Neu im Kino/Filmkritik: Ein New Yorker Podcaster erlebt „Rache auf texanisch“

Januar 20, 2023

Für Ben Manalowitz, ein New Yorker mit vielen Kurzbeziehungen, war sie nur ein weiterer One-Night-Stand. Für Abby Shaw war er wohl die große Liebe. Jedenfalls hat sie in Texas ihrer Familie von ihm vorgeschwärmt. Deshalb ruft Abbys Bruder nach ihrem Tod bei ihm an und lädt ihn nachdrücklich zur Beerdigung ein.

Der New Yorker Journalist sieht in dieser Einladung die Gelegenheit, etwas über das moderne Amerika und der Spaltung zwischen progressiver, weltoffener Stadt und rückständigem Hinterland zu erzählen.

Als er in West Texas ankommt, wird er von Abbys Redneck-Familie herzlich begrüßt. Er muss auf ihrer Beerdigung eine Rede halten. Seine zusammenhanglos zusammengestammelten Plattitüden kommen bei den Trauergästen und Abbys Familie gut an. Und er erfährt, dass Abbys Tod – sie starb nachts auf einem Feld an einer Überdosis – kein Drogenunfall war. Ihr Bruder Ty ist überzeugt, dass sie ermordet wurde. Hinter allem, so behauptet er, stecke eine große Verschwörung, die er mit Ben aufklären werde. In dem Moment hat Ben die Idee für einen True-Crime-Podcast über den Tod von Abby und die vor Ort herrschenden Verschwörungstheorien. Danach war Abbys Tod keine dumme Überdosis, sondern Teil eines Komplotts, in das die Polizei, lokale Drogenhändler, die Regierung, Pharmakonzerne und alle anderen denkbaren Bösewichter und dunklen Mächte verwickelt sind.

Ben hält diese Theorie für ein Hirngespinst. Es ist eine Schutzbehauptung, um sich nicht mit der Realität auseinanderzusetzten. Und eine geniale Grundlage für einen Podcast über Abbys Tod und der Jagd nach ihrem Mörder, eingebettet in viel Lokalkolorit und O-Töne.

Wer einen schwarzhumorigen Thriller im Stil der Coen-Brüder erwartet, dürfte ziemlich enttäuscht werden. Denn für den Kriminalfall interessiert sich B. J. Novak, der auch das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle übernahm, in seinem Spielfilmdebüt nicht. Stattdessen zeichnet er zeichnet im Rahmen einer „Fish out of Water“-Geschichte ein letztendlich sehr liebevolles Porträt von Texas, garniert mit etwas schwarzem Humor, und einen Aufruf zur Toleranz. Denn, so die These, wenn wir uns erst kennen lernen, stellen wir fest, dass wir uns sehr ähnlich sind. Nur die herrschenden Vorurteile verhindern eine Verständigung. Dagegen kann nichts gesagt werden. Nur: muss es dann so harmlos präsentiert werden?

Denn Novak erzählt seine Komödie mit angezogener Handbremse. Jeder Witz auf Kosten der Texaner wird sofort konterkariert, entschärft, negiert mit einem weiteren Witz, der den vorherigen Witz als Vorurteilt entlarvt, und mit mindestens einem Witz auf Bens Kosten. Abbys Redneck-Familie ist vielleicht auf den ersten Blick etwas vulgär, aber nett, humorvoll, liebesbedürftig und überaus tolerant. Ein örtlicher Musikproduzent überrascht Ben mit überaus philosophischen Monologen. Gleiches gilt für einen mexikanischen Drogenhändler, der ebenfalls mit der ihm von der Gesellschaft zugeschriebenen Rolle hadert.

Das hat nichts mit der ätzenden Kleinstadtanalyse von Martin McDonaghs grandioser Satire „Three Billboards outside Ebbing, Missouri“ (Three Billboards outside Ebbing, Missouri, USA 2017) zu tun. Novaks „Rache auf texanisch“ ist dagegen ein arg harmloser, spannungsfrei vor sich hin plätschernder Familienfilm, der sich nur am Anfang und Ende für den Kriminalfall interessiert.

