Neu im Kino/Filmkritik: Über Alice Diops „Saint Omer“

März 11, 2023

Die schwangere Professorin und Schriftstellerin Rama fährt nach Saint Omer, einem Ort in Nordfrankreich im Département Pas-de-Calais. Dort besucht sie die Gerichtsverhandlung gegen Laurence Coly. Die Senegalisin hat ihre fünfzehn Monate alte Tochter ins Meer gelegt. Jetzt ist sie als Mörderin angeklagt. Rama will über die Verhandlung schreiben.

Saint Omer“ ist ein filmisch extrem reduziertes Drama, das den Fall in seiner Komplexität zeigt und mehr Fragen stellt als beantwortet. Die geständige Coly ist dabei kein liebenswertes Opfer, sondern eine in vielerlei Hinsicht rätselhafte und problematische Persönlichkeit mit psychischen Problemen. Vor Gericht erscheint sie seltsam unberührt von der Verhandlung. Sie erklärt ihre Tat mit Hexerei. Aber gleichzeitig ist sie eine gebildete Frau. Sie studierte und begann eine Promotion über Wittgenstein. Sie lebte mit einem deutliche älterem Künstler, der auch der Vater ihres Kindes ist, zusammen. Sie zog sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück. Sie wurde immer unsichtbarer. Doch warum tat sie das und warum tötete sie ihr Kind?

Alice Diops Film basiert auf einem wahren Fall, der in Frankreich auch als Kabou-Affäre oder Adélaide-Affäre bekannt ist. Im November 2013 legte die 36-jährige ehemalige Philosophiestudentin Fabienne Kabou ihre fünfzehn Monate alte Tochter Adélaide im bei Calais gelegenem Badeort Berck in die Nordsee. Die Flut erledigte den Rest. Danach kehrte sie zu ihrem Lebensgefährten, einem deutlich älterem Künstler, zurück. Kurz darauf konnte sie anhand von Videoaufzeichnungen identifiziert werden. 2016 wurde sie von einem Schwurgericht in Saint-Omer zu einer zwanzigjährigen Haft verurteilt.

In Frankreich wurde über den Fall und das distanzierte Auftreten der Angeklagten breit diskutiert.

Alice Diop saß während der Verhandlung im Gerichtssaal. Diese Verhandlung und ihre Reaktion darauf inspirierte sie, nach mehreren Dokumentarfilmen, zu ihrem Spielfilmdebüt, das vor allem in den Gerichtsszenen nah an dem Fall bleibt und mit den Mitteln des beobachtenden Dokumentarfilms inszeniert ist. Sie erklärt nichts. Sie lässt die Menschen reden in oft minutenlangen statischen Einstellungen, die damit auch die Dramatik eines Gerichtsverfahrens wiedergeben. Und das ist nicht so aufregend, wie eine TV-Gerichtsshow oder eine dramatische Gerichtsszene in einem Spielfilm, sondern teils ermüdend langweilig und emotionslos. In „Saint Omer“ wird mit ruhiger Stimme gesprochen, ohne Emotionen nachgefragt und scheinbar unbeteiligt geantwortet. Die unbewegte Kamera bleibt während der gesamten Befragung immer auf eine Person, normalerweise die befragte Person, gerichtet. Diese bewegt sich kaum.

Insofern ist „Saint Omer“ formal in sich geschlossen, aber als Film auch eine etwas dröge Angelegenheit. Das Drama ist mehr ein Hörspiel oder ein Gerichtsprotokoll (wenn man in der Originalfassung auf das Lesen der Untertitel angewiesen ist) als ein Spielfilm.

