TV-Tipp für den 30. September: Barbara

September 29, 2022

Arte, 20.15

Barbara (Deutschland 2012)

Regie: Christian Petzold

Drehbuch: Christian Petzold, Harun Farocki

DDR, 1980: nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hat, erhält die Charité-Ärztin Barbara Wolff ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann: eine Stelle in einem Krankenhaus an der Ostseeküste. Dort plant sie ihre Flucht und fragt sich, wem sie vertrauen kann.

Gewohnt gelungener Film von Christian Petzold.

mit Nina Hoss, Ronald Zehrfeld, Rainer Bock, Christina Hecke, Claudia Geisler, Mark Waschke, Jannik Schümann (sein Kinodebüt)

Wiederholung: Dienstag, 4. Oktober, 14.15 Uhr

Hinweise

Filmportal über „Barbara“

Rotten Tomatoes über „Barbara“

Wikipedia über „Barbara“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Christian Petzolds „Phoenix“ (Deutschland 2014)

Meine Besprechung von Christian Petzolds „Transit“ (Deutschland/Frankreich 2018)

Meine Besprechung von Christian Petzolds „Undine“ (Deutschland/Frankreich 2020) und der DVD

Christian Petzold in der Kriminalakte


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über die Dörte-Hansen-Verfilmung „Mittagsstunde“

September 23, 2022

Ingwer Feddersen kehrt zurück in sein Heimatdorf Brinkebüll. An der Universität hat ‚de Jung‘ sich ein Freisemester genommen. In den nächsten Monaten will der seit Ewigkeiten in Kiel in einer Dreier-WG lebende Professor für Ur- und Frühgeschichte sich um seine Eltern kümmern. Sie brauchen zunehmend Hilfe. Auch wenn Ingwers über neunzigjähriger Vater, Sönke, das nicht akzeptieren will. Er kehrte erst nach dem Krieg aus der Gefangenschaft zurück und führt seitdem den Dorfgasthof. Ingwers Mutter, Ella, ist dagegen schon so dement, dass sie davon fast nichts mehr mitbekommt. Sie lebt schon zu einem großen Teil in der Vergangenheit – und auch für den fünfzigjährigen Ingwer werden die Monate, die er mit seinen Eltern verbringt, zu einer Lebensbilanz und Erinnerung an seine Jugend und die Nachkriegsgeschichte des Dorfes.

Dörte Hansen erzählt in ihrem von der Kritik hochgelobtem Bestseller „Mittagsstunde“ diese Geschichte, indem sie ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselt. Das liest sich gut, ist aber kaum verfilmbar.

Regisseur Lars Jessen und Drehbuchautorin Catharina Junk unternahmen das Wagnis – mit einem zwiespältigem Ergebnis. Auch sie wechseln bruchlos zwischen den Jahrzehnten. Langsam entsteht so eine Geschichte der Familie Feddersen, des fiktiven und daher archetypischen nordfriesischen Dorfes Brinkebüll und den Veränderungen des Landlebens zwischen den Sechzigern und der Gegenwart. Dabei, und hier kommen wir zu einem der großen Probleme des Films, ist die Orientierung zwischen den verschiedenen Zeitebenen schwierig. Jessen blendet nur in den ersten Minuten die Jahrezahlen ein. Danach nicht mehr. Weil sich in einem Dorf aber alles nur langsam verändert und es eine durchaus wohltuende Ignoranz gegenüber schnelllebigen großstädtischen Modeerscheinungen gibt, ist der Unterschied zwischen den Sechzigern, den Siebzigern, den Achtzigern und sogar der Gegenwart kaum erkennbar. Die Inneneinrichtung der Wirtschaft verändert sich kaum. Das Haus der Feddersens noch weniger. Die Kleidung der Dorfbewohner ist vor allem funktional. Und auch Autos geben nur eine grobe Orientierung.

Das zweite Problem ist, dass wir die Figuren als junge, mittelalte und alte Menschen kennen lernen. Aber es ist oft kaum ersichtlich, wer wer ist. Während im Buch immer Ingwer steht und er mal Fünf, mal Fünfzig ist, wird er im Film von einem Kind und einem vollkommen anders aussehendem Erwachsenem gespielt.

Bei jedem Zeitsprung muss daher überlegt werden, wann die Szene spielt und wer zu sehen ist. Entsprechend schwierig ist es, eine emotionale Verbindung zu den verschiedenen Figuren aufzubauen.

Das alles erschwert die Orientierung in dem konventionell erzähltem Film, der – so mein Eindruck vor der Lektüre des Romans – seiner Vorlage zu sklavisch folgt. Nach der Lektüre des Romans weiß ich, dass Junk und Jessen viel veränderten. Aber nicht genug. Ein Voice-Over, und damit auch die Entscheidung für eine Erzählperspektive, hätte sicher einige Probleme beseitigt. Und den Heimatroman von einem sich über mehrere Generationen und Figuren erstreckenden Dorfchronik zur Geschichte einer Figur und der Jahre, die er bewusst erlebte, gemacht. Eine andere Möglichkeit wäre eine experimentellere Gestaltung gewesen mit Texteinblendungen, Freeze Frames, Voice-Over oder auch dass die erwachsenen Schauspieler in ihren Erinnerungen sich selbst spielen oder in der Szene die Szene kommentieren. Auch darauf wurde zugunsten einer konventionellen, für ein breites Publikum einfach goutierbaren Erzählung verzichtet.

So ist „Mittagsstunde“ eine biedere Literaturverfilmung. Weil Jessen – und auch schon Hansen in ihrem Roman – die Geschichte der Familie Feddersen und des Dorfes nordisch unterkühlt erzählen, bleibt es angenehm frei von verlogenen „Früher war alles besser“-Sentimentalitäten.

Mittagsstunde (Deutschland 2022)

Regie: Lars Jessen

Drehbuch: Catharina Junk

LV: Dörte Hansen: Mittagsstunde, 2018

mit Charly Hübner, Lennard Conrad, Peter Franke, Rainer Bock, Hildegard Schmahl, Gabriela Maria Schmeide, Gro Swantje Kohlhof, Julika Jenkins, Nicki von Tempelhoff, Jan Georg Schütte

Länge: 97 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Jessen drehte den Film parallel in einer plattdeutschen und einer hochdeutschen Fassung. Ich habe die plattdeutsche Fassung gesehen und, auch ohne die andere Fassung zu kennen, ist das die Fassung, in der der Film gesehen werden sollte.

Die Vorlage

Mittagsstunde von Doerte Hansen

Dörte Hansen: Mittagsstunde

Penguin Verlag, 2021

336 Seiten

12 Euro

Erstausgabe (Hardcover)

Penguin Verlag, 2018

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Mittagsstunde“

Moviepilot über „Mittagsstunde“

Wikipedia über Dörte Hansen

Perlentaucher über „Mittagsstunde“


TV-Tipp für den 11. Juni: A most wanted man

Juni 10, 2022

RBB, 23.30

A most wanted man (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014)

Regie: Anton Corbijn

Drehbuch: Andrew Bovell

LV: John le Carré: A most wanted man, 2008 (Marionetten)

Als der militante Tschetschene und Islamist Issa Karpov in Hamburg auftaucht, ist Geheimagent Günther Bachmann (Philip Seymour Hoffman) alarmiert. Mit seinem Team und anderen Geheimdiensten heftet er sich an Karpovs Fersen. Der behauptet, nur ein Flüchtling zu sein.

Sehr gelungene, top besetzte John-le-Carré-Verfilmung und einer der letzten Leinwandauftritte des viel zu früh verstorbenen Philip Seymour Hoffman.

Eine kleine Episode aus dem unglamourösen Agentenleben, die in erster Linie ein intellektuelles Vergnügen ist, bei der wir beobachten, wie die Dienste, unter ständiger Berücksichtigung ihrer Eigeninteressen, zusammenarbeiten und im entscheidenden Moment eiskalt ihre Chance nutzen. Da ist der Einzelne, wie man es auch aus den anderen Romanen von John le Carré kennt, nur ein von anderen benutzter Spielball.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Philip Seymour Hoffman, Rachel McAdams, Grigoriy Dobrygin, Willem Dafoe, Robin Wright, Homayoun Ershadi, Nina Hoss, Franz Hartwig, Daniel Brühl, Kostja Ullmann, Vicky Krieps, Rainer Bock, Herbert Grönemeyer, Charlotte Schwab, Martin Wuttke

Hinweise

Moviepilot über „A most wanted man“

Metacritic über „A most wanted man“

Rotten Tomatoes über „A most wanted man“

Wikipedia über „A most wanted man“ (deutsch, englisch)

Homepage von John le Carré

Meine Besprechung von John le Carrés „Schatten von gestern“ (Call for the Dead, 1961)

Meine Besprechung von John le Carrés „Ein Mord erster Klasse“ (A Murder of Quality, 1962)

Meine Besprechung von John le Carrés “Marionetten“ (A most wanted man, 2008)

Meine Besprechung von John le Carrés “Verräter wie wir” (Our kind of traitor, 2010)

Meine Besprechung von John le Carrés “Empfindliche Wahrheit” (A delicate truth, 2013)

Meine Besprechung von John le Carrés „Das Vermächtnis der Spione“ (A Legacy of Spies, 2017)

Meine Besprechung von John le Carrés „Federball“ (Agent running in the Field, 2019)

Meine Besprechung von John le Carrés „Silverview“ (Silverview, 2021)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “Bube, Dame, König, Spion” (Tinker, Tailor, Soldier, Spy, Großbritannien/Frankreich/Deutschland 2011)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “A most wanted man” (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014) und der DVD

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung „Verräter wie wir“ (Our Kind of Traitor, Großbritannien 2016)

Meine Besprechung der ersten beiden Episoden von Susanne Biers „The Night Manager“ (The Night Manager, Großbritannien/USA 2016) und der gesamten Miniserie

Mein Nachruf auf John le Carré

John le Carré in der Kriminalakte

Meine Besprechung von Anton Corbijns John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted man“ (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014) (DVD-Kritik)

Meine Besprechung von Anton Corbiijns „Life“ (Life, Kanada/Deutschland/Österreich 2015)


TV-Tipp für den 30. März: Lara

März 29, 2022

Arte, 20.15

Lara (Deutschland 2019)

Regie: Jan-Ole Gerster

Drehbuch: Blaž Kutin

TV-Premiere. Zweiter Spielfilm von „Oh Boy“-Regisseur Jan-Ole Gerster und wieder ein Volltreffer. Dieses Mal beobachtet er Lara (Corinna Harfouch). Die biestige und einsame Sechzigjährige streift an ihrem Geburtstag ziellos durch Berlin. Am Abend will sie das Konzert ihres Sohnes besuchen. Ihr Sohn hat sie dazu nicht eingeladen. Und wir verstehen ihn sehr schnell.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, André Jung, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Mala Emde, Steffen Jürgens, Alexander Khuon, Birge Schade, Johann von Bülow

Wiederholung: Freitag, 1. April, 14.15 Uhr

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Lara“

Moviepilot über „Lara“

Rotten Tomatoes über „Lara“

Wikipedia über „Lara“

Meine Besprechung von Jan-Ole Gersters „Lara“ (Deutschland 2019)


TV-Tipp für den 9. Juni: Die Auserwählten

Juni 8, 2021

ARD, 20.15

Die Auserwählten (Deutschland 2014)

Regie: Christoph Röhl

Drehbuch: Sylvia Leuker, Benedikt Röskau

Als die junge, idealistische Petra Grust in den späten Siebzigern eine Stelle als Lehrerin an der Odenwaldschule erhält, ist sie begeistert. Die Odenwaldschule war damals das reformpädagogische Vorzeigeinternat. In ihr wurden Zwang und Strafen abgelehnt. Stattdessen sollte sich die Persönlichkeit frei entfalten können. Schnell bemerkt Grust, dass in der nach außen heilen Welt der Odenwaldschule nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.