Rache auf texanisch (Vengeance, USA 2022)

Regie: B. J. Novak

Drehbuch: B. J. Novak

mit B. J. Novak, Boyd Holbrook, Lio Tipton, Ashton Kutcher, Isabella Amara, Dove Cameron, J. Smith-Cameron, Eli Abrams Bickel, Issa Rae, Louanne Stephens, John Mayer

Länge: 108 Jahre

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Rache auf texanisch“

Metacritic über „Rache auf texanisch“

Rotten Tomatoes über „Rache auf texanisch“

Wikipedia über „Rache auf texanisch“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Annie“ – altes Broadway-Musical, neue Bearbeitung

Januar 15, 2015

Bei uns ist „Annie“ vor allem als der John-Huston-Film bekannt, den John-Huston-Fans nicht sehen wollen und galant ignorieren. Immerhin hat er davor, beginnend mit „Die Spur des Falken“ (The Maltese Falcon), einige Klassiker gedreht und auch sein Werk nach der Auftragsarbeit „Annie“ ist nicht schlecht. Denn „Annie“ ist ein Musical über ein Waisenkind, das von einem stinkreichen Frühkapitalisten aufgenommen wird. Das passt nicht in Hustons sonstiges Werk.
In das Werk von Will Gluck („Einfach zu haben“, „Freunde mit gewissen Vorzügen“), der jetzt ein zeitgemäßes Update von „Annie“ vorlegte, schon eher. Er hat allerdings in den USA, wo das Musical „Annie“ wohl so etwas wie ein heiliges Kulturgut und für Viele eine wunderschöne Kindheitserinnerung ist, mit anderen Problemen zu kämpfen. So spielt sein „Annie“-Film in der Gegenwart. Das Musical und Hustons Film spielen in den Dreißigern. Die ersten „Little Orphan Annie“-Comics, auf denen das Musical basiert, schrieb Harold Gray bereits 1924 für die „New York Daily News“.
Glucks Annie ist eine Afroamerikanerin. Die Musical- und Comic-Annie ist ein Rotschopf. Die Songs, Gassenhauer wie „It’s the hard-knock life“, „Maybe“ und „Tomorrow“, wurden modernisiert vom Broadway-Bigband-Schmalz zu eher banalen, aber immer eingängigen Pop-Songs. Alle diese Veränderungen wurden in den USA heftig kritisiert. Immerhin trampelt Gluck auf ihren Kindheitserinnerungen herum.
Dieses Problem hat „Annie“ für uns nicht. Denn wer kennt hier schon „Annie“? Die Comics, das Broadway-Musical, die Verfilmungen? Herrje, sogar die John-Huston-Verfilmung läuft bei uns nie im TV.
Für eine vorurteilsfreie Betrachtung ist das natürlich gut. Die Story selbst ist, typisch für ein Musical, absolut vorhersehbar und vernachlässigbar. Annie (Quvenzhané Wallis, „Beasts of the Southern Wild“) ist ein quietschfideles, immer gut gelauntes zehnjähriges Pflegekind, das einmal pro Woche zu dem Restaurant geht, in dem ihre Eltern sie aussetzten. Vielleicht kommen sie ja wieder zurück. Ihre Pflegemutter Miss Hannigan (Cameron Diaz im grotesken Overacting-Modus) ist eine ihrer halben Minute hinterhertrauernde Schnapsdrossel und ein wahrer Hausdrache, der sich bemüht, die Kinder, die sie in ihrer Obhut hat, möglichst schlecht zu behandeln. Zufällig läuft Annie in New York Will Stacks (Jamie Foxx) über den Weg und diese Begegnung, als er sie vor einem fahrenden Laster rettet, wird ein YouTube-Hit.
Der allein lebende Mogul ist so von seiner Arbeit besessen, dass er keine Augen für seine linke Hand Grace (Rose Byrne) hat. Außerdem kandidiert er für das Bürgermeisteramt. Aber der Snob, der keinen Kontakt zum Leben und den Sorgen seiner Wähler hat, ist nicht besonders populär. Sein Wahlkampfmanager Guy (Bobby Cannavale) empfiehlt ihm, ein Treffen mit Annie vor laufender Kamera – und schon steigen seine Popularitätswerte. Sie würden noch weiter steigen, wenn er sich öfter mit Annie sehen lassen würde.
Also nimmt der Mann, der nichts mit Kindern anfangen kann, Annie bis zum Wahlsonntag bei sich auf und was dann passiert, kann man sich denken.
Das hat so viel Zuckerguss und Ignoranz gegenüber der Realität in jeder Form, dass man schon nicht mehr von einer rosaroten Version der Wirklichkeit reden kann. „Annie“ spielt in einem Paralleluniversum, das zufällig aussieht wie New York. Ohne den Schmutz und den Lärm. Ohne die Probleme des Kapitalismus.
Und, wie es sich für ein Musical gehört, wird in den unpassendsten Momenten, also ungefähr immer, gesungen und getanzt. Im Original singen die Schauspieler selbst. In der deutschen Fassung, die erstaunlich schlecht synchronisiert ist, werden die Lieder von Sängern gesungen, während Synchronsprecher die restlichen Dialoge übernahmen.
Das liest sich jetzt, als ob „Annie“ eine filmische Vollkatastrophe ist.
Aber dennoch hat mir „Annie“ – sogar in der deutschen Fassung (das war einer der wenigen Filme, bei dem ich während der Vorführung die Dialoge immer wieder ins Original zurückübersetzte) – gefallen. Es ist ein quietschbuntes Musical, bei dem alle hyperaktiv und übertrieben fröhlich agieren. Annie ist immer liebenswert. Die Schauspieler hatten ihren Spaß, der sich auch in den Saal überträgt und ich verließ den Kinosaal mit einem Lächeln, weil – well – „You’re never fully dressed without a smile“.