Saint Omer (Saint Omer, Frankreich 2022)

Regie: Alice Diop

Drehbuch: Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaye

mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, Aurélia Petit, Xavier Maly, Robert Cantarella, Salimata Kamate, Thomas de Pourquery

Länge: 123 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

AlloCiné über „Saint Omer“

Moviepilot über „Saint Omer“

Metacritic über „Saint Omer“

Rotten Tomatoes über „Saint Omer“

Wikipedia über „Saint Omer“ (deutsch, englisch, französisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Monsieur Claude und sein großes Fest“ zum 40. Hochzeitstag

Juli 22, 2022

Jetzt geht die unappetitliche, kommerziell sehr erfolgreiche „Monsieur Claude“-Filmserie in die dritte Runde. Der erste Auftritt des nationalistischen Provinzanwalts lockte in Frankreich über zwölf Millionen Zuschauer in die Kinos. In Deutschland waren es gut vier Millionen. Der zweite Teil lockte in Frankreich immer noch 6,8 Millionen in die Kinos. Damit stehen beide Filme in den Top 100 der größten Erfolge in der Geschichte des französischen Films. In Deutschland sahen sich im Kino knapp 1,4 Millionen Zuschauer die Komödie an. Damit landete sie mühelos in den Top Twenty der meistbesuchten Filme des Jahres. Der dritte „Monsieur Claude“-Film hat in Frankreich bereits fast 2,5 Millionen Zuschauer erreicht. Bei uns startet er in über sechshundert Kinos.

Dieses Mal dreht sich die Filmgeschichte vor allem um den vierzigsten Hochzeitstag von Claude Verneuil und seiner Frau Marie. Während der Pensionär diesen Tag ohne größeres Aufsehen begehen möchte, planen seine vier Töchter in aller Heimlichkeit ein großes Fest, zu dem selbstverständlich auch die in der ganzen Welt verstreut lebenden Schwiegereltern eingeladen werden.

Das Chaos ist vorprogrammiert und natürlich gibt es, wenn die verschiedenen Generationen und durchweg grenzwertigen Familien aufeinanderprallen, genug Raum für Witze. Und damit kommen wir zu dem unappetitlichem Teil der Serie. Sie pflegt und bejaht fröhlich konservative und reaktionäre Ressentiments und Vorurteile.

So wird in „Monsieur Claude und seine Töchter“ (2014) zuerst postuliert, dass wir alle Rassisten sind. Das am Filmende empfohlene Gegenmittel gegen den Rassismus ist der Nationalismus in der Form des Gaullismus. In „Monsieur Claude 2“ (2019) wird das heile Provinzleben gegen das schlimme, in Kriminalität, Aggression und Hass versinkende Großstadtleben empfohlen. Am Ende der Komödie ziehen Monsieur Claudes Töchter und ihre Männer in die Provinz, in der es – abseits aller Fakten – keinen Rassismus gibt.

Im dritten „Monsieur Claude“-Film wird sich, ähnlich eindimensional, das nächste konservative Lieblingsthema vorgenommen: die angestammte Rolle der Frau, die hier, wieder einmal, auf die drei Ks „Kinder, Küche, Kirche“ reduziert wird.

Monsieur Claudes Töchter haben, zum Entsetzen des katholischen Monsieur Claude in „Monsieur Claude und seine Töchter“, einen Juden, einen algerischstämmigen Muslim, einen Chinesen und einen Schwarzafrikaner geheiratet. Die kindsköpfigen Männer verdienen jetzt in dem Dorf Chinon das Geld als Unternehmer, Anwalt, Bankier und Schauspieler. Ihre Frauen ziehen die vielen Kinder groß, besuchen die Kirche, schmeißen klaglos den Haushalt und können sich kein anderes Leben vorstellen. Sie und alle anderen Frauen in dem Film finden ihre Erfüllung in diesen Tätigkeiten.

Quasi nebenbei werden die künstlerischen Ambitionen von Monsieur Claudes Tochter Ségolène, die in der Familie geduldet werden, als talentloses, modernistisches Geschmiere abgewatscht. Wieder einmal werden die moderne Kunst und berufliche Ambitionen von Frauen der Lächerlichkeit preisgegeben. Es sind billige Pointen, die schon vor vierzig, fünfzig Jahren einen leicht ranzigen Geschmack hatten. Ebenso nebenbei bekommen im dritten „Monsieur Claude“-Film Veganer eine Klatsche. Eine Tochter von Monsieur Claude ist jetzt Veganerin. Die von ihr aufgetischten veganen Platten sind eine ausgesprochen lieblose Präsentation von Gemüse.