Auf Tatsachen basierendes Drama, das den sexuellen Missbrauch von Kindern durch die Lehrer der Odenwaldschule behandelt. Regisseur Christoph Röhl war von 1989 bis 1991 Englisch-Tutor an der Odenwaldschule. Bereits 2010 beschäftigte er sich in dem beeindruckendem Dokumentarfilm „Und wir sind nicht die Einzigen“ mit dem Thema. 

Brillant gespieltes (Fernseh-)Drama, das mit beklemmender Eindringlichkeit die Mechanismen des Verdrängens, Verschweigens und der Einschüchterung an einer Schule zeigt, die als reformpädagogische Vorzeigeanstalt galt.“ (Lexikon des internationalen Films)

Der Film wurde in der Odenwaldschule gedreht.

mit Ulrich Tukur, Julia Jentsch, Leon Seidel, Béla Gabor Lenz, Rainer Bock, Bernd Stegemann, Christian Friedel, Lena Stolze

Wiederholung: Donnerstag, 10. Juni, 00.25 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

ARD über „Die Auserwählten“ (bis 13. September 2021 in der Mediathek)

Wikipedia über „Die Auserwählten“ und die Odenwaldschule


DVD-Kritik: „Exil“, der zweite Spielfilm von Visar Morina

Januar 25, 2021

Auf den ersten Blick hat Xhafer alles, was man sich für eine mustergültige deutsche Biographie wünschen kann: einen guten Job in einem Pharmaunternehmen, nette Kollegen, eine liebevolle, an ihrer Promotion sitzenden Frau und drei nette Kinder. Sie wohnen in einem geräumigem Kleinstadt-/Vorstadt-Reihenhaus. Er hat auch keine finanziellen Probleme. Viel bürgerlicher geht es kaum. Der Kosovare hat es offensichtlich in Deutschland geschafft.

Trotzdem ist er sich unsicher über seine Stellung. Daher ist für ihn eine an seinem Gartentor hängende tote Ratte kein Lausbubenstreich, sondern ein Angriff auf ihn und seine Herkunft. Es ist eine rassistische Tat, der weitere folgen. So wird er in der Firma nicht über die Verlegung eines Treffens in einen anderen Raum informiert und er erhält einige E-Mails nicht. Kleinigkeiten, die passieren können. Xhafer sieht es anders. Für ihn ist klar: er wird diskriminiert und gemobbt, weil er kein Deutscher ist.

Allerdings ist Xhafer ein so ruppiger und unfreundlicher Arbeitskollege, dass es mühelos nachvollziehbar ist, wenn seine Kollegen ihn nicht mögen. Xhafer ist nämlich ein ziemlicher Stinkstiefel. Mišel Matičević spielt ihn, mit übertrieben starkem, seine Fremdheit betonendem Akzent, grandios als äußerst eckigen Charakter, der für einen Teil seiner Probleme selbst Schuld ist.

Ob Xhafer wirklich gemobbt wird oder paranoid ist, lässt Visar Morina in seinem neuen Film „Exil“ offen. Denn selbstverständlich gibt es offene und versteckte rassistische Diskriminierungen, die im Film auch gezeigt werden. Trotzdem bietet Morina in seinem zweiten Spielfilm immer beide Interpretationen an. Er verzichtet auf eindeutige Erklärungen und platte Psychologisierungen. Er vertraut dem Zuschauer, der ausgehend von der aus Xhafers Perspektive erzählten Geschichte zu einem eigenen Urteil kommt. Das ist enorm dicht inszeniert mit einer Bild- und Tongestaltung, die eindeutig die große Leinwand im Blick hat. Auch der Erzählrhythmus zielt eindeutig auf den Kinosaal, in dem die Aufmerksamkeit einen eindeutigen Fokus hat. Dort wirkt Xhafers zunehmender Tunnelblick noch beängstigender als auf dem kleinen Bildschirm.

Die DVD hat keinerlei nennenswertes Bonusmaterial.

Exil (Deutschland/Belgien/Kosovo 2020)

Regie: Visar Morina

Drehbuch: Visar Morina

mit Mišel Matičević, Sandra Hüller, Rainer Bock, Thomas Mraz, Flonja Kodheli

DVD

Alamode Film

Bild: 2,35:1 (16:9)

Ton: Deutsch (DD 5.1)

Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte

Bonusmaterial: Trailer, Wendecover

Länge: 121 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Exil“

Moviepilot über „Exil“

Rotten Tomatoes über „Exil“

Wikipedia über „Exil“ (deutsch, englisch)

Homepage von Visar Morina


DVD-Kritik: Florian Gallenbergers Siegfried-Lenz-Verfilmung „Der Überläufer“

Mai 11, 2020

2016 erschien posthum der von Siegfried Lenz bereits 1951 geschriebene Roman „Der Überläufer“. Er schrieb ihn ganz am Anfang seiner Schriftstellerkarriere. Die autobiographisch inspirierte Geschichte des jungen Wehrmachtssoldaten Walter Proska sollte als sein zweiter Roman erscheinen. Aber sein Verlag hatte Einwände gegen die Geschichte. Das Manuskript verschwand in der Schublade. Lenz schrieb danach „Duell mit dem Schatten“, „So zärtlich war Suleyken“ und viele weitere Romane und Erzählungen.

2014 starb Siegfried Lenz. In seinem Nachlass wurde das Manuskript entdeckt und vor vier vier Jahren veröffentlicht. Der Roman entwickelte sich zum Bestseller, den Florian Gallenberger („John Rabe“, „Colonia Dignidad“) jetzt mit einer hochkarätigen Besetzung als TV-Zweiteiler verfilmte.

Im Sommer 1944 stößt Proska nach einem Heimaturlaub zu einem einsam im sumpfigen polnischen Niemandsland gelegenem Posten, der die Bahnstrecke an die Front sichern soll. Partisanen belagern sie, während sie selbst sich gegenseitig nerven. Später (in der zweiten Hälfte des Romans und im zweiten Teil des Films) wechselt Proska die Seiten und kämpft auf der Seite der Roten Armee gegen deutsche Soldaten. Nach dem Krieg arbeitet er weiter für sie – und er sucht noch immer seine große Liebe Wanda. Er traf die junge Polin und Partisanin, zum ersten Mal in einem Zug, den sie in die Luft sprengen wollte.

Diese Liebesgeschichte nimmt im Film einen größeren Raum ein als im Roman. Dabei wird sie auch unglaubwürdiger. Einerseits weil ich Jannis Niewöhner und Malgorzata Mikolajczak nie das Liebespaar abkaufte, andererseits weil Wanda immer auch etwas als eine nicht von dieser Welt stammende Traumgestalt inszeniert wird. Sie ist mehr eine Fantasie als eine reale Person, die im Sumpf als Partisanin gegen Nazis kämpft.

Bernd Lange (Drehbuch) und Florian Gallenberger (Drehbuch, Regie) folgen vor allem im ersten Teil Siegfried Lenz‘ skizzenhaftem und episodischen Roman sehr genau. Sie übernehmen, bis auf wenige Ausnahmen, alle Szenen und viele Dialoge direkt aus dem Buch. Damit überträgt sich auch der alptraumhafte Stillstand aus dem Roman in den Film.

Im zweiten Teil, wenn der Roman noch skizzenhafter wird, füllen sie die Lücken aus, erfinden Episoden, legen auch eigene Schwerpunkte und präsentieren ein 1956 in Hamburg spielendes Ende, das sich von dem Romanende unterscheidet. Diese Hälfte ist dann konventioneller als die erste Hälfte.

Am Ende ist „Der Überläufer“ gediegene TV-Unterhaltung, die brav dem Roman und seinem sich durch die Geschichte treibendem und rätselhaftem Protagonisten folgt.

Dabei hätte man vor allem aus der ersten Hälfte von „Der Überläufer“ einen experimentellen Alptraum im Geist von „Apocalypse Now“ machen können. Das waren jedenfalls die Bilder, die ich beim Lesen im Kopf hatte.

Das Bonusmaterial ist mit über fünfzig Minuten erfreulich umfangreich ausgefallen. Qualitativ überzeugt die Mischung aus lobenden Schauspielerstatements und Bildern von den Dreharbeiten kaum. Immerhin wurden auch der Regisseur und die Produzenten befragt, warum sie den Film so machen wollten.

Der Überläufer (Deutschland/Polen 2020)

Regie: Florian Gallenberger

Drehbuch: Bernd Lange, Florian Gallenberger

LV: Siegfried Lenz: Der Überläufer, 2016

mit Jannis Niewöhner, Malgorzata Mikolajczak, Sebastian Urzendowsky, Rainer Bock, Bjarne Mädel, Florian Lukas, Katharina Schüttler, Alexander Beyer, Leonnie Benesch, Ulrich Tukur

Die DVD (und Blu-ray)

Pandastorm

Bild: 1,78:1 (16:9)

Ton: Deutsch DD 2.0

Untertitel: –

Bonusmaterial: Making of, Interviews mit Cast & Crew

Länge: 171 Minuten (2 x 85 Minuten)

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

Siegfried Lenz: Der Überläufer

Hoffmann und Campe, 2016

368 Seiten

25 Euro

Taschenbuch-Ausgabe, jetzt mit Filmcover

Atlantik, 2020

12 Euro

Hinweise

Das Erste über „Der Überläufer“

Pandastorm über „Der Überläufer“

Filmportal über „Der Überläufer“

Moviepilot über „Der Überläufer“

Wikipedia über „Der Überläufer“ (Verfilmung) und Siegfried Lenz

Hoffman und Campe über Siegfried Lenz

Offizielle deutsche Homepage von Siegfried Lenz

Perlentaucher über Siegfried Lenz‘ „Der Überläufer“

Meine Besprechung von Florian Gallenbergers „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ (Deutschland/Luxemburg/Frankreich 2015)

Meine Besprechung von Christian Schwochows Siegfried-Lenz-Verfilmung „Deutschstunde“ (Deutschland 2019)


TV-Tipp für den 8. April: Der Überläufer – Teil 1 (+ Buch- und DVD-Hinweis)

April 8, 2020

ARD, 20.15

Der Überläufer – Teil 1 (Deutschland/Polen 2020)

Regie: Florian Gallenberger

Drehbuch: Bernd Lange, Florian Gallenberger

LV: Siegfried Lenz: Der Überläufer, 2016

Zweiteilige Verfilmung von Siegfried Lenz‘ posthum erschienenem Roman „Der Überläufer“, den er schon 1951, ganz am Beginn seines Schriftstellerlebens, schrieb.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der junge Wehrmachtssoldat Walter Proska. Im Sommer 1944 stößt er nach einem Heimaturlaub zu einem einsam im sumpfigen polnischen Niemandsland gelegenem Posten, der die Bahnstrecke an die Front sichern soll. Partisanen belagern sie, während sie selbst sich gegenseitig nerven. Später (in der zweiten Hälfte des Romans und im zweiten Teil des Films) wechselt Proska die Seiten und kämpft auf der Seite der Roten Armee gegen deutsche Soldaten. Nach dem Krieg arbeitet er weiter für sie – und er sucht noch immer seine große Liebe Wanda, eine junge Polin und Partisanin, die er zum ersten Mal traf, als sie einen Zug, in dem er mitfuhr, in die Luft jagen wollte.

Diese Liebesgeschichte nimmt im Film einen größeren Raum als im Roman ein. Dabei wird sie auch unglaubwürdiger. Einerseits weil ich Jannis Niewöhner und Malgorzata Mikolajczak nie das Liebespaar abkaufte, andererseits weil Wanda immer auch etwas als eine nicht von dieser Welt stammende Traumgestalt inszeniert wird. Sie ist mehr eine Fantasie als eine reale Person, die als Partisanin gegen Nazis kämpft.

Bernd Lange (Drehbuch) und Florian Gallenberger (Drehbuch, Regie) folgen vor allem im ersten Teil Siegfried Lenz‘ skizzenhaftem und episodischen Roman sehr genau. Sie übernehmen, bis auf wenige Ausnahmen, alle Szenen und viele Dialoge direkt aus dem Buch. Damit überträgt sich auch der alptraumhafte Stillstand aus dem Roman auf den Bildschirm.