Annie - Plakat

Annie (Annie, USA 2014)
Regie: Will Gluck
Drehbuch: Will Gluck, Aline Brosh McKenna
LV: Thomas Meehan: Annie, 1977 (Musical), Harold Gray: Little Orphan Annie (Comic Strip)
mit Quvenzhané Wallis, Jamie Foxx, Rose Bynre, Cameron Diaz, Bobby Cannavale, David Zayas, Stephanie Kurtzuba, Adewale Akinnuoye-Agbaje, Tracie Thoms, Dorian Missick, Michael J. Fox, Sia, Mila Kunis, Ashton Kutcher, Rihanna
Länge: 119 Minuten
FSK: ab 0 Jahre

Der Soundtrack

Im Film werden auch die Songs auf Deutsch gesungen; was aber ziemlich gruselig ist, weil die deutschen Texte nicht gut und noch nicht einmal annäherungsweise lippensynchron sind. Aber, und das ist die gute Nachricht, auch bei uns wurde der Originalsoundtrack veröffentlicht. Zusätzlich gibt es bei der deutschen Veröffentlichung des Soundtracks den von Chelsea Fontenel gesungenen Bonussong „Schon morgen“ und allein dieses eine Lied zeigt, dass es eine kluge Entscheidung war, die deutschen Versionen der Songs von Komponist Charles Strouse und Texter Martin Charnin nicht zu veröffentlichen.
So können wir hören, wie Quvenzhané Wallis, Jamie Foxx, Rose Bynre, Cameron Diaz, Bobby Cannavale und einige weitere Schauspieler die bekannten und drei brandneue Lieder („Who am I?“, „Opportunity“ und „The City’s yours“) singen.
Außerdem gibt es „Moonquake Lake“, ein fröhlicher Singalong-Song von Sia und Beck, der gut zwischen die modernisierten Songs von Strouse/Charnin passt.

V. A.: Annie – Original Motion Picture Soundtrack
Rocnation/Overbrook/Madison Gate/RCA/Sony Music/Columbia Pictures

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Annie“
Moviepilot über „Annie“
Metacritic über „Annie“
Rotten Tomatoes über „Annie“
Wikipedia über „Annie“