Diese rückwärtsgewandten Ansichten werden glorifiziert. Es wird also nicht über Monsieur Claude und seine reaktionären Ansichten gelacht, sondern es wird mit ihm gelacht. Die Filme bestätigen und verstärken so die angesprochenen Vorurteile. Eben diese Haltung macht die „Monsieur Claude“-Filme zu so unappetitlichen Komödien.

Monsieur Claude und sein großes Fest (Qu’est-ce qu’on a tous fait au Bon Dieu?, Frankreich 2022)

Regie: Philippe de Chauveron

Drehbuch: Guy Laurent, Philippe de Chauveron

mit Christian Clavier, Chantal Lauby, Ary Abittan, Medi Sadoun, Frédéric Chau, Noom Diawara, Frédérique Bel, Émilie Caen, Élodie Fontan, Alice David, Pascal N‘Zonzi, Salimata Kamate, Daniel Russo, Nanou Garcia, Abbes Zahmani, Farida Ouchani, Bing Yin, Li Heling, Jochen Hägele

Länge: 99 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Monsieur Claude und sein großes Fest“

AlloCiné über „Monsieur Claude und sein großes Fest“

Rotten Tomaotes über „Monsieur Claude und sein großes Fest“

Wikipedia über „Monsieur Claude und sein großes Fest“ (deutsch, französisch)

Meine Besprechung von Philippe de Chauverons „Monsieur Claude und seine Töchter“ (Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?, Frankreich 2014)


Neu im Kino/Filmkritik: Der französische Kassenhit „Monsieur Claude und seine Töchter“

Juli 24, 2014

Wenn in Frankreich für „Monsieur Claude und seine Töchter“ nicht über zehn Millionen Kinotickets gekauft worden wären und wenn in Frankreich nicht vor wenigen Wochen bei der Wahl zum Europaparlament die Front National mit fast 25 Prozent die stärkste Partei geworden wäre, könnte man „Monsieur Claude und seine Töchter“ als eine sicher gut gemeinte, aber missglückte Komödie über Vorurteile und deren Überwindung ad acta legen.

Dabei ist die Grundidee für eine Culture-Clash-Komödie zwar weit hergeholt, aber gar nicht mal so schlecht: Monsieur Claude Verneuil ist ein glühender Gaullist, also ein konservativer Franzose, der an die Überlegenheit Frankreichs glaubt. Seine Frau Marie ist tiefkatholisch. Und sie lieben ihre Töchter, die einen Chinesen (Religion unklar), einen Moslem und einen Juden, die alle eine recht legere Haltung zu ihrer Religion haben, heiraten. Da will auch ihre vierte und letzte Tochter heiraten und zur Freude der Eltern ist ihr Künftiger ein Katholik. Das wäre für die in der malerischen Provinz lebenden bourgeoisen Eltern ein wahres Gottesgeschenk, wenn er nicht ein Schwarzer von der Elfenbeinküste wäre.

Und spätestens jetzt wird es sehr unappetitlich. Denn nicht nur Monsieur Claude ist ein Rassist. Auch seine drei Schwiegersöhne sind Rassisten. Der künftige Brautvater André Koffi ebenso. Koffi darf die meiste Zeit auch das Klischee des wütenden Barbaren mit drohend aufgerissenen Augen und fletschenden Zähnen mimen.

Die Frauen sind, soweit sie überhaupt etwas zum Geschehen beitragen dürfen, zwar etwas moderater, aber dafür bleibt es vollkommen rätselhaft, warum sie ihre Männer geheiratet haben. Die Männer sind allesamt dürftige Klischees, die Frauen austauschbar (Oder kann irgendjemand nach dem Film die überaus ansehnlichen Frauen mit der Ausstrahlung einer Barbie-Puppe fehlerfrei ihren Männern zuordnen?) und Monsieur Claudes Ehefrau wird zunehmend zu einer verblendeten Katholikin, was immerhin den Originaltitel „Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?“ erklärt und die Frage für eine religionskritische Komödie hätte sein können, wenn der Chinese gläubig wäre und der Afrikaner mehr als eine Laissez-faire-Haltung zum Glauben hätte. Aber in dem Film geht es nicht um Glaube und Religion, auch nicht um die Prüfung des Glaubens, sondern um Vorurteile gegenüber anderen Rassen, die man locker am Essenstisch bei einem Glas Rotwein äußert.