Im zweiten Teil, wenn der Roman noch skizzenhafter wird, füllen sie Lücken aus, erfinden Episoden, legen auch eigene Schwerpunkte und präsentieren ein 1956 in Hamburg spielendes Ende, das sich von dem Romanende unterscheidet.

Am Ende ist „Der Überläufer“ gediegene TV-Unterhaltung, die brav dem Roman und seinem rätselhaftem Protagonisten, der sich durch die einzelnen Episoden treiben lässt, folgt.

Dabei hätte man vor allem aus der ersten Hälfte von „Der Überläufer“ einen experimentellen Alptraum im Geist von „Apocalypse Now“ machen können. Das waren jedenfalls die Bilder, die ich beim Lesen im Kopf hatte.

Der zweite Teil (mit Ulrich Tukur in einem kurzen Auftritt) wird am Freitag, den 10. April, um 20.15 Uhr gezeigt.

mit Jannis Niewöhner, Malgorzata Mikolajczak, Sebastian Urzendowsky, Rainer Bock, Bjarne Mädel, Florian Lukas, Katharina Schüttler, Alexander Beyer, Leonnie Benesch, Ulrich Tukur

Wiederholung: Donnerstag, 9. April, 01.10 Uhr (Taggenau!)

Die Vorlage

Siegfried Lenz: Der Überläufer

Hoffmann und Campe, 2016

368 Seiten

25 Euro

Taschenbuch-Ausgabe, jetzt mit Filmcover

Atlantik, 2020

12 Euro

Die DVD (und Blu-ray)

mit fünfzig Minuten Bonusmaterial angekündigt für den 8. Mai 2020

Pandastorm

Bild: 1,78:1 (16:9)

Ton: Deutsch DD 2.0

Untertitel: –

Bonusmaterial: Making of, Interviews mit Cast & Crew

Länge: 171 Minuten (2 x 85 Minuten)

FSK: ? (wahrscheinliche ab 12 Jahre)

Hinweise

Das Erste über „Der Überläufer“

Pandastorm über „Der Überläufer“

Filmportal über „Der Überläufer“

Moviepilot über „Der Überläufer“

Wikipedia über „Der Überläufer“ (Verfilmung) und Siegfried Lenz

Hoffman und Campe über Siegfried Lenz

Offizielle deutsche Homepage von Siegfried Lenz

Perlentaucher über Siegfried Lenz‘ „Der Überläufer“

Meine Besprechung von Florian Gallenbergers „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ (Deutschland/Luxemburg/Frankreich 2015)

Meine Besprechung von Christian Schwochows Siegfried-Lenz-Verfilmung „Deutschstunde“ (Deutschland 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: Oh Boy! Corinna Harfouch ist „Lara“

November 7, 2019

Endlich hat Corinna Harfouch wieder eine Hauptrolle übernommen. „Giulias Verschwinden“, „Blond: Eva Blond!“ und „Vera Brühne“ liegen ja schon einige Jahre zurück.

Endlich hat Jan-Ole Gerster wieder Regie geführt. Sein Debüt „Oh Boy“ war ein Überraschungserfolg und ist einer der allseits beliebten Berlin-Filme. Seitdem sind sieben Jahre vergangen.

Mit seinem zweiten Spielfilm „Lara“ hat er auf den ersten Blick noch einmal „Oh Boy“ inszeniert. Nur dass dieses Mal nicht Tom Schilling, sondern Corinna Harfouch einen Tag lang ziellos durch Berlin streift.

Auf den zweiten Blick ist „Lara“ erzählerisch dann mindestens ein großer Schritt nach vorne in erzählerisch anspruchsvollere Gefilde. In „Oh Boy“ stolpert der Endzwanziger Niko ziellos durch die Stadt, hat einige erfreuliche, einige weniger erfreuliche Begegnungen und er sucht dabei nur eine gute Tasse Kaffee. Die bekommt er am Ende des Films. „Oh Boy“ ist ein wunderschöner SW-Nouvelle-Vague-Film, der genauso ziellos wie sein Protagonist ist. Gerster könnte da mühelos Episoden austauschen oder weglassen und nichts würde sich verändern.

Lara“ ist dagegen ein deutlich komplexerer Film, der Gegenwart und Vergangenheit zu einem Psychogramm einer sehr problematischen Frau verwebt. Lara ist, pünktlich zu ihrem sechzigsten Geburtstag, in Rente geschickt worden. Die Beamtin war eine strenge, fordernde und vollkommen humor- und empathielose Abteilungsleiterin. Freunde hat sie keine. Sie ist auch nicht zum Konzert ihres Sohnes eingeladen.

Viktor ist ein gefeierter klassischer Pianist, der heute Abend ein von ihm komponiertes Stück aufführen will. In der Vergangenheit litt er immer wieder unter ihren Ansprüchen. Sie spornte ihn gleichzeitig zu Höchstleistungen an und sagte ihm, dass er nicht gut genug sei. Und Viktor gelang es nie, sich von ihrem prägenden Einfluss zu lösen. Weil sie durch ihre Anwesenheit Viktors großen Abend sabotieren könnte, will ihr Ex-Mann verhindern, dass Lara ihn vor dem Konzert trifft.

Lara, die an ihrem runden Geburtstag nichts vor hat, streift ziellos durch das alte Westberlin. Sie trifft immer wieder Menschen, die sie zwingen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen. Lara wollte früher selbst Pianistin werden. Sie stellte höchste Ansprüche an sich selbst. Sie war auf dem besten Weg, eine Konzertpianistin zu werden, wenn nicht ein von ihr bewunderter Musiker an ihrem Talent gezweifelt hätte. Danach wurde sie die keine Fehler verzeihende, unverschämt hohe Ansprüche stellende Klavierlehrerin ihres Sohnes, der als erwachsener Mann immer noch versucht sich von ihr zu lösen und gleichzeitig, wie ein kleines Kind, von ihrem Urteil abhängig ist.

Schon in den ersten Minuten liefert Gerster die wichtigsten Informationen über Lara. In den nächsten gut hundert Minuten fügt er diesem Bild so viele neue Facetten bei, dass es immer spannend bleibt. Und in den letzten Minuten mit deprimierender Klarheit deutlich wird, wie sehr Lara unwissentlich Erfahrungen weitergab, die sie, ebenfalls unwissentlich, übernahm. Es ist ein Teufelskreislauf, aus dem sie sich nie befreite, weil sie nicht wusste, dass sie in diesem Kreislauf steckte. Falls sie es überhaupt wissen wollte.

Lara“ ist eine glänzend gespielte, präzise inszenierte und gespielte Charakterstudie, die bei aller Tristesse unglaublich unterhaltsam ist. Und ein Berlin-Film.

Jetzt ist nur zu hoffen, dass nicht wieder sieben Jahre bis zu Gersters nächstem Film vergehen.

Lara (Deutschland 2019)

Regie: Jan-Ole Gerster

Drehbuch: Blaž Kutin

mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, André Jung, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Mala Emde, Steffen Jürgens, Alexander Khuon, Birge Schade, Johann von Bülow

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

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Filmportal über „Lara“

Moviepilot über „Lara“

Rotten Tomatoes über „Lara“

Wikipedia über „Lara“

Gespräch mit Jan-Ole Gerster und Produzent Marcos Kantis nach der Premiere auf dem Filmfest München


Neu im Kino/Filmkritik: „Atlas“ Rainer Bock trägt schwer an seiner Last

April 26, 2019

Einer muss den Job ja machen: Möbel schleppen. Mal weil die Mieter ausziehen wollen, mal weil sie verstorben sind und mal, weil sie raussaniert werden. Walter Scholl (Rainer Bock) ist so ein Möbelpacker. Ein schweigsamer, älterer Mann, der immer noch für zwei Männer schleppen kann. Gewissensbisse hat er nicht. Bei den Räumungen werden sie schließlich von einem Gerichtsvollzieher begleitet, der bestätigt, dass alles nach Recht und Gesetz vor sich geht. Dass dafür die Gesetze gedehnt werden, ist ihm egal. Auch dass bei der aktuellen Räumung der Mieter die Wohnung nicht verlassen will, sie filmt (gut, da verbirgt Walter sein Gesicht ein wenig), mit der Polizei droht und einem Schreiben wedelt, das die geplante Räumung verhindert, gehört zum unerfreulichen Räumungsalltag.

Bei dieser Räumung glaubt Walter allerdings, dass der erboste Mieter Jan Haller (Albrecht Schuch) sein Sohn ist, den er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Vor dreißig Jahren hat er seine Frau und seinen Sohn verlassen, seine Identität gewechselt und ist seitdem untergetaucht. Seitdem lebt er lebt das perfekte unauffällige Leben. Den Grund enthüllt David Nawrath in seinem Kinodebüt „Atlas“ erst spät und er überzeugt nicht.

Und warum Walter in einem dreißigjährigen Mann seinen Sohn erkennen will, wird auch nie plausibel erklärt. Schließlich sieht ein Mittdreißiger anders aus als ein Kind.

Diese Drehbuchschwächen fallen vor allem deshalb auf, weil die Geschichte, trotz einiger pathetischer Momente, erfreulich unlarmoyant und ohne den üblichen Sozialkitsch deutscher Produktionen erzählt wird.

Außerdem spricht Nawrath das wichtige Thema Gentrifizierung an. In den Großstädten stiegen in den letzten Jahren die Mieten so stark an, dass inzwischen über Wohnungsbau, Mietendeckel und Enteignungen diskutiert wird. In Berlin läuft gerade das sehr erfolgreiche Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“.

Nawrath beschreibt, wie Mieter vertrieben werden und Geschäftemacher mit Wohnraum viel Geld verdienen. In „Atlas“ ist es der Afsari-Klan, der, vertreten durch ein Familienmitglied in der Räumungsfirma, besonders brachial auftritt. In der Realität sind es oft international verschachtelte Gesellschaften, die durch wohlsituierte Anzugträger und Anwälte repräsentiert werden.

Vor diesem Hintergrund spielt sich die Vater-Sohn-Geschichte ab. Zuerst beobachtet Walter Jan, der wirklich sein Sohn ist. Später hilft er ihm, als dieser nachts von bestellten Schlägern überfallen wird. In dem Moment verlässt Walter endgültig sein zurückgezogenes Leben. Er wird vom scheinbar teilnahmslosen Beobachter zum Handelnden. Und er wird, auch weil Jan ihn zu einem Abendessen bei ihm, seiner Frau und seinem Sohn einlädt, gezwungen, über sein bisheriges Leben nachzudenken.

Weil Walter ein allein lebender, schweigsamer Eigenbrötler ist, geschieht dies vor allem über Walters Handlungen und Rainer Bocks Spiel. Für Bock, der vom Theater kommt, erst spät zum Film kam, seitdem in zahlreichen Nebenrollen, auch in internationalen Produktion wie Steven Spielbergs „Gefährten“, Anton Corbijns „A most wanted man“ und Patty Jenkins‘ „Wonder Woman“, überzeugte, ist die Rolle von Walter die erste Hauptrolle. Er stemmt den Film, unterstützt von einer Riege deutscher Schauspieler, die ebenfalls als zuverlässige Nebendarsteller bekannt sind.

Atlas“ ist ein stilvoller deutscher Noir, der von den guten Schauspielern und der präzisen Regie über die, zugegeben, wenigen Probleme des Drehbuchs, getragen wird.

Atlas (Deutschland 2018)

Regie: David Nawrath

Drehbuch: David Nawrath, Paul Salisbury

mit Rainer Bock, Albrecht Schuch, Thorsten Merten, Uwe Preuss, Roman Kanonik, Nina Gummich

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Filmportal über „Atlas“

Moviepilot über „Atlas“

 


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: die Ferdinand-von-Schirach-Verfilmung „Der Fall Collini“

April 18, 2019

Ein Gerichtsthriller aus Deutschland. Wann gab es das zuletzt im Kino?

