung kommt. Auch White fragt nie energisch nach. Stattdessen richtet er sich gemütlich in der Untersuchungshaft ein und schreibt mehrere Hefte voll.

Die im ersten Absatz aufgeschriebene Behauptung des Ich-Erzählers, er sei unschuldig inhaftiert, ist nur der Köder, der dazu dient, die Leser zum Lesen zu animieren. Frisch ging es um das Porträt eines Mannes, der aus seinem Leben in ein anderes Leben, über das wir nichts erfahren, flüchtet. Und um ein längliches Ehedrama.

Der Roman wird letztendlich aus einer Perspektive erzählt. Nämlich der von White. Über Stillers Leben und dem Leben von Sibylle Rehberg, einer Geliebten Stillers, schreibt er immer nur, was ihm andere Menschen über diese Menschen erzählt haben. Oder was er sich ausdenkt. Auch wenn die verschiedenen von White aufgeschriebenen möglicherweise wahren und definitiv erfundenen Geschichten verschiedene Perspektiven vortäuschen, sind die von White im Gefängnis getätigten Aufzeichnungen bestenfalls eine Selbstbefragung. Es gibt keine verschiedenen Perspektiven auf Stiller, sondern immer nur eine Sicht.

Auch wenn am Ende des Romans gesagt wird, dass White Stiller ist und er wieder seine wahre Identität annimmt, kann auch interpretiert werden, dass White und Stiller zwei verschiedene Personen sind. White nimmt dann die Identität von Stiller an, weil er so seinen Frieden finden kann. Diese Interpretation ist möglich, weil Frisch trotz der epischen Länge von über vierhundert Seiten kaum etwas über Stiller und noch weniger über White verrät. Fakten, die eine Identität bestätigen könnten, gibt es auch nicht. Entsprechend fremd bleiben Stiller und White dem Leser.

Als Briefroman – wie Mary Shelleys „Frankenstein“ oder Bram Stokers „Dracula“ (um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen, die jetzt wieder verfilmt wurden) – wäre hier mehr möglich gewesen.

Und dann muss noch der Elefant im Raum angesprochen werden. „Stiller“ spielt 1952. Er verschwand Ende 1945/Anfang 1946. Seine Beziehung zu Julika und die Ereignisse die zu seinem Verschwinden geführt haben, ereigneten sich in den davor liegenden Jahren. Konkret: zu einem großen Teil ereigneten sie sich kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs. Auch wenn die Schweiz während des Kriegs neutral war, ist es schlechterdings unvorstellbar, dass das Kriegsgeschehen keinerlei Auswirkung auf das Leben in der Schweiz gehabt haben soll. Das macht „Stiller“ zu einem von der damaligen Realität der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs vollkommen abgekoppelten Fantasyroman.

Die eingestreuten Erzählungen von White sind schlechte Pulp-Kurzgeschichten, die mit der Hauptgeschichte nichts zu tun haben. Auch die in der zweiten Hälfte des Romans über Dutzende von Seiten geschilderten Eheprobleme und Erlebnisse von Sibylle Rehberg tragen nichts zur Klärung der Identität von White/Stiller bei.

Das erfolgt dann im Roman in einem über fünfzigseitigem Nachwort des Staatsanwalts. Im Film erfolgt die Enttarnung etwas anders.

Ich bin nicht Stiller!“

Stiller“ bebildert brav einen Literturklassiker, der mich niemals ansprach. Natürlich erkannte ich beim Lesen des Romans und Sehen des Films mühelos die Konstruktion und wie Myriaden von Studierenden die Geschichte in Abiturprüfungen und Seminararbeiten sie interpretieren und die zahlreichen Anspielungen fliegenbeinzählerisch aufschreiben können. Aber vieles an der Geschichte und den Figuren ist einfach zu unglaubwürdig und zu konstruiert um zu überzeugen.

Nachbemerkung, die wahrscheinlich nur wenige verstehen: Nicht auszudenken, was Donald Westlake aus der Idee gemacht hätte.

Stiller (Deutschland/Schweiz 2025)

Regie: Stefan Haupt

Drehbuch: Alex Buresch, Stefan Haupt

LV: Max Frisch: Stiller, 1954

mit Albrecht Schuch, Paula Beer, Max Simonischek, Marie Leuenberger, Stefan Kurt, Sven Schelker, Martin Vischer, Marius Ahrendt

Länge: 99 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage (aktuell im Filmcover)

Max Frisch: Stiller

Suhrkamp, 2025

448 Seiten

12 Euro

Erstausgabe

Suhrkamp, 1954

Seitdem fester Bestandteil der Suhrkamp-Bibliothek

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Stiller“

Moviepilot über „Stiller“

Rotten Tomatoes über „Stiller“

Wikipedia über „Stiller“ (Roman: deutsch, englisch; Film) und Max Frisch (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Stefan Haupts „Finsteres Glück“ (Schweiz 2016)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Ödön von Horvárths „Jugend ohne Gott“ als Dystopie

August 31, 2017

Dass Alain Gsponer in seiner Verfilmung die Geschichte von Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ aus der Nazi-Zeit in die Zukunft verlegt, ist nicht das größte Problem des Films. Im Gegenteil. Diese Verlegung der Handlung aktualisiert die Geschichte und macht sie auch für ein neues Publikum zugänglich.

