Neu im Kino/Filmkritik: „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ sollen raus aus ihrem Viertel

März 6, 2025

Für seinen zweiten Spielfilm bleibt Ladj Ly in der Pariser Banlieue – und erzählt eine gänzlich andere Geschichte. Am besten betrachtet man „Die Unerwünchten – Les Indésirables“ als gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden – Les Misérables“, das 2020 bei uns im Kino lief.

In ihm erzählt er die Geschichte von drei Zivilpolizisten und, nachdem ein Löwenjunge aus einem Zirkus gestohlen wird, einer etwas aus dem Ruder laufenden Schicht, Dabei entsteht das gelungene Porträt von einem Stadtviertel in Paris, in dem sich die sozialen Probleme ballen und die Stimmung ständig kurz vor dem Siedepunkt ist.

In „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ konzentriert er sich auf die städtische Angestellte Haby Keita (Anta Diaw) und den Arzt Pierre Forges (Alexis Manenti). Er wird, nachdem der Amtsinhaber überraschend stirbt, von seiner Partei zum Bürgermeister befördert.

Beide leben in verschiedenen Welten. Sie lebt in Les Grands Bosquets, kennt die Bewohner seit ihrer Kindheit und hilft ihnen. Sie ist eine von ihnen.

Er lebt in seiner noblen Vorstadtvilla und kennt den sozialen Brennpunkit Les Grands Bosquets letztendlich nur aus den Schlagzeilen der Tageszeitung. Politik ist, auch wenn sie hier noch auf lokaler Ebene praktiziert wird und Pierre keine Ahnung von der Politik hat, ein Teil des Lebensstils des etablierten Bürgertums. Es ist keine Notwendigkeit, sondern ein Hobby, bei dem man sein soziales Engagement beweisen kann. Wie dieses Engagement dann mit eigenen Interessen verknüpft ist, zeigt Ladj Ly in „Die Unerwünschten“.

Zwischen den Geschichten von Haby und Pierre herrscht ein Ungleichgewicht, das sich durch den ganzen Film zieht. Sie ergänzen sich nicht, sondern stehen sich im Weg. Ihre Geschichte ist formal ein klassisches Sozialdrama und eine dichte Milieustudie im Ken-Loach-Stil. Seine Geschichte ist dagegen ein Politdrama, die Geschichte eines Mannes, der von der Macht verführt wird. Das ist formal aufklärerisches und die Herrschenden anklagendes Polit-Kino, wie man es aus den siebziger Jahren und von Regisseuren wie Constantin Costa-Gavras kennt.

Dabei ist Pierres Geschichte die eindrucksvollere. Ladj Ly zeigt, wie aus einem politisch unbedarften Arzt ein Menschen verachtendes Monster wird. Von seinen Parteifreunden wird er in den Job gestoßen, um die Zeit bis zur Wahl zu überbrücken. Er ist ein Übergangs- und Verlegenheitskandidat, von dem nur erwartet wird, dass er keine großen Fehler macht. Aber dann will er das Werk seines Vorgängers fortsetzen und das Leben der Menschen in dem Viertel verbessern. Darunter versteht er reaktionäre und ausländerfeindliche Aktionen, die immer noch gerade so legal sind. So lässt er das schon seit Ewigkeiten baufällige Banlieue-Mietshaus in dem arme Einwanderer leben, an Weihnachten räumen, weil der Bau angeblich akut einsturzgefährdet sei. Das ist Quatsch, aber so kann er seine unnötig gemeine Aktion mit Wohltätigkeit und Besorgnis um die Menschen tarnen. Was nach der rücksichtslos durchgeführten Räumung mit den auf der Straße sitzenden Mietern passiert, ist ihm egal. Außerdem ist so der Weg frei für ein schon lange geplantes Bauprojekt. Bislang konnte es nicht verwirklicht werden, weil die Mieter nicht ausziehen wollten.

In Pierres Geschichte zeigt Ladj Ly, wie Politik funktioniert, wie aus einem halbwegs anständigem Mann ein eiskalter Rechtspopulist wird. Seine Untaten ummäntelt er mit Wohltätigkeit. Dabei entwickelt er ein auch seine Parteikollegen überraschendes politisches Talent und Bosheit beim Durchsetzen seiner Ziele.

Bei einer ihrer Begegnungen entschließt Haby sich spontan, gegen ihn zu kandidieren. Ihre Familie wanderte aus Mali ein. Sie ist in dem Viertel verwurzelt, weil sie dort lebt und arbeitet und alle kennt. Sie ist, auch ohne es zu ahnen, die gute Seele des Viertels. In dem Moment ist es nur eine in ohnmächtiger Wut getanene Ankündigung auf die zunächst keine Taten folgen. Auch später wird ihr Wahlkampf mehr mitgeschleppt als konsequent erzählt. Offensichtlich interessiert Ladj Ly sich nicht für diese eigentlich interessante Geschichte. So bleibt Habys Geschichte vor allem eine nah an den Menschen erzählte Milieustudie.