Halbwegs spontan fallen mir Hark Bohms „Der Fall Bachmeier – Keine Zeit für Tränen“ (1984 – fast zeitgleich drehte Burkhard Driest mit „Annas Mutter“ die deutlich sensationslüsterne Version des wahren Falls der Mutter, die den Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschoss), Roland Suso Richters „Nichts als die Wahrheit“ (1999 – mit Götz George als Dr. Josef Mengele) und, auch wenn hier die Gerichtsverhandlung eine Travestie ist, Fatih Akins „Aus dem Nichts“ (2017) ein. Reinhard Hauffs „Stammheim“ (1986), der den Prozess gegen die Baader-Meinhof-Gruppe nachinszenierte, würde ich nicht als Gerichtsthriller bezeichnen. Eher als Theaterstück oder Reenactment.

Und dann gibt es noch Hans W. Geissendörfers Friedrich-Dürrenmatt-Verfilmung „Justiz“ (1993).

An diese Geschichte erinnerte Ferdinand von Schirachs „Der Fall Collini“ mich spontan. Dürrenmatt erzählt die Geschichte von Regierungsrat Isaak Kohler, der in Zürich in einem vollen Nobelrestaurant Professor Winter erschießt. Er wird verhaftet und verurteilt. Danach beauftragt er den jungen Anwalt Felix Spät, den Fall neu aufzurollen unter der Prämisse, dass er unschuldig ist.

In dem Roman und der Verfilmung geht es um Moral, Justiz und Gerechtigkeit.

Der Fall Collini“ beginnt ähnlich. 2001 ermordet Fabrizio Collini (Franco Nero) in Berlin in einem Nobelhotel Hans Meyer (Manfred Zapatka). An der Täterschaft des siebzigjährigen, bislang gesetzestreuen Gastarbeiters besteht kein Zweifel. Der junge Anwalt Caspar Leinen (Elyas M’Barek) übernimmt den Fall als Pflichtverteidiger (und spätestens seit dem NSU-Prozess wissen wir, dass Pflichtverteidiger nicht so einfach ihr Mandat niederlegen können). Weil Collini beharrlich schweigt, beginnt Leinen in Collinis und Meyers Vergangenheit nach dem Grund für die Tat zu suchen.

Emotional komplizierter wird der Fall für Leinen, als er erfährt, wer der Ermordete ist. Hans Meyer förderte ihn in seiner Kindheit und Jugend. Für ihn ist der Großindustrielle ein liebevoller Vaterersatz; – behauptet zumindest der Film.

Und das ist ein Problem von Marco Kreuzpaintners „Der Fall Collini“. Er wirkt durchgehend konstruiert und damit wirken die Konflikte unglaubwürdig. Wir sehen in Rückblenden die Beziehung zwischen Leinen und Meyer. Wir wissen, dass er ihn förderte. Aber wir wissen nicht, welche emotionale Verbindung sie hatten und was Leinen von Meyer lernte. Dass Meyer seine Ausbildung finanzierte, verpflichtet ihn zunächst einmal zu nichts und „Dankbarkeit“ ist in einer Filmgeschichte eine eher schlechte Motivation. Vor allem wenn die Person, der er dankbar sein könnte, tot ist. Bestimmte Prinzipien, eine bestimmte Einstellung zum Leben oder eine emotionale Abhängigkeit schon.

Ein anderes Problem der Geschichte ist die Aufdeckung des Motivs. Sie erfolgt im Buch und Film als Höhepunkt. Damit steht sie am Ende des Films und das erschwert eine durchaus beabsichtigte Diskussion darüber ungemein. Auch wenn das Mordmotiv und der damit verbundene Skandal nicht wirklich überraschend sind. Jedenfalls wenn man etwas bewandert in der bundesdeutschen Geschichte ist und man sich fragt, warum die Geschichte 2001 spielt. Schon von Schirach ließ sie in der Vergangenheit spielen (sein Roman erschien 2011) und Kreuzpaintner änderte daran nichts.

In dem Moment, in dem Collinis Motiv enthüllt wird, wird gleichzeitig Collinis Selbstjustiz die Absolution erteilt. Es geht um ein Gefühl von Rache, aber nicht um das Funktionieren des Rechtssystems und wie Rechtsnormen angewandt und auch neu interpretiert werden.

Dabei ist in einem Punkt der Lösung das sogenannte Dreher-Gesetz wichtig. Eduard Dreher, damals Leiter der Strafrechtsabteilung im Bundesjustizministerium, schmuggelte 1968 in das „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ (EGOWiG) einen Passus, der dazu führte, dass viele Nazi-Verbrecher plötzlich juristisch nicht mehr für ihre Taten bestraft werden konnten, weil ihre Taten verjährt waren. Die Richter und Staatsanwälte hätten dem Gesetz nicht folgen müssen. Sie hätten bestimmte Mörder immer noch als Mörder anklagen können. Sie taten es nicht. Schließlich waren sie Alt-Nazis, die sich über dieses Geschenk freuten. Später wurden von jüngeren Anwälten SS-Mitglieder und KZ-Aufseher für ihre Taten angeklagt. Und selbstverständlich ist die Aufarbeitung der Nazi-Diktatur nicht nur eine juristische, sondern eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.

In „Der Fall Collini“ geht es am Ende nicht um klar angesprochene Defizite innerhalb des Rechtssystems und wie sie behoben werden können. Es geht auch nicht darum, wie bestimmte ältere Normen und Rechtsanwendungen neu interpretiert werden können oder verändert werden müssen. All das wären interessante Fragen, die der Strafverteidiger von Schirach hätte ansprechen können. Er stellt sich allerdings einseitig und bedingungslos auf Collinis Seite und erteilt ihm auf den letzten Seiten die Absolution. Diese Rechtfertigung von Selbstjustiz hinterlässt dann doch einen schalen Nachgeschmack.

Vor allem wenn die Selbstjustiz erst Jahrzehnte nach der Tat erfolgt, der Täter vorher nur einmal etwas tat, um Meyer für seine Tat zur Rechenschaft zu ziehen und er seine Tat kaltblütig plante und brutal durchführte.

Der Film folgt dem Roman, abgesehen von einigen eher kleineren, für eine Verfilmung notwendigen Abweichungen, sehr genau. Durch die Veränderungen, die neuen Figuren und mit ihnen zusammenhängenden Plots gibt es auch einige Akzentverschiebungen. So wird im Film Leinens emotionale Bindung an Meyer stärker betont. So schenkt er dem Arbeiterkind ein Auto und finanziert seine Ausbildung. Im Buch erscheinen Leinens Eltern vermögender zu sein, was dazu führt, dass Leinen und Meyer der gleichen gesellschaftlichen Schicht angehören. Weil von Schirach in seinem dünnen Roman, eigentlich eher eine Novelle oder eine Romanskizze, über Leinens Familie nichts schreibt, bleibt dieser Punkt im Dunkeln.

Leinens sexuelle Beziehung zu seiner Jugendliebe und Meyers Nichte Johanna (Alexandra Maria Lara) wird im Roman ausführlicher geschildert. Für die Handlung ist diese Bettgeschichte im Buch und im Film in jeder Beziehung egal.

Das größte Problem des Romans ist, dass von Schirach nie zuspitzt. „Der Fall Collini“ liest sich daher nicht wie ein Gerichtsthriller, sondern wie ein Protokoll. Wahlweise eines emotional desinteressierten Journalisten oder eines Gerichtsschreibers.

Der Film spitzt dagegen stärker zu und liefert auch einige Thrillerelemente, die im Film fehlen. Zum Beispiel wenn Leinen nachts durch das riesige Haus der Meyers schleicht und er eine Pistole sucht oder wenn er, mit einer Übersetzerin (die im Roman nicht vorkommt), nach Italien fährt und dort endgültig erfährt, warum Collini Meyer ermordete. Selbstverständlich gibt es auch einige juristische Winkelzüge und Konfrontationen zwischen der Vorsitzenden Richterin (Catrin Striebeck), Oberstaatsanwalt Reimers (Rainer Bock) und Nebenklage-Anwalt Richard Mattinger (Heiner Lauterbach mit furchtbarer Haartolle und böser als im Roman) im Gerichtssaal.

Und der Film hat Elyas M’Barek, der den Strafverteidiger Leinen glaubhaft verkörpert und aus der sparsam skizzierten Rolle des unerfahrenen Junganwalts viel herausholt.

Am Ende ist „Der Fall Collini“, trotz der guten Schauspieler, der eindeutig die große Leinwand anvisierenden Bilder von Kameramann Jakub Bejnarowicz („Gnade“, „Der Mann aus dem Eis“, „Abgeschnitten“) und Kreuzpaintners gediegener Inszenierung nur eine brave Verfilmung eines nicht besonders guten Romans. Dank einiger neuer Figuren, kleinerer Änderungen und kluger filmischer Zuspitzungen ist Kreuzpaintners Geschichtsstunde sogar besser als die Vorlage.

Der Fall Collini (Deutschland 2019)

Regie: Markus Kreuzpaintner

Drehbuch: Christian Zübert, Robert Gold, Jens-Frederik Ott

LV: Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini, 2011

mit Elyas M’Barek, Franco Nero, Alexandra Maria Lara, Heiner Lauterbach, Manfred Zapatka, Jannis Niewöhner, Rainer Bock, Catrin Striebeck, Pia Stutzenstein, Peter Prager, Hannes Wegener

Länge: 123 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini

btb, 2019 (Filmausgabe)

208 Seiten

10 Euro

Erstausgabe

Piper Verlag, 2011

Hinweise

Filmportal über „Der Fall Collini“

Moviepilot über „Der Fall Collini“

Wikipedia über „Der Fall Collini“

Homepage von Ferdinand von Schirach

btb über Ferdinand von Schirach

Perlentaucher über „Der Fall Collini“


TV-Tipp für den 10. April: A most wanted man

April 9, 2019

Arte, 20.15

A most wanted man (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014)

Regie: Anton Corbijn

Drehbuch: Andrew Bovell

LV: John le Carré: A most wanted man, 2008 (Marionetten)

Als der militante Tschetschene und Islamist Issa Karpov in Hamburg auftaucht, ist Geheimagent Günther Bachmann (Philip Seymour Hoffman) alarmiert. Mit seinem Team und anderen Geheimdiensten heftet er sich an Karpovs Fersen. Der behauptet, nur ein Flüchtling zu sein.

Überfällige TV-Premiere einer sehr gelungenen, top besetzten John-le-Carré-Verfilmung und einer der letzten Leinwandauftritte des viel zu früh verstorbenen Philip Seymour Hoffman.

Eine kleine Episode aus dem unglamourösen Agentenleben, die in erster Linie ein intellektuelles Vergnügen ist, bei der wir beobachten, wie die Dienste, unter ständiger Berücksichtigung ihrer Eigeninteressen, zusammenarbeiten und im entscheidenden Moment eiskalt ihre Chance nutzen. Da ist der Einzelne, wie man es auch aus den anderen Romanen von John le Carré kennt, nur ein von anderen benutzter Spielball.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Philip Seymour Hoffman, Rachel McAdams, Grigoriy Dobrygin, Willem Dafoe, Robin Wright, Homayoun Ershadi, Nina Hoss, Franz Hartwig, Daniel Brühl, Kostja Ullmann, Vicky Krieps, Rainer Bock, Herbert Grönemeyer, Charlotte Schwab, Martin Wuttke

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Moviepilot über „A most wanted man“
Metacritic über „A most wanted man“
Rotten Tomatoes über „A most wanted man“
Wikipedia über „A most wanted man“ (deutsch, englisch)

Homepage von John le Carré

Meine Besprechung von John le Carrés „Geheime Melodie“ (The Mission Song, 2006)

Meine Besprechung von John le Carrés “Marionetten (A most wanted man, 2008)

Meine Besprechung von John le Carrés “Verräter wie wir” (Our kind of traitor, 2010)

Meine Besprechung von John le Carrés “Empfindliche Wahrheit” (A delicate truth, 2013)

Meine Besprechung von John le Carrés „Das Vermächtnis der Spione“ (A Legacy of Spies, 2017)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “Bube, Dame, König, Spion” (Tinker, Tailor, Soldier, Spy, Großbritannien/Frankreich/Deutschland 2011)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “A most wanted man” (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014) und der DVD

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung „Verräter wie wir“ (Our Kind of Traitor, Großbritannien 2016)

Meine Besprechung der ersten beiden Episoden von Susanne Biers „The Night Manager“ (The Night Manager, Großbritannien/USA 2016) und der gesamten Miniserie

John le Carré in der Kriminalakte

Meine Besprechung von Anton Corbijns John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted man“ (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014) (DVD-Kritik)

Meine Besprechung von Anton Corbiijns „Life“ (Life, Kanada/Deutschland/Österreich 2015)


Neu im Kino/Filmkritik: Deutsche Genreversuche: Der Agentenfilm mit „Luna“

Februar 17, 2018

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Heißt es. Bei „Luna“, dem Spielfilmdebüt von Khaled Kaissar, ist es anders. Die ersten Szenen, in denen wir einiges über die 17-jährige Luna und ihr Umfeld, ihre Familie und ihre beste Freundin, erfahren, sind einfach schlecht. Dann begleitet Luna ihre Eltern und ihre jüngere Schwester zu einem gemeinsamen Wochenende in die Berge.

