Neu im Kino/Filmkritik: „Irresistible“ ist nicht unwiderstehlich

August 5, 2020

Beginnen wir mit dem Regisseur von „Irresistible“ (oder wie im Abspann mit farbigen Buchstaben angedeutet wird: „IrRESISTible“). Er heißt Jon Stewart und er schrieb auch das Drehbuch. Dieser Jon Stewart war von 1999 bis 2015 Moderator und kreativer Kopf der „The Daily Show“. In seiner Late-Night-Show erklärte er mit satirischen Mitteln Politik so gut, dass sie für viele, vor allem jüngere Zuschauer, zu einer politischen Informationssendung wurde. Und, dank YouTube, wurde Stewart auch bei uns bekannt. Seit dem Ende seiner täglichen Show verfolgte er verschiedene Projekte und trat einige Male in „The Late Show with Stephen Colbert“ auf.

Wenn dieser Mann jetzt eine Polit-Satire dreht, dann erwartet man, nun, scharfzüngige, äußerst konzentrierte, zum Nachdenken anregende, äußerst schnell erzählte Satire. Also irgendetwas in Richtung von „The Big Short“, „Vice“ oder etwas in der Tradition von Aaron Sorkin. Die Geschichte von „Irresistible“ ist für so eine Herangehensweise prädestiniert.

Nach der Wahl von Donald J. Trump ist der Politikberater Gary Zimmer (Steve Carell) am Boden zerstört. Als er einen YouTube-Clip von einem Auftritt von Colonel Jack Hastings (Chris Cooper) sieht, ist er begeistert. Hastings ist ein pensionierter Veteran, verwitwet und Milchbauer. Während einer Gemeindeversammlung in dem Kaff Deerlaken, Wisconsin, ergriff er für die im Ort lebenden illegalen Einwanderer und gegen eine sie diskriminierende Regel das Wort. Hastings hielt eine wahrhaft demokratische, patriotisch die US-amerikanischen Werte hochhaltende Rede im US-amerikanischen Hinterland; dem Landstrich, der eigentlich fest in republikanischer Hand ist.

Zimmer macht sich auf den Weg nach Deerlaken. Er will Hastings zur neuen Hoffnung der Demokraten aufbauen. Der erste Schritt ist ein erfolgreicher Wahlkampf gegen den seit Ewigkeiten amtierenden Bürgermeister.

Zimmer kann Hastings von seinem Vorhaben überzeugen. Kurz nach Hastings ersten Wahlkampfaktivitäten, kommt Faith Brewster (Rose Byrne) nach Deerlaken. Sie ist für eine langjährige Wahlkampfmanagerin der Republikaner und schon seit Ewigkeiten Zimmers Intimfeindin, mit der ihn eine Hassliebe verbindet.

Das klingt doch nach der Ausgangslage für eine zünftige Polit-Satire über den frei drehenden Wahlkampfwahnsinn in den USA, die aktuellen politischen Befindlichkeiten und die kulturellen Kämpfe und Gräben zwischen Washington, D. C., und der Provinz.

Aber genau das ist „Irresistible“ nicht. Es ist eine sehr betulich erzählte kleine Provinzschnurre, die niemand weh tun will. Alles plätschert nett harmlos vor sich hin. Nichts wird wirklich zugespitzt. Die Zahl der Pointen ist überschaubar. Die Menschen in Deerlaken sind sympathisch und nett. Politische Konflikte scheint es, außerhalb der Blase der beiden verfeindeten Wahlkampfmanager, nicht zu geben. Und Zimmer und Brewster sind vor allem daran interessiert, Gegensätze zu inszenieren, um mehr Geld für ihren Wahlkampf zu bekommen. Auch die von ihnen nach außen gezeigte Abneigung kann nie ihre Zuneigung füreinander überdecken. Die Landschaft zeigt sich von ihrer fotogensten Seite. Alles ist wundervoll entschleunigt. So wie es halt vor fünfzig, sechzig, siebzig oder achtzig Jahren war, als Mr. Smith nach Washington ging.