Beide Geschichten bieten Stoff für einen guten Film. Beide Geschichten könnten auch in einem Film gut erzählt werden, wenn die richtigen Momente ausgewählt würden und die richtige Balance zwischen Haupt- und Nebengeschichte gefunden würde. In „Die Unerwünschten“ stehen sie sich im Weg. Zu vieles wird angerissen und dann nicht richtig weiter erzählt. Das macht „Die Unerwünschten“ nicht zu einem schlechten Film, sondern zu einem Film, der besser hätte sein können. Sehenswert ist er trotzdem und eine gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden“.

Das war jetzt die Empfehlung für ein Double Feature.

Die Unerwünschten – Les Indésirables (Les Indésirables/Bâtiment 5, Frankreich 2023)

Regie: Ladj Ly

Buch: Giordano Gederlioni, Ladj Ly, Dominique Baumard

mit Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula, Steve Tientcheu, Aurélia Petit, Jeanne Balibar, Judy Al Rashi

Länge: 105 Minuten

FSK: ?

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“

AlloCiné über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“

Metacritic über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“

Rotten Tomatoes über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“

Wikipedia über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Ladj Lys „Die Wütenden – Les Misérables“ (Les Misérables, Frankreich 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Alice Diops „Saint Omer“

März 11, 2023

Die schwangere Professorin und Schriftstellerin Rama fährt nach Saint Omer, einem Ort in Nordfrankreich im Département Pas-de-Calais. Dort besucht sie die Gerichtsverhandlung gegen Laurence Coly. Die Senegalisin hat ihre fünfzehn Monate alte Tochter ins Meer gelegt. Jetzt ist sie als Mörderin angeklagt. Rama will über die Verhandlung schreiben.

Saint Omer“ ist ein filmisch extrem reduziertes Drama, das den Fall in seiner Komplexität zeigt und mehr Fragen stellt als beantwortet. Die geständige Coly ist dabei kein liebenswertes Opfer, sondern eine in vielerlei Hinsicht rätselhafte und problematische Persönlichkeit mit psychischen Problemen. Vor Gericht erscheint sie seltsam unberührt von der Verhandlung. Sie erklärt ihre Tat mit Hexerei. Aber gleichzeitig ist sie eine gebildete Frau. Sie studierte und begann eine Promotion über Wittgenstein. Sie lebte mit einem deutliche älterem Künstler, der auch der Vater ihres Kindes ist, zusammen. Sie zog sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück. Sie wurde immer unsichtbarer. Doch warum tat sie das und warum tötete sie ihr Kind?

Alice Diops Film basiert auf einem wahren Fall, der in Frankreich auch als Kabou-Affäre oder Adélaide-Affäre bekannt ist. Im November 2013 legte die 36-jährige ehemalige Philosophiestudentin Fabienne Kabou ihre fünfzehn Monate alte Tochter Adélaide im bei Calais gelegenem Badeort Berck in die Nordsee. Die Flut erledigte den Rest. Danach kehrte sie zu ihrem Lebensgefährten, einem deutlich älterem Künstler, zurück. Kurz darauf konnte sie anhand von Videoaufzeichnungen identifiziert werden. 2016 wurde sie von einem Schwurgericht in Saint-Omer zu einer zwanzigjährigen Haft verurteilt.

In Frankreich wurde über den Fall und das distanzierte Auftreten der Angeklagten breit diskutiert.

Alice Diop saß während der Verhandlung im Gerichtssaal. Diese Verhandlung und ihre Reaktion darauf inspirierte sie, nach mehreren Dokumentarfilmen, zu ihrem Spielfilmdebüt, das vor allem in den Gerichtsszenen nah an dem Fall bleibt und mit den Mitteln des beobachtenden Dokumentarfilms inszeniert ist. Sie erklärt nichts. Sie lässt die Menschen reden in oft minutenlangen statischen Einstellungen, die damit auch die Dramatik eines Gerichtsverfahrens wiedergeben. Und das ist nicht so aufregend, wie eine TV-Gerichtsshow oder eine dramatische Gerichtsszene in einem Spielfilm, sondern teils ermüdend langweilig und emotionslos. In „Saint Omer“ wird mit ruhiger Stimme gesprochen, ohne Emotionen nachgefragt und scheinbar unbeteiligt geantwortet. Die unbewegte Kamera bleibt während der gesamten Befragung immer auf eine Person, normalerweise die befragte Person, gerichtet. Diese bewegt sich kaum.

Insofern ist „Saint Omer“ formal in sich geschlossen, aber als Film auch eine etwas dröge Angelegenheit. Das Drama ist mehr ein Hörspiel oder ein Gerichtsprotokoll (wenn man in der Originalfassung auf das Lesen der Untertitel angewiesen ist) als ein Spielfilm.

Saint Omer (Saint Omer, Frankreich 2022)

Regie: Alice Diop

Drehbuch: Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaye

mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, Aurélia Petit, Xavier Maly, Robert Cantarella, Salimata Kamate, Thomas de Pourquery

Länge: 123 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

AlloCiné über „Saint Omer“

Moviepilot über „Saint Omer“

Metacritic über „Saint Omer“

Rotten Tomatoes über „Saint Omer“

Wikipedia über „Saint Omer“ (deutsch, englisch, französisch)