Kurz nachdem sie in der einsam gelegenen Hütte an einem Bergsee angekommen sind, tauchen drei vierschrötige Kerle auf und bringen ihre Familie wegen irgendeiner Sache, die ihr Vater verbockt hat, um. Die Zeugin Luna kann fliehen und in diesem Moment kommt die Hoffnung auf, dass „Luna“ zu einem ordentlichen Survival-Thriller in den Alpen wird. Vielleicht kein Meisterwerk, aber ein ordentlich spannender Film, der nicht besonders tiefgründig sein muss.

Diese Hoffnung wird schnell enttäuscht. Denn Kaissar verlegt die Geschichte schnell, beginnend mit einer ländlichen Polizeistation, in verschiedene Innenräume, in denen die verschiedenen Akteure Dokumente suchen, andere Wohnungen beobachten und sich gegenseitig Gott und die Welt erklären. Denn, und das ist die aus der Realität kommende Inspiration für den Film, Lunas Vater war ein russischer Geheimagent, der seit zwanzig Jahren unter falscher Identität in Deutschland lebte, einer bürgerlichen Arbeit nachging, heiratete und Kinder bekam. In der Realität wurde die in Baden-Württemberg lebende Agentenfamilie 2012 enttarnt und vor Gericht gestellt. Im Film will Lunas Vater aussteigen. Das und wie er seinen Ausstieg bewerkstelligen will, führt zu einigen Problemen, die dann zu seiner Ermordung führten. Luna erfährt das alles Hamid, der sie rettete, als eine Polizistin, die für die Bösen arbeitet, sie umbringen wollte.

Hamid war, wie ihr Vater, ebenfalls ein russischer Geheimagent. Er arbeitet allerdings schon länger nicht mehr für die Russen. Jetzt will der Einzelkämpfer Luna in Sicherheit bringen, indem er sie mit einem falschen Pass in den nächsten Bus nach Moskau setzt.

Luna will aber nicht abhauen, sondern sie will wissen, wer warum ihre Familie ermordete. Zusammen mit Hamid beginnt sie mit einer Suche nach den Tätern und den Hintermännern, in der die Geheimagentenwelt so gezeigt wird, wie Klein Doofi sie sich vorstellt. Und die Charaktere sich immer wieder unglaublich dumm verhalten. Zum Beispiel telefoniert Luna, als hätte sie in ihrem gesamten Leben nicht einen einzigen Kriminalfilm gesehen, während sie gerade in Hamids Wohnung sitzt, mit ihrer besten Freundin. Und schwuppdiwupp wissen ihre Verfolger, wo sie ist.

Luna“ ist ein zäher Brei, der Versatzstücke aus der Wirklichkeit, Verschwörungstheorien und alle bekannten Klischees über die Geheimdienste, die man aus Buch und Film seit Jahrzehnten kennt, in der irrwitzigen Hoffnung zusammenwirft, dass so irgendetwas Spannendes entstehen könnte. Am Ende hat man einen unglaubwürdigen, zugequasselten Actionfilm ohne Action, dessen Agentengeschichte gut in eine der zahlreichen „Soko“-Vorabendserien passen würde. Und ich meine das nicht als Lob.

Dabei kann Deutschland durchaus als Kulisse für spannende Agententhriller dienen. Zuletzt waren das die John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted Man“ oder, als durchgeknallter Actionfilm am anderen Ende des Geheimagentenfilmspektrums, „Atomic Blonde“.

Nächste Woche geht es mit „Heilstätten“ weiter. Ein Horrorfilm für die Generation YouTube.

Luna (Deutschland 2017)

Regie: Khaled Kaissar

Drehbuch: Ulrike Schölles, Ali Zojaji, Alexander Costea

mit Lisa Vicari, Carlo Ljubek, Branko Tomovic, Benjamin Sadler, Bibiana Beglau, Rainer Bock, Genija Rykova

Länge: 92 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Luna“

Moviepilot über „Luna“

Wikipedia über „Luna“


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Ödön von Horvárths „Jugend ohne Gott“ als Dystopie

August 31, 2017

Dass Alain Gsponer in seiner Verfilmung die Geschichte von Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ aus der Nazi-Zeit in die Zukunft verlegt, ist nicht das größte Problem des Films. Im Gegenteil. Diese Verlegung der Handlung aktualisiert die Geschichte und macht sie auch für ein neues Publikum zugänglich.

Das gleiche gilt für den Wechsel des Protagonisten. Im Roman ist es der Lehrer. Ein Ich-Erzähler, der seinen Schülern etwas beibringen will und in Konflikt mit der herrschenden Ideologie gerät. Danach soll er, wie ihm sein Schuldirektor sagt, seine Schüler „moralisch zum Krieg erziehen“.

Im Film ist er eine Nebenfigur. Zach, einer seiner Schüler, ist der Protagonist. Um ein junges Publikum zu erreichen, ist das eine kluge Entscheidung. Schließlich identifiziert man sich als Jugendlicher eher mit einem Gleichaltrigen als mit einem Lehrer. Vor allem mit einem Lehrer, der an seiner Aufgabe hadert und von Selbstzweifeln darüber geplagt ist.

Diese beiden Änderungen und einige weitere, zu denen ich gleich komme, machen dann aus Gsponers Film eine freie Verfilmung des Romans.

In dem Film – und ich muss jetzt in Teilen der Filmhandlung weit vorgreifen – fährt die Schulklasse des namenlosen Lehrers (Fahri Yardim) in die Berge zu einem Zeltlager. Durch verschiedene Tests ihrer Persönlichkeit sollen die Schüler ausgewählt werden, die sich für einen Platz an Eliteuniversität qualifizieren.

Alle bis auf Zach (Jannis Niewöhner) folgen willig und ohne darüber nachzudenken, der in der Gesellschaft propagierten Leistungsideologie. Er ist, obwohl beliebt, schon in der Klasse ein hochintelligenter Außenseiter. Sein wertvollster Besitz ist ein Tagebuch, dem er seine Gedanken und Gefühle anvertraut. Im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden denkt er nach. Er nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen wahr und sie gefallen ihm nicht. Denn hinter dem schönen Schein der egalitären Wohlstandswelt gibt es bittere Armut. Letztendlich ist die von Gsponer gezeichnete Welt eine dystopische Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es ist eine diktatorische Leistungsgesellschaft, die gnadenlos unliebsame, nicht angepasste oder nicht leistungsfähige Menschen aussortiert.

In dem Zeltlager werden sie von dem Aufseher vor einer im Wald lebenden Bande Jugendlicher, die außerhalb ihrer Zone leben und sich mit Diebstählen über Wasser halten, gewarnt. Zach lernt das im Wald lebende Mädchen Ewa (Emilia Schüle) kennen. Er verliebt sich in die Wilde.

Dann verschwindet Zachs Tagebuch (Leser des Romans kennen den Dieb) und ein Klassenkamerad, mit dem er schon in den vergangenen Tage handgreifliche Auseinandersetzungen hatte, wird ermordet im Wald aufgefunden. Aber hat er ihn auch ermordet?

Das größte Problem von Gsponers von-Horváth-Verfilmung ist die Erzählweise. Anstatt die Geschichte, wie im Roman, einfach chronologisch vom Anfang bis zum Ende zu erzählen, gibt es zahlreiche Rückblenden, die einem zum Verständnis notwendige Informationen erst sehr spät geben und das Geschehen aus einer anderen Perspektive schildern. Das erschwert das Hineinfinden in die Geschichte und die Identifikation mit den Figuren. Das zeigt sich schon in den ersten Minuten. Der Film beginnt mit der Ankunft im Zeltlager und es wirkt, als ob sich die Jugendlichen nicht kennen. Dabei sind sie Klassenkameraden, die mit ihrem Klassenlehrer zu dem Camp gefahren sind und vor der Fahrt schon einen unliebsamen (vulgo nicht leistungsfähigen) Schüler aussortiert haben. Das setzt sich später fort, wenn wir erst später erfahren, wer das Tagebuch geklaut hat und ob der oder die Mordverdächtigen die Tat begangen haben.

Ein anderes Problem ist die zu sparsam gezeichnete dystopische Gesellschaft. Entsprechend diffus bleibt die Gesellschaftskritik.

Am Ende ist „Jugend ohne Gott“ ein weiterer gescheiterter Versuch eines deutschen Science-Fiction-Films, der nicht an seinem Budget, sondern an seinem Drehbuch und seiner Inszenierung scheitert. Jedenfalls in der Form, die im Kino läuft.

Jugend ohne Gott (Deutschland 2017)

Regie: Alain Gsponer

Drehbuch: Alex Buresch, Matthias Pacht

LV: Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott, 1937

mit Jannis Niewöhner, Fahri Yardim, Emilia Schüle, Alicia von Rittberg, Jannik Schümann, Anna Maria Mühe, Rainer Bock, Katharina Müller Elmau, Iris Berben

Länge: 114 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott

Suhrkamp, 2017 (Movie Tie-In)

160 Seiten

5 Euro

Erstausgabe

Exil-Verlag, Amsterdam, 1937

Die aktuelle Suhrkamp-Ausgabe basiert auf „Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden – Band 4: Prosa und Werke 1918 – 1938“ (Suhrkamp, 1988)

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Filmportal über „Jugend ohne Gott“

Moviepilot über „Jugend ohne Gott“

Wikipedia über „Jugend ohne Gott“ (die aktuelle Verfilmung, der Roman) und Ödön von Horváth (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Deutscher Humor: „Frauen“ „Schrotten“

Mai 9, 2016

Deutsche Komödien – – – – nach dem Genuss einiger US-Komödien, deren Humor verklemmt unter der Gürtellinie bleibt und der ungefähr so witzig wie eine Gürtelrose ist, erscheinen deutschsprachige Komödien nicht mehr so schlimm. Gut sind sie trotzdem nicht, wie „Frauen“ und „Schrotten“ zeigen.

In „Frauen“ steigt K. O. Schott (Heiner Lauterbach) in die falsche Miet-Limousine. Er muss zu einem wichtigen Termin nach Bad Honnersheim. Viel später erfahren wir, dass er ein Millionär ist und zu seinem jüngsten Scheidungstermin gefahren werden will.

Sein Fahrer Rüdiger Kneppke (Martin Brambach) ist, egal welchen Standard man ansetzt, kein guter Chauffeur. Schlecht gekleidet, latent desorientiert, dumm wie Brot und nur am Quatschen, solange er nicht sein Blödel-Lieblingslied singt.

Kurz darauf springt Liz Tucha (Blerim Destani) in ihre Limousine. Der junge Mazedonier ist, wie wir erst viel später erfahren, ein Bräutigam auf der Flucht. Die betrogene Hochzeitsgemeinschaft verfolgt ihn und dass die Brüder der sitzengelassenen Braut Polizisten sind, verschlimmert die Situation von Tucha, Schott und Kneppke.

Ab jetzt ist das Trio, zusammengehalten durch den Willen des Drehbuchautors, auf einer ziemlich planlosen Reise durch Deutschland. Immer wieder unterhalten sie sich über Frauen, welche Probleme sie verursachen und warum Männer nicht von ihnen lassen können.