Und genau das ist „Irresistible“ letztendlich: ein archetypischer Frank-Capra-Film mit einigen kleinen Modernismen (ein, zwei Wahlkampfspots, einige Telefone) und einer allumfassenden Warmherzigkeit, die nur die versöhnenden Dinge sieht. Stewart zeigt, ohne erkennbare Brechungen, ein weißes Amerika, das es so niemals gab. Die Kamera nimmt das brav auf im Seitenverhältnis 1,66, das heute doch sehr an ein TV-Bild erinnert.

Und genau dort gehört Jon Stewarts rundum harmloser Film auch eigentlich hin.

Ach ja: es lohnt sich, sich den Abspann anzusehen. Dann erklärt ein Experte, wie realistisch die im Film gezeigten Ereignisse sind.

Irresistible – Unwiderstehlich (Irresistible, USA 2020)

Regie: Jon Stewart

Drehbuch: Jon Stewart

mit Steve Carell, Rose Byrne, Chris Cooper, Mackenzie Davis, Topher Grace, Natasha Lyonne, Brent Sexton, Blair Sams, Will McLaughlin, Will Sasso, C. J. Wilson, Andrea Frankle

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Irresistible“

Metacritic über „Irresistible“

Rotten Tomatoes über „Irresistible“

Wikipedia über „Irresistible“


Neu im Kino/Filmkritik: „Stonewall“, eine nicht besonders gelungene Geschichtsstunde