Das gleiche gilt für den Wechsel des Protagonisten. Im Roman ist es der Lehrer. Ein Ich-Erzähler, der seinen Schülern etwas beibringen will und in Konflikt mit der herrschenden Ideologie gerät. Danach soll er, wie ihm sein Schuldirektor sagt, seine Schüler „moralisch zum Krieg erziehen“.

Im Film ist er eine Nebenfigur. Zach, einer seiner Schüler, ist der Protagonist. Um ein junges Publikum zu erreichen, ist das eine kluge Entscheidung. Schließlich identifiziert man sich als Jugendlicher eher mit einem Gleichaltrigen als mit einem Lehrer. Vor allem mit einem Lehrer, der an seiner Aufgabe hadert und von Selbstzweifeln darüber geplagt ist.

Diese beiden Änderungen und einige weitere, zu denen ich gleich komme, machen dann aus Gsponers Film eine freie Verfilmung des Romans.

In dem Film – und ich muss jetzt in Teilen der Filmhandlung weit vorgreifen – fährt die Schulklasse des namenlosen Lehrers (Fahri Yardim) in die Berge zu einem Zeltlager. Durch verschiedene Tests ihrer Persönlichkeit sollen die Schüler ausgewählt werden, die sich für einen Platz an Eliteuniversität qualifizieren.

Alle bis auf Zach (Jannis Niewöhner) folgen willig und ohne darüber nachzudenken, der in der Gesellschaft propagierten Leistungsideologie. Er ist, obwohl beliebt, schon in der Klasse ein hochintelligenter Außenseiter. Sein wertvollster Besitz ist ein Tagebuch, dem er seine Gedanken und Gefühle anvertraut. Im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden denkt er nach. Er nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen wahr und sie gefallen ihm nicht. Denn hinter dem schönen Schein der egalitären Wohlstandswelt gibt es bittere Armut. Letztendlich ist die von Gsponer gezeichnete Welt eine dystopische Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es ist eine diktatorische Leistungsgesellschaft, die gnadenlos unliebsame, nicht angepasste oder nicht leistungsfähige Menschen aussortiert.

In dem Zeltlager werden sie von dem Aufseher vor einer im Wald lebenden Bande Jugendlicher, die außerhalb ihrer Zone leben und sich mit Diebstählen über Wasser halten, gewarnt. Zach lernt das im Wald lebende Mädchen Ewa (Emilia Schüle) kennen. Er verliebt sich in die Wilde.

Dann verschwindet Zachs Tagebuch (Leser des Romans kennen den Dieb) und ein Klassenkamerad, mit dem er schon in den vergangenen Tage handgreifliche Auseinandersetzungen hatte, wird ermordet im Wald aufgefunden. Aber hat er ihn auch ermordet?

Das größte Problem von Gsponers von-Horváth-Verfilmung ist die Erzählweise. Anstatt die Geschichte, wie im Roman, einfach chronologisch vom Anfang bis zum Ende zu erzählen, gibt es zahlreiche Rückblenden, die einem zum Verständnis notwendige Informationen erst sehr spät geben und das Geschehen aus einer anderen Perspektive schildern. Das erschwert das Hineinfinden in die Geschichte und die Identifikation mit den Figuren. Das zeigt sich schon in den ersten Minuten. Der Film beginnt mit der Ankunft im Zeltlager und es wirkt, als ob sich die Jugendlichen nicht kennen. Dabei sind sie Klassenkameraden, die mit ihrem Klassenlehrer zu dem Camp gefahren sind und vor der Fahrt schon einen unliebsamen (vulgo nicht leistungsfähigen) Schüler aussortiert haben. Das setzt sich später fort, wenn wir erst später erfahren, wer das Tagebuch geklaut hat und ob der oder die Mordverdächtigen die Tat begangen haben.

Ein anderes Problem ist die zu sparsam gezeichnete dystopische Gesellschaft. Entsprechend diffus bleibt die Gesellschaftskritik.

Am Ende ist „Jugend ohne Gott“ ein weiterer gescheiterter Versuch eines deutschen Science-Fiction-Films, der nicht an seinem Budget, sondern an seinem Drehbuch und seiner Inszenierung scheitert. Jedenfalls in der Form, die im Kino läuft.

Jugend ohne Gott (Deutschland 2017)

Regie: Alain Gsponer

Drehbuch: Alex Buresch, Matthias Pacht

LV: Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott, 1937

mit Jannis Niewöhner, Fahri Yardim, Emilia Schüle, Alicia von Rittberg, Jannik Schümann, Anna Maria Mühe, Rainer Bock, Katharina Müller Elmau, Iris Berben

Länge: 114 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott

Suhrkamp, 2017 (Movie Tie-In)

160 Seiten

5 Euro

Erstausgabe

Exil-Verlag, Amsterdam, 1937

Die aktuelle Suhrkamp-Ausgabe basiert auf „Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden – Band 4: Prosa und Werke 1918 – 1938“ (Suhrkamp, 1988)

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Filmportal über „Jugend ohne Gott“

Moviepilot über „Jugend ohne Gott“

Wikipedia über „Jugend ohne Gott“ (die aktuelle Verfilmung, der Roman) und Ödön von Horváth (deutsch, englisch)