Aber öfter geht es um andere Dinge, krude Verwicklungen und, angesichts des Alters der beiden Hauptverantwortlichen, Regisseur Nikolai Müllerschön und Hauptdarsteller Heiner Lauterbach, die beide, wie schon bei dem letztendlich misslungenem Gangsterfilm „Harms“ auch zu den Produzenten gehören, einen Altherren- und Kneipenhumor, der selten amüsiert. Auch weil alle Charaktere mindestens grenzdebil sind.

Immerhin ist Tucha der Intelligenteste des Trios.

In „Schrotten“ wird Mirko Talhammer (Lucas Gregorowicz), ein halbseidener Versicherungsvertreter, der von seiner Familie, einer Schrotthändler-Dynastie, nichts mehr wissen will, von ebendiesen Familienmitgliedern bei seiner Arbeit besucht und zusammen geschlagen. Nur so können sie Mirko zur Beerdigung seines Vaters bringen und ihm seinen letzten großen Plan präsentieren: den Diebstahl eines mit wertvollem Schrott gefüllten Zuges. Dafür wollen sie in den Wald ein zweites Gleis legen.

Nach kurzem Zögern beschließt Mirko seinem Bruder Letscho (Frederick Lau) bei dem Diebstahl zu helfen. Denn Letscho beschwört zwar lautstark den Schrotthändler-Ethos, aber mit ihm als Kopf der Bande wird der Plan in einem Desaster enden.

Gleichzeitig verhandelt Mirko, der hoch verschuldet ist, hinter dem Rücken seiner Familie (Ganovenehre ist ja so etwas von 20. Jahrhundert) mit dem gegnerischen Schrotthändler Kercher (Jan-Gregor Kremp) über einen Verkauf des Thalheimerschen Erbe.

Das ist ähnlich ausgedacht wie die Drei-Männer-im-Auto-Idee von „Frauen“ und der geniale Plan in „Schrotten“ ist so bescheuert, dass es einen sprachlos macht.

Aber immerhin sind die Talhammers und ihr Clan ganz sympathisch in ihrem Zusammenhalt und Max Zähle rückt in seinem Spielfilmdebüt, nach seinem Oscar-nominiertem Kurzfilm „Raju“, ein Milieu in den Mittelpunkt, das vor einigen Jahrzehnten noch fest zum Landschaftsbild gehörte. Heute, seitdem Schrott Wertstoff ist, sind Schrotthändler ja eine aussterbende Spezies.

Der Humor ist beide Male eher grob. Die Zahl der Lacher beide Male überschaubar. Die Story beide Male unglaubwürdig.

Immerhin wurde beide Male versucht, keine typisch deutsche Schweiger/Schweighöfer-Familienkomödie abzuliefern.

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Frauen (Deutschland 2016)

Regie: Nikolai Müllerschön

Drehbuch: Nikolai Müllerschön

mit Heiner Lauterbach, Blerim Destani, Martin Brambach, Victoria Mirovaya, Mark Keller, André Hennicke

Länge: 87 Minuten

FSK: ?

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Frauen“

Moviepilot über „Frauen“

Meine Besprechung von Nikolai Müllerschöns „Harms“ (Deutschland 2013)

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Schrotten (Deutschland 2016)

Regie: Max Zähle

Drehbuch: Max Zähle, Johanna Pfaff, Oliver Keidel

mit Lucas Gregorowicz, Frederick Lau, Anna Bederke, Lars Rudolph, Heiko Pinkowski, Jan-Gregor Kremp, Rainer Bock, Alexander Scheer

Länge: 102 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

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Filmportal über „Schrotten“

Moviepilot über „Schrotten“

 


DVD-Kritik: Die John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted Man“ mit Philip Seymour Hoffman

Februar 27, 2015

Zwischen den beiden abschließenden „Die Tribute von Panem“-Spektakelfilmen kann man, in aller Ruhe, noch einmal oder – was wahrscheinlich für die meisten gilt – erstmals einen Blick auf die heute als DVD und Blu-ray und als VoD erschienene John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted man“ werfen. Über Philip Seymour Hoffmans letzten wirklich wichtigen Film schrieb ich zum Kinostart:

Auch wenn es noch zwei „Die Tribute von Panem“-Filme mit Philip Seymour Hoffman gibt, ist Anton Corbijns John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted man“ der letzte richtige Film des am 2. Februar 2014 verstorbenen Charakterschauspielers. Denn in dem Film spielt er, der oft prägnante Nebenrollen hatte und großartige Bösewichter spielte, die Hauptrolle: den deutschen Geheimagenten Günther Bachmann, der in Hamburg eine kleine Agenteneinheit leitet. Im Film wird die Einheit nicht genauer spezifiziert. Im Roman ist es, bitte nicht Lachen, die Spezialeinheit Hintergrund des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz. Bachmann will nicht den kurzfristigen Erfolg, sondern die Hintermänner des islamistischen Terrors finden. Als Issa Karpov auftaucht, wittert er seine große Chance.
Karpov, ein über den Hafen illegal eingereister Flüchtling mit deutlichen Spuren von Folter an seinem Körper, will an das Geld von seinem Vater, einem Russen, der nach dem Ende der Sowjetunion Geschäfte mit der russischen Mafia machte und vermögend wurde. Das Geld ist bei einer auf Diskretion bedachten Privatbank.
Bachmann glaubt, dass der Halbtschetschene Karpov mit dem Geld den internationalen Terrorismus fördern will.
Auch andere Geheim- und Sicherheitsdienste und die Amerikaner glauben das. Aber die Ansichten, wie man Karpov behandeln soll, gehen auseinander und schnell erleben wir ein Karussell von Geheimdienstintrigen, in die auch eine junge, idealistische Anwältin und ein älterer Bankierssohn, verwickelt werden, während Karpov immer nur die Projektionsfläche der verschiedenen Dienste bleibt. Denn es gibt absolut keinen handfesten Beweis für die Vermutungen der Agenten.
Das alles ist bester le-Carré, der von „Lantana“-Drehbuchautor Andrew Bovell sparsam von 2008 (Prä-NSA, Prä-NSU) in die Gegenwart (Post-NSA, Post-NSU) übertragen wurde. Wahrscheinlich deshalb wirkt die Geschichte, die politischen Hintergründe und die verwandte Technik etwas anachronistisch. Die Schauspieler sind gut. Neben US-Stars wie Hoffman (dem unumstrittenem Zentrum des Films), Rachel McAdams, Willem Dafoe und Robin Wright, spielen auch deutsche Stars, wie Nina Hoss, Daniel Brühl (der zwar viel Screentime, aber nur ungefähr einen Dialogsatz hat), Rainer Bock und Martin Wuttke, mit. Die Bilder (Kamera: Benoit Delhomme) sind, wie bei Corbijn gewohnt, prächtig. Corbijn war vorher ein bekannter Fotograf und so ist auch jedes Bild von „A most wanted man“ geeignet, als Einzelbild gedruckt zu werden. Es gibt auch einen Bildband zum Film.
Aber diese Bilder von Hamburg erinnern in ihrer Stilisierung immer an das Berlin der achtziger Jahre; jedenfalls wie wir es heute von SW-Fotos kennen. Es sieht nie – obwohl ich schon länger nicht mehr in Hamburg war – wie das heutige Hamburg aus.
Außerdem irritiert in der Originalfassung, dass alle Englisch sprechen. Denn es wird eine deutsche Geschichte erzählt wird, die in Deutschland spielt mit deutschen Charakteren, die in der Realität natürlich in ihrer Landessprache sprechen würden. Bis auf die von Robin Wright gespielte CIA-Mitarbeiterin sind die Hauptcharaktere Deutsche, die in den wichtigen Rollen von US-Amerikanern gespielt werden, und alle reden immer Englisch. Deutsch wird höchstens bei der Getränkebestellung gesprochen. Das fühlt sich dann, jedenfalls für uns Deutsche, schon sehr seltsam an.
Corbijn will, wie schon in seinem vorherigen Film „The American“ (mit George Clooney), nicht thrillen. Er inszeniert deshalb diese Episode aus dem Kampf der Geheimdienste, die wie der Roman abrupt endet, in einem getragenen Tempo, in dem jeder Schauspieler seinen langsam gesprochenen Sätzen hinterherlauscht und es meist eine Kunstpause vor dem nächsten Satz gibt. Das ist als Schauspielerkino nicht ohne Reiz, aber es ist auch teilweise genauso spannend, wie Farbe beim Trocknen zuzusehen.
„A most wanted man“ ist ein Agententhriller der im Ränkespiel der Dienste konsequent jeden Thrill vermeidet und so nicht so gut ist, wie er hätte sein können.

Beim zweiten Ansehen, dieses Mal in der deutschen Fassung, gefiel mir der Film besser. Denn der in der Originalfassung für uns vorhandene und immer irritierende Verfremdungseffekt ist nicht mehr vorhanden. Es ist immer noch eine kleine Episode aus dem unglamourösen Agentenleben, die in erster Linie ein intellektuelles Vergnügen ist, bei der wir beobachten, wie die Dienste, unter ständiger Berücksichtigung ihrer Eigeninteressen, zusammenarbeiten und im entscheidenden Moment eiskalt ihre Chance nutzen. Da ist der Einzelne, wie man es auch aus den anderen Romanen von John le Carré kennt, nur ein von anderen benutzter Spielball.
Außerdem können unsere deutschen Schauspieler, befreit von den Fesseln schlechter deutscher Drehbücher, endlich einmal ihr Können zeigen.
Das Bonusmaterial, ein fünfzehnminütiges „Making-of“ und das neunminütiges Featurette „Spy Master – John le Carré in Hamburg“ bieten interessante Einblicke in die Hintergründe des Films. Immerhin kommen Anton Corbijn und John le Carré zu Wort.
Corbijn nächster Film „Life“ über einen Fotografen des Life Magazine, der 1955 eine Fotostrecke über den aufstrebenden Schauspieler James Dean machen soll, lief bereits auf der Berlinale. In Deutschland soll der Film am 1. Oktober anlaufen.

A most wanted man - DVD-Cover
A most wanted man (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014)
Regie: Anton Corbijn
Drehbuch: Andrew Bovell
LV: John le Carré: A most wanted man, 2008 (Marionetten)
mit Philip Seymour Hoffman, Rachel McAdams, Grigoriy Dobrygin, Willem Dafoe, Robin Wright, Homayoun Ershadi, Nina Hoss, Franz Hartwig, Daniel Brühl, Kostja Ullmann, Vicky Krieps, Rainer Bock, Herbert Grönemeyer, Charlotte Schwab, Martin Wuttke

DVD
Senator
Bild: 2,35:1 (16:9)
Ton: Deutsch, Englisch (DD 5.1)
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
Bonusmaterial: Making-of; Featurette: Spy Master – John le Carré in Hamburg
Länge: 117 Minuten
FSK: ab 12 Jahre (Hauptfilm ab 6 Jahren)

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „A most wanted man“
Moviepilot über „A most wanted man“
Metacritic über „A most wanted man“
Rotten Tomatoes über „A most wanted man“
Wikipedia über „A most wanted man“ (deutsch, englisch)

Homepage von John le Carré

Meine Besprechung von John le Carrés „Geheime Melodie“ (The Mission Song, 2006)

Meine Besprechung von John le Carrés “Marionetten (A most wanted man, 2008)

Meine Besprechung von John le Carrés “Verräter wie wir” (Our kind of traitor, 2010)

Meine Besprechung von John le Carrés “Empfindliche Wahrheit” (A delicate truth, 2013)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “Bube, Dame, König, Spion” (Tinker, Tailor, Soldier, Spy, Großbritannien/Frankreich/Deutschland 2011)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted man“ (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014)

John le Carré in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: Philip Seymour Hoffman ist kein „A most wanted man“