Das propagierte Familienbild stammt aus den fünfziger Jahren, als es für Frauen „Kinder, Küche, Kirche“ (die drei berühmten Ks) hieß, was sich im Film an der von den Frauen organisierten Kindererziehung, während die Männer Geld verdienen, und einem lauschigen Weihnachtsabend im Kreis der Familie zeigt: während die Frauen in der Küche den Abwasch machen, nehmen die Männer nebenan etwas Alkohol zu sich und schmettern, um ihr Französisch-Sein zu bezeugen, voller Nationalstolz die Marseillaise.

Jetzt könnte beim Zusehen dieser wohlsituierten Rassisten wenigstens die Erkenntnis wachsen, dass Rassismus, Vorurteile und Hass etwas Schlechtes sind, aber Regisseur Philippe de Chauveron verkleistert die Scheinkonflikte, als ob es sich um Fantum zu verschiedenen Musikern handele, am Ende mit einer Toleranzbotschaft, die wohl schon in den fünfziger Jahren schwer erträglich war. Monsieur Claude und Koffi, die beiden Väter, verbrüdern sich bei einer Sauftour. Außerdem sind sie beide glühende Gaullisten; – was dann die Hautfarbe vergessen lässt.

Auf dem fröhlichen Hochzeitsfest am Filmende tanzen dann alle zusammen. Die Botschaft ist: Mit ein bisschen gutem Willen geht es. Auch ohne dass sich jemand ändert. Das ist dann meilenweit von irgendwelchen aktuelleren Diskursen über das Zusammenleben von unterschiedlichen Kulturen entfernt, aber erschreckend nah an Diskursen von Rechtsextremen und Rassisten, die sich in ihrer Feindschaft gegen das Fremde verbünden und so ihre Vorurteile nicht hinterfragen müssen. „Monsieur Claude und seine Töchter“ ist der Film für das konservative Bürgertum und die Front-National-Wähler.

Denn der Humor transportiert eine erschreckend reaktionäre Botschaft. Die Zuschauer vergewissern sich nämlich während des gesamten Films ihrer Vorurteile. Der Film bestätigt sie und sie gehen mit dem Wissen, dass sie sich nicht ändern müssen, aus dem wortlastigem Film. Dass das ganze dann noch gut gespielt ist, macht die Klischees, die hier immer und immer wieder bestätigt werden, und die daraus resultierende Botschaft noch ungenehmer.

Dabei kann die Idee, innerhalb der Filmgeschichte auf eine moralische Instanz zu verzichten und diese komplett auszulagern an die Inszenierung und das Publikum, das zum Nachdenken angeregt werden soll, funktionieren.

In „Monsieur Claude und seine Töchter“ funktioniert sie nicht. Es wird noch nicht einmal versucht.

Monsieur Claude und seine Töchter - Plakat

Monsieur Claude und seine Töchter (Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?, Frankreich 2014)

Regie: Philippe de Chauveron

Drehbuch: Philippe de Chauveron, Guy Laurent

mit Christian Clavier, Chantal Lauby, Ary Abittan, Medi Sadoun, Frédéric Chau, Noom Diawara, Frédérique Bel, Julia Piaton, Emilie Caen, Elodie Fontan, Pascal Nzonzi, Salimata Kamate, Tatiana Rojo

Länge: 97 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Monsieur Claude und seine Töchter“

Moviepilot über „Monsieur Claude und seine Töchter“

AlloCine über „Monsieur Claude und seine Töchter“

Rotten Tomatoes über „Monsieur Claude und seine Töchter“

Wikipedia über „Monsieur Claude und seine Töchter“ 


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