November 19, 2015

Auf der technischen Ebene gibt es bei „Stonewall“ nichts zu meckern. Roland Emmerich hatte mit 13,5 Millionen Dollar zwar nur ein arg überschaubares Budget, das in Hollywood-Kategorien im kleineren Independent-Bereich liegt (sogar Clint Eastwoods „Million Dollar Baby“ kostete 30 Millionen Dollar), aber schon mit seinen ersten Filmen – „Das Arche-Noah-Prinzip“, „Joey“ und „Moon 44“ – zeigte er, dass er mit wenig Geld beeindruckend tricksen kann. Und so sieht „Stonewall“ teurer aus als er war.
Auch über die Schauspieler kann nicht wirklich gemeckert werden. Große Namen fehlen zwar, aber Ron Perlman und Jonathan Rhys Meyers sieht man immer wieder gerne und Hauptdarsteller Jeremy Irvine („Gefährten“, „Die Liebe seines Lebens“, „The Reach“) ist auf dem Weg zum Star.
Aber sie und der gesamte Film haben mit einem extrem schlechten Drehbuch zu kämpfen, das ohne eine wirkliche Geschichte Klischees aneinanderreiht und jede Analyse vermissen lässt. Das wird einem beim Abspann, wenn wir etwas über die wahren Hintergründe wichtiger Figuren des Films erfahren, schmerzhaft bewusst. Denn der Schwule im Anzug, der Schwule auf der Parkbank und die nervige Transe waren später wichtige Figuren der Schwulenbewegung. Im Film gibt es dafür kein Anzeichen. Er verschenkt hier ohne Not sein Potential als wahre Geschichte ohne sich wirklich auf eine andere zu konzentrieren. Es gibt zwar immer wieder Ansätze, aber weder der Krimiplot, noch die Verflechtung zwischen Polizei und Mafia, noch die sozio-politische Analyse, noch die Liebesgeschichte werden auch nur halbwegs vorangetrieben. Jeder dieser Ansätze verpufft letztendlich folgenlos.
Im Mittelpunkt des Films steht Danny Winters (Jeremy Irvine), ein Junge vom Lande, der von seinem konservativen Vater, nachdem Dannys Homosexualität schulbekannt wurde, vor die Tür gesetzt wird. Weil die Columbia Universität Danny aufnehmen würde, macht er sich auf den Weg nach New York. In Greenwich Village trifft er in der Christopher Street dann auch gleich auf das bunte Leben der Ausgestossenen. Sie sind nicht schwul, sondern SCHWUL oder S! C! H! W! U! L! und damit nur noch die schreienden Klischees von Klischees über die verrückten Großstädter, die Landbewohner, die niemals die Grenze ihres Landkreises überschritten haben, über das verruchte Leben in der Großstadt haben. Trotzdem wirkt Danny nicht sonderlich schockiert. Er betritt diese neue Welt, in der Männer mit Männern auch in der Öffentlichkeit, gegen jeden Anstand und Gesetz Sex miteinander haben, als sei deren Leben vollkommen normal. Schockiert ist er dagegen von der Polizeigewalt, die er gleich am ersten Abend erleben muss.
Und weil diese schwule Coming-of-Age-Geschichte 1969 in den Tagen vor den Stonewall-Unruhen spielt, gibt es dann auch, als Höhepunkt, die für die Schwulenbewegung sehr wichtigen Unruhen, für die es in der Realität einige Erklärungen gibt. Im Film wird dagegen letztendlich jede Erklärung vermieden. Es ist einfach eine Randale, die entsteht, weil die Polizei, wieder einmal, eine Razzia in der Kneipe durchführt.
Damit wird im Film die Bedeutung der Stonewall-Unruhen für die Schwulenbewegung allerdings sträflich heruntergespielt.
Diese durchgehende Abneigung gegen jede Analyse zugunsten einer in schönsten Nicholas-Sparks-Bildern inszenierten Schmonzette ohne eine Liebesgeschichte, ohne erinnerungswürdige Charaktere (obwohl die Schauspieler sich bemühen) und damit ohne jegliche Dynamik steht immer auf der Kippe zur unfreiwilligen Komik, bei der man nur noch darauf wartet, dass die Schauspieler plötzlich beginnen zu singen; – was sie bei den hübsch inszenierten Unruhen, die im Film nicht mehrere Tage, sondern nur einige Minuten an einem Sommerabend dauern, tun.
In den USA bekam „Stonewall“ den ganzen Hass der LGBT-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) ab, die Kritik stampfte den Film ein und an der Kinokasse war die Schmonzette mit mildem Trash-Potential ein Flop. So schlecht ist „Stonewall“ nicht. Aber es ist auch kein guter Film und es ist, trotz seines Titels, auch nicht der Film, der die Geschichte der Bar „Stonewall Inn“, der Schwulen, Lesben und Transsexuellen in den Sechzigern in den USA, der beginnenden Schwulenbewegung und dem Christopher Street Day, der erstmals ein Jahr nach den Stonewall-Unruhen als Demonstration gegen Polizeiwillkür stattfand, erzählt.
„Stonewall“ erzählt nur von einem Landei, das zufällig im Sommer 1969 in Greenwich Village war.

Stonewall - Plakat

Stonewall (Stonewall, USA 2015)
Regie: Roland Emmerich
Drehbuch: Jon Robin Baitz
mit Jeremy Irvine, Jonny Beauchamp, Jonathan Rhys Meyers, Ron Perlman, Joey King, Caleb Landry Jones, Matt Craven, Vladimir Alexis, Otoja Abit, Alex Nachi, Matt Craven, David Cubitt, Andrea Frankle, Karl Glusman, Ben Sullivan
Länge: 129 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Film-Zeit über „Stonewall“
Moviepilot über „Stonewall“
Metacritic über „Stonewall“
Rotten Tomatoes über „Stonewall“
Wikipedia über „Stonewall“ (deutsch, englisch) und die wahren Ereignisse, die den Film nicht wirklich inspirierten (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Roland Emmerichs „White House Down“ (White House Down, USA 2013)

Q&A zum Film auf dem TIFF (scheint keine bessere Aufnahme zu geben)