September 11, 2014

Auch wenn es noch zwei „Die Tribute von Panem“-Filme mit Philip Seymour Hoffman gibt, ist Anton Corbijns John-le-Carré-Verfilmung „A most wanted man“ der letzte richtige Film des am 2. Februar 2014 verstorbenen Charakterschauspielers. Denn in dem Film spielt er, der oft prägnante Nebenrollen hatte und großartige Bösewichter spielte, die Hauptrolle: den deutschen Geheimagenten Günther Bachmann, der in Hamburg eine kleine Agenteneinheit leitet. Im Film wird die Einheit nicht genauer spezifiziert. Im Roman ist es, bitte nicht Lachen, die Spezialeinheit Hintergrund des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz. Bachmann will nicht den kurzfristigen Erfolg, sondern die Hintermänner des islamistischen Terrors finden. Als Issa Karpov auftaucht, wittert er seine große Chance.
Karpov, ein über den Hafen illegal eingereister Flüchtling mit deutlichen Spuren von Folter an seinem Körper, will an das Geld von seinem Vater, einem Russen, der nach dem Ende der Sowjetunion Geschäfte mit der russischen Mafia machte und vermögend wurde. Das Geld ist bei einer auf Diskretion bedachten Privatbank.
Bachmann glaubt, dass der Halbtschetschene Karpov mit dem Geld den internationalen Terrorismus fördern will.
Auch andere Geheim- und Sicherheitsdienste und die Amerikaner glauben das. Aber die Ansichten, wie man Karpov behandeln soll, gehen auseinander und schnell erleben wir ein Karussell von Geheimdienstintrigen, in die auch eine junge, idealistische Anwältin und ein älterer Bankierssohn, verwickelt werden, während Karpov immer nur die Projektionsfläche der verschiedenen Dienste bleibt. Denn es gibt absolut keinen handfesten Beweis für die Vermutungen der Agenten.
Das alles ist bester le-Carré, der von „Lantana“-Drehbuchautor Andrew Bovell sparsam von 2008 (Prä-NSA, Prä-NSU) in die Gegenwart (Post-NSA, Post-NSU) übertragen wurde. Wahrscheinlich deshalb wirkt die Geschichte, die politischen Hintergründe und die verwandte Technik etwas anachronistisch. Die Schauspieler sind gut. Neben US-Stars wie Hoffman (dem unumstrittenem Zentrum des Films), Rachel McAdams, Willem Dafoe und Robin Wright, spielen auch deutsche Stars, wie Nina Hoss, Daniel Brühl (der zwar viel Screentime, aber nur ungefähr einen Dialogsatz hat), Rainer Bock und Martin Wuttke, mit. Die Bilder (Kamera: Benoit Delhomme) sind, wie bei Corbijn gewohnt, prächtig. Corbijn war vorher ein bekannter Fotograf und so ist auch jedes Bild von „A most wanted man“ geeignet, als Einzelbild gedruckt zu werden. Es gibt auch einen Bildband zum Film.
Aber diese Bilder von Hamburg erinnern in ihrer Stilisierung immer an das Berlin der achtziger Jahre; jedenfalls wie wir es heute von SW-Fotos kennen. Es sieht nie – obwohl ich schon länger nicht mehr in Hamburg war – wie das heutige Hamburg aus.
Außerdem irritiert in der Originalfassung, dass alle Englisch sprechen. Denn es wird eine deutsche Geschichte erzählt wird, die in Deutschland spielt mit deutschen Charakteren, die in der Realität natürlich in ihrer Landessprache sprechen würden. Bis auf die von Robin Wright gespielte CIA-Mitarbeiterin sind die Hauptcharaktere Deutsche, die in den wichtigen Rollen von US-Amerikanern gespielt werden, und alle reden immer Englisch. Deutsch wird höchstens bei der Getränkebestellung gesprochen. Das fühlt sich dann, jedenfalls für uns Deutsche, schon sehr seltsam an.
Corbijn will, wie schon in seinem vorherigen Film „The American“ (mit George Clooney), nicht thrillen. Er inszeniert deshalb diese Episode aus dem Kampf der Geheimdienste, die wie der Roman abrupt endet, in einem getragenen Tempo, in dem jeder Schauspieler seinen langsam gesprochenen Sätzen hinterherlauscht und es meist eine Kunstpause vor dem nächsten Satz gibt. Das ist als Schauspielerkino nicht ohne Reiz, aber es ist auch teilweise genauso spannend, wie Farbe beim Trocknen zuzusehen.
„A most wanted man“ ist ein Agententhriller der im Ränkespiel der Dienste konsequent jeden Thrill vermeidet und so nicht so gut ist, wie er hätte sein können.

A most wanted man - Plakat

A most wanted man (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014)
Regie: Anton Corbijn
Drehbuch: Andrew Bovell
LV: John le Carré: A most wanted man, 2008 (Marionetten)
mit Philip Seymour Hoffman, Rachel McAdams, Grigoriy Dobrygin, Willem Dafoe, Robin Wright, Homayoun Ershadi, Nina Hoss, Franz Hartwig, Daniel Brühl, Kostja Ullmann, Vicky Krieps, Rainer Bock, Herbert Grönemeyer, Charlotte Schwab, Martin Wuttke
Länge: 122 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „A most wanted man“
Moviepilot über „A most wanted man“
Metacritic über „A most wanted man“
Rotten Tomatoes über „A most wanted man“
Wikipedia über „A most wanted man“ (deutsch, englisch)

Homepage von John le Carré

Meine Besprechung von John le Carrés „Geheime Melodie“ (The Mission Song, 2006)

Meine Besprechung von John le Carrés “Marionetten (A most wanted man, 2008)

Meine Besprechung von John le Carrés “Verräter wie wir” (Our kind of traitor, 2010)

Meine Besprechung von John le Carrés „Empfindliche Wahrheit“ (A delicate truth, 2013)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “Bube, Dame, König, Spion” (Tinker, Tailor, Soldier, Spy, Großbritannien/Frankreich/Deutschland 2011)

John le Carré in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: „Stereo“ für den Genrefan

Mai 15, 2014

Die Prämisse des deutschen Films „Stereo“ – ein Mann wird von einem nur für ihn sichtbarem „Schutzengel“ heimgesucht – klingt nach einer weiteren unsäglichen deutschen Komödie, die „Mein Freund Harvey“ ohne Sinn und Verstand für Klamauk plündert.
Aber schon der überhaupt nicht heimelig-rosarote Anfang irritiert. Erik (Jürgen Vogel) betreibt auf dem Land eine kleine Motorradwerkstatt, sammelt Strafzettel für zu schnelles Fahren mit seinem Motorrad und ist hoffnungslos in Julia (Petra Schmidt-Schaller) verliebt. Sogar ihre kleine Tochter hat den tätowierten Ersatzdaddy akzeptiert. Es könnte das Paradies sein, wenn Erik nicht einen Mann mit Kapuzenpullover und Armeejacke sehen würde, der für alle anderen unsichtbar ist. Während Erik noch überlegt, ob er wahnsinnig wird, mischt der unsichtbare Mann sich immer mehr in sein Leben ein. Teils proletenhaft, teils besserwisserisch mit destruktiven Ratschlägen. Nein, Henry (Moritz Bleibtreu) ist kein „Freund Harvey“ und kein netter Schutzengel, sondern ein Geistesverwandter von Marshall, dem bösen Alter Ego von Earl Brooks in „Mr. Brooks – Der Mörder in dir“.
Obwohl Henry Erik rät, sich nicht mit einigen halbseidenen Gestalten einzulassen, die behaupten, ihn von früher zu kennen, sind Henrys Ratschläge so schräg, dass unklar ist, ob er Erik vor dem Weg ins Verderben bewahren oder diesen Weg beschleunigen will.
Das ist wirklich nicht der Stoff, aus dem die normalen deutschen Komödien gestrickt sind. Autor und Regisseur Maximilian Erlenwein („Schwerkraft“) will auch überhaupt nicht witzig sein. Jedenfalls nicht auf die oberflächlich harmlose Art. „Stereo“ tendiert schon früh in Richtung Krimi, garniert mit einigen wenigen sich aus der Prämisse ergebenden Witzen, wenn Henry Bier-trinkend Beziehungsratschläge gibt oder Erik vor jemand warnt, der gerade ebenfalls im Raum ist.
Es gibt auch am Ende eine psychologisch stimmige Erklärung für Henrys Auftauchen. Man hätte diese Erklärung auch an den Anfang des Films setzen können (was wohl auch einmal geplant war), was „Stereo“ zu einem anderen, aber ebenso gelungenem Film gemacht hätte.
Letztendlich stört bei „Stereo“ nur das altbackene Bild der Verbrecher, die anscheinend direkt aus einem Siebziger-Jahre-Krimi importiert wurden und eine erschreckende Mischung aus Proletentum, Einfalt und Dummheit sind.

Stereo - Plakat

Stereo (Deutschland 2014)
Regie: Maximilian Erlenwein
Drehbuch: Maximilian Erlenwein
mit Jürgen Vogel, Moritz Bleibtreu, Petra Schmidt-Schaller, Georg Friedrich, Rainer Bock, Mark Zak, Helena Schönfeleder, Fabian Hinrichs
Länge: 94 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Hinweise
Homepage zum Film
Film-Zeit über „Stereo“
Moviepilot über „Stereo“


Neu im Kino/Filmkritik: Die Neustarts „Sabotage“, „SuperHypochonder“, „Spuren“ und „Die Poetin“

April 12, 2014

Zwischen schneuzen und husten und nach einem Brüssel-Ausflug, bei dem ich, vor allem im Zug, viel weniger tun konnte, als ich tun wollte, gibt es jetzt einige Kurzkritiken zu den Neustarts der Woche:

„Sabotage“ heißt der neue Arnold-Schwarzenegger-Film. Er spielt John „Breacher“ Wharton, den Leiter eines Special Operations Team der Anti-Drogen-Behörde DEA. Mit seinem Team klaut er bei einem Einsatz gegen einen Drogenbaron zehn Millionen Dollar. Dummerweise ist das Geld, als sie es abholen wollen, verschwunden. Die Untersuchung der Internen Ermittler, die vermuten, dass Breachers Team Geld geklaut hat, überstehen sie, aber danach beginnt jemand sie der Reihe nach umzubringen.
David Ayer, der auch „Training Day“, „Dark Blue“, „Street Kings“ und „End of Watch“ machte, inszeniert Arnold Schwarzenegger. Das weckt Erwartungen, die der Film in keiner Sekunde erfüllt. Anstatt eines intelligenten Noir-Cop-Thrillers ist „Sabotage“ ist ein dumpfes Macho-Abenteuer (auch die einzige Frau in Breachers Team ist ein Vorzeigemacho), das seine wahre Heimat irgendwo im TV-Spätprogramm hat.
Denn der Gegner ist ohne Gesicht, die Konflikte im Team sind banal, ihre nie glaubwürdige Kameradie peinlich dick aufgetragen, die Handlung schleppt sich zäh wie erkaltete Lava vor sich hin. Nein, das alles hat man schon unzählige Male besser gesehen in unzähligen Cop-Thrillern, auch von Ayer, oder der grandiosen TV-Serie „The Shield“, die ähnliche Themen ungleich gelungener durchbuchstabiert. Dass der Film nicht, wie Ayers vorherige Filme, in Los Angeles, sondern in Atlanta, Georgia, spielt, erfährt man durch einige Wald- und Brückenbilder. Dabei lebten Ayers bisherige Filme gerade von seiner symbiotischen Beziehung zwischen Handlungsort und Filmgeschichte. „Sabotage“ könnte dagegen überall spielen.
Nein, von dem Team Ayer-Schwarzenegger hatte ich mehr erwartet. So ist „Sabotage“ der schlechteste Film von Arnold Schwarzenegger nach seiner politikverordneten Pause und ein Werk der verschenkten Möglichkeiten.

Sabotage - Plakat - 4

Sabotage (Sabotage, USA 2014)
Regie: David Ayer
Drehbuch: Skip Woods, David Ayer
mit Arnold Schwarzenegger, Sam Worthington, Joe Manganiello, Josh Holloway, Terrence Howard, Max Martini, Kevin Vance, Mark Schlegel, Martin Donovan, Mireille Enos, Olivia Williams
Länge: 109 Minuten
FSK: ab 18 Jahre

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Sabotage“
Moviepilot über „Sabotage“
Metacritic über „Sabotage“
Rotten Tomatoes über „Sabotage“
Wikipedia über „Sabotage“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von David Ayers „End of Watch“ (End of Watch, USA 2012)


„Super-Hypochonder“ ist der neue Film der „Willkommen bei den Sch’tis“-Macher und während mir die Prämisse von „Willkommen bei den Sch’tis“ zu altmodisch und damit für einen zeitgenössischen Film zu weit hergeholt war, hat mir „Super-Hypochonder“ wesentlich besser gefallen. Dabei basiert auch diese Geschichte in der guten alten Komödien- und Klamauk-Tradition der fünfziger und sechziger Jahre: Romain Faubert ist der titelgebende Superhypochonder, dessen sozialen Kontakte sich hauptsächlich auf seine Treffen mit seinem Arzt Dr. Dimitri Zvenka beschränken. Der will jetzt seinen besten Patienten, der kerngesund ist, endlich loswerden. Die Idee mit einer Freundin schlägt fehl. Als er ihn mit zu einem Flüchtlingsschiff schleppt, auf dem er und andere Ärzte ehrenamtlich die Flüchtlinge medizinisch versorgen, geraten die Dinge außer Kontrolle. Faubert wird nach einem dummen Zufall für Anton Miroslav, den Anführer der Revolution in Tscherkistan gehalten – und Zvenkas revolutionsbegeisterte Schwester Anna verliebt sich sofort in den sympathischen Revolutionär, den sie, vor seinen Verfolgern, bei sich zu Hause versteckt.
Der Revolutionär versteckt sich währenddessen, schwer verletzt, in Fauberts Wohnung und ist von der gut ausgestatteten Hausapotheke begeistert. Natürlich fliegt der Schwindel auf. Dennoch wird Faubert nach Tscherkistan ausgeliefert.
Ein kurzweiliger Klamauk.

SuperHypochonder - Plakat

Super-Hypochonder (Supercondriaque, Frankreich 2013)
Regie: Dany Boon
Drehbuch: Dany Boon
mit Dany Boon, Alice Pol, Kad Merad, Jean-Yves Berteloot, Judith El Zein, Valérie Bonneton, Bruno Lochet
Länge: 108 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Französische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Super-Hypochonder“
Moviepilot über „Super-Hypochonder“
Wikipedia über „Super-Hypochonder“ (deutsch, französisch)


Und dann gibt es noch zwei Biopics.
In „Spuren“ wird die Geschichte der 27-jährigen Robyn Davidson erzählt, die 1977 mit vier Kamelen in neun Monaten die australische Wüste von Alice Springs bis zum Indischen Ozean durchquerte. Die Reportage über ihre Reise wurde zu einem Verkaufserfolg für das „National Geographic“-Magazin. Ihr kurz darauf geschriebenes Buch ein Bestseller.
Der Film selbst ist eine höchst zwiespältige Angelegenheit. Denn den Machern gelingt es nie, zu zeigen, warum Davidson die gefährliche Reise unternimmt. In den anderen Ein-Personen-Stücken, die in letzter Zeit im Kino liefen, wie „Buried“, „Gravity“ und „All is Lost“ war das klar: der Protagonist wollte überleben. Aber bei Davidson ist es unklar. Am Filmanfang sagt sie, fast schon schnippisch: „Warum nicht?“ Denn warum soll eine Frau nicht auch eine Reise unternehmen können, wenn ein Mann das kann? Ein guter Punkt, der allerdings nicht über einen ganzen Film trägt, sondern, als Gegenfrage, eine klassische Nicht-Antwort ist.
Außerdem scheint in „Spuren“ die einsame Wüste ein Ort des Lebens zu sein. Denn es gibt kaum eine Szene, in der Davidson allein ist. Immer wieder trifft die Frau, die die Einsamkeit sucht, Menschen. Aber auch aus diesem Konflikt schlägt der Film keine dramaturgischen Funken.
Immerhin gibt es einige schöne Landschaftsaufnahmen und Mia Wasikowska in der Hauptrolle.

Spuren - Plakat

Spuren (Tracks, Australien 2013)
Regie: John Curran
Drehbuch: Marion Nelson
LV: Robyn Davidson: Tracks, 1980 (Spuren – Eine Reise durch Australien)
mit Mia Wasikowska, Adam Driver, Rainer Bock, Rolley Mintuma, John Flaus, Robert Coleby, Tim Rodgers
Länge: 113 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Spuren“
Moviepilot über „Spuren“
Metacritic über „Spuren“
Rotten Tomatoes über „Spuren“
Wikipedia über „Spuren“
Meine Besprechung von John Currans “Stone” (Stone, USA 2010)


In „Die Poetin“ ist dagegen die dramaturgische Klammer sehr deutlich: „The art of losing isn’t hard to master.“
Es ist die erste Zeile von Elizabeth Bishops Gedicht „The art of losing“ und der Film erzählt, wie sie das lernte: 1951 ist sie in einer Schaffenskrise. Als sie mit diesem Gedicht nicht weiterkommt, entschließt sie sich zu einer Reise. In Rio de Janeiro besucht sie ihre alte Studienfreundin Mary, die mit Lota de Macedo Soares liiert ist. Die burschikose Architektin kann zuerst nichts mit der sanften Dichterin und ihrem elitärem Künstlergehabe anfangen. Sie verlieben sich dann doch ineinander und der Film zeichnet ihre Beziehung, die am Anfang auch eine lesbische Dreiecksbeziehung ist, nach.
Lota de Macedo Soares (1910 – 1967) schuf später den zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Flamengo Park in Rio de Janeiro.
Elizabeth Bishop (1911 – 1979) erhielt 1956 den Pulitzer-Preis für ihrem Gedichtzyklus „North & South – A Cold Spring“. Weitere wichtige Literaturpreise folgten.
Konventionell, fast schon unterkühlt inszeniert, bietet das Biopic, das sich auf Bishops fünfzehnjährigen Aufenthalt in Brasilien konzentriert, einen gelungenen Einblick in das Leben von zwei Frauen – und wie Bishop „the art of losing“ erlernte.

Die Poetin - Plakat

Die Poetin (Flores Raras/Reaching for the Moon, Brasilien 2013)
Regie: Bruno Barreto
Drehbuch: Matthew Chapman, Julie Sayres (basierend auf dem Drehbuch von Carolina Kotscho)
mit Miranda Otto, Glória Pires, Tracy Middendorf, Marcello Airoldi, Treat Williams
Länge: 120 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Die Poetin“
Moviepilot über „Die Poetin“
Metacritic über „Die Poetin“
Rotten Tomatoes über „Die Poetin“
Wikipedia über „Die Poetin“


Neu im Kino/Filmkritik: „Die Bücherdiebin“ ist ein nettes Mädchen in einer schlimmen Zeit

März 16, 2014

Bestsellerverfilmungen.

Nächste Runde.

Dieses Mal mit „Die Bücherdiebin“.

Markus Zusak schrieb den seitenstarken Roman, der ewig auf den Bestsellerlisten blieb und daher natürlich verfilmt werden musste. Ebenso natürlich, dass die Änderungen – immerhin kennen Millionen das Jugendbuch – sich in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Drehbuchautor Michael Petroni sagt dazu: „Das Buch folgt keiner linearen Chronologie. Häufig macht der Erzähler den Leser mit kleinen Informationshappen neugierig, die später dann in der Geschichte eine Rolle spielen werden. Deshalb musste ich zunächst einmmal diese Struktur aufbrechen, die Geschichte chronologisch ordnen und dann bestimmte Szenen modifizieren, damit sie im Film emotional auch die größte Wirkung erzielen konnten. Dafür musste ich allerdings manchmal die Chronologie der Geschichte, wie man sie aus dem Buch kennt, verändern. Ich wage zu bezweifeln, dass das überhaupt jemandem auffallen wird – trotzdem bereiten gerade diese Änderungen immer große Probleme.“ Trotzdem wirkt der Film von der ersten bis zur letzten Minute wie eine sklavische Illustration des Buches, die deshalb als Film nie funktioniert.

In dem Film geht es um die elfjährige Liesel Meminger (Sophie Nélisse), die in den dreißiger Jahren, zu Pflegeeltern aufs Dorf kommt. Ihre Mutter konnte nicht alle Kinder durchfüttern. Hans Hubermann (Geoffrey Rush) ist ein liebevoller, geduldige Pflegevater, während seine Frau Rosa (Emily Watson) sich zunächst als fluchender Hausdrache profiliert. Bei Hans lernt Liesel, die bis dahin eine Analphabetin war, das Lesen. Die Leselust des aufgeweckten Mädchens wird weiter befördert von der Frau des Bürgermeisters. Sie haben eine große Bibliothek und Liesel darf sich dort durch die abendländische Kultur lesen.

Gleichzeitig freundet Liesel sich mit ihrem Schulkameraden Rudi (Nico Liersch), der gerne ein großer Sprinter wäre, an.

Und dann – immerhin spielt der Film während des Tausendjährigen Reichs – muss Liesel auch mit den bücher- und judenfeindlichen Nazis zurechtkommen. Es gibt sogar eine Bücherverbrennung mit allem Drum und Dran.

Außerdem verstecken die herzensguten Hubermanns in dieser schwierigen Zeit im Keller den jungen Juden Max (Ben Schnetzer). Hans trägt so eine Ehrenschuld aus dem ersten Weltkrieg dessen Familie ab.

Regisseur Brian Percival und Drehbuchautor Michael Petroni pendeln unentschlossen zwischen diesen drei Hauptplots hin und her, wobei gerade der quasi-titelgebende Plot mit Liesels Leselust der schwächste ist. Denn zwischen Lesestunden im Keller mit Max und Nachmittagen in der freien Natur mit Rudi bleibt keine Zeit, um die Faszination des Lesens visuell erfahrbar zu machen.

Dazu kommt noch – wie im Roman – als allwissender Erzähler, der sich in teilnehmender Beobachtung übende Tod. Diese Erzählerstimme, die im Roman vielleicht funktioniert, bricht dem Film das Genick. Prätentiös schwafelt der Tod von der ersten Minute an über sein Leben, seine Taten und seine Gefühle. Später gleitet die Kamera über das ansprechend ausgeleuchtete Kriegselend, der Tod salbadert, dass er damals reiche Ernte hielt und der Zuschauer windet sich angesichts solcher Platitüden. Redundanter hätte auch ein Michael Bay keine Botschaft formulieren können.

So zeigt „Die Bücherdiebin“ das gesamtes Elend gediegener Literaturverfilmungen. Die Schauspieler sind gut. Auch gut ernährt. Die Ausstattung gefällt. Sie sieht vielleicht etwas zu sauber, zu unbenutzt und zu gut für einen unter armen Leuten spielenden Film aus. Auch dieser Film wurde in Babelsberg gedreht und die Ausstattung wirkt so vertraut, dass ich inzwischen glaube, dass es gibt bei der Ausstattung und Ausleuchtung einen wiedererkennbaren Babelsberg-Touch gibt. Gegen die Musik – sie ist von John Williams – kann auch nichts gesagt werden.

Nur ist nichts davon emotional berührend. Der gesamte Film erinnert von der ersten bis zur letzten Minute an die Besichtigung einer Musterwohnung: sauber, ordentlich, aufgeräumt, leblos, und der Makler preist die Vorzüge der Wonung an.

Die Bücherdiebin - Plakat

Die Bücherdiebin (The Book Thief, USA/Deutschland 2013)

Regie: Brian Percival

Drehbuch: Michael Petroni

LV: Markus Zusak: The Book Thief, 2005 (Die Bücherdiebin)

mit Sophie Nélisse, Geoffrey Rush, Emily Watson, Ben Schnetzer, Nico Liersch, Barbara Auer, Rainer Bock, Oliver Stokowski, Matthias Matschke, Ben Becker (nur Stimme)

Länge: 132 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Die Bücherdiebin“

Moviepilot über „Die Bücherdiebin“

Metacritic über „Die Bücherdiebin“

Rotten Tomatoes über „Die Bücherdiebin“

Wikipedia über „Die Bücherdiebin“ (deutsch, englisch)

Homepage von Markus Zusak

Perlentaucher über Markus Zusaks Roman „Die Bücherdiebin“


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