Neu im Kino/Filmkritik: „Hysteria“ – ein verbrannter Koran und verschwundene Filmaufnahmen

November 7, 2025

Zuerst findet ein arabischstämmiger Komparse am Drehort für einen Film über den ausländerfeindlichen Anschlag am 29. Mai 1993 in Solingen einen verbrannten Koran. Er ist entsetzt und wirft dem Regisseur gotteslästerliches Verhalten vor.

Kurz darauf verschwinden die auf analogem Film aufgenommenen Aufnahmen von dem Drehtag. Die Praktikantin Elif sollte sie in der Wohnung des Regisseurs Yigit deponieren. Von dort sind sie verschwunden – und weil Elif zum fraglichen Zeitpunkt den Wohnungsschlüssel verloren hatte, ist die Zahl der Verdächtigen potentiell unüberschaubar.

Mehmet Akif Büyükatalay zeigt in seinem zweiten Spielfilm „Hysteria“ wie aus minimalen Anlässen – Missverständnissen und kleinen Lügen – mehr oder weniger existenzbedrohende Katastrophen entstehen können. Das erinnert strukturell an die ungleich gelungeneren Filme von Ruben Östlund, wie „Höhere Gewalt“, „The Square“ und, mit Einschränkungen, „Triangle of Sadness“.

Bei Büyükatalay wirken die Prämisse, die Figuren und die daraus entstehende Geschichte allerdings immer etwas zu ausgedacht und sich zu sehr auf das Schweigen von Figuren verlassend. So wirft das beständige Schweigen von Yigit zu seinem die Gefühle von Gläubigen missachtendem Umgang mit ihrem zentralen Buch Fragen auf, die nicht beantwortet werden. Auch Elifs Verhalten nach dem Drehtag und ihr betont laxer Umgang mit den Tagesaufnahmen, dem wichtigsten Material bei einem Film, wirkt unglaubwürdig. Der Koran und die Aufnahmen sind nicht mehr als MacGuffins für ein Planspiel über…kulturelle Missverständnisse, gewürzt mit einer ordentlichen Paranoia. Denn Elif verrät der Person, die den verschwundenen Schlüssel gefunden hat, die zu dem Schlüssel passende Adresse. Unmittelbar danach fragt sie sich, ob jetzt nicht ein Bösewicht, über den sie nichts weiß, ungehindert in die Wohnung eindringen kann.

In diesen Minuten erzeugt er ein Gefühl von Angst und er legt genug Spuren aus, um fast alle verdächtig erscheinen zu lassen.

Am Ende präsentiert er dann eine Lösung, die die vorherige Geschichte ignoriert. Es ist unklar, ob Büyükatalay nicht wusste, wie die Geschichte enden soll oder ob er Angst vor der ultimativen Eskalation hatte.

Hysteria“ regt weniger zum Nachdenken an und sorgt für weniger Unwohlsein als die Filme von Büyükatalays Vorbildern. So dient, neben dem schon erwähnten Östlund, Michael Hanekes „Die Drehbücher“ als Türstopper in Yigits Wohnung.

Hysteria (Deutschland 2025)

Regie: Mehmet Akif Büyükatalay

Drehbuch: Mehmet Akif Büyükatalay

mit Devrim Lingnau, Mehdi Meskar, Serkan Kaya, Nicolette Krebitz, Aziz Capkurt, Nazmi Kirik

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Filmportal über „Hysteria“

Moviepilot über „Hysteria“

Rotten Tomatoes über „Hysteria“

Wikipedia über „Hysteria“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Hysteria“


Neu im Kino/Filmkritik: „Stille Post“ aus Cizre nach Berlin

Dezember 15, 2022

Der in Berlin lebende Grundschullehrer Khalil glaubt, auf einem Video seine Schwester Selem zu erkennen. Bis dahin glaubte der Kurde, sie sei vor Jahren erschossen worden. Das Video ist aus der in dem Moment von der restlichen Welt abgeschlossenen südostanatolischen Stadt Cizre. Das türkische Militär hat auf der Jagd nach PKK-Terroristen die Stadt eingekesselt und den Ausnahmezustand verhängt.

Khalil will Selem aus Cizre retten. Helfen könnte ihm der PKK-Mann Hamid. Er hat Kontakt zu den in Cizre lebenden Kurden, die gegen das türkische Militär kämpfen. Hamid knüpft an seine Hilfe eine Bedingung: Khalil, der sich bislang nicht für kurdische Interessen einsetzte, soll die in Cizre von kurdischen Kämpfern aufgenommenen Bilder in die TV-Nachrichten bringen und so das türkische Militär und die türkische Regierung anklagen.

Khalil soll dafür seine Freundin, eine bei einem TV-Sender arbeitende Journalistin, benutzen.

Stille Post“ ist Florian Hoffmanns Abschlussfilm an der dffb. Auf die Geschichte kam er, weil der in Berlin geborene Regisseur türkische und kurdische Freunde hat. 2015 diskutierten und zerstritten sie sich über die Ereignisse in Cizre und wie sie zu verstehen seien. Mit Menschenrechtsaktivisten reiste Hoffmann nach Cizre, um einen Dokumentarfilm über das Leben der Menschen in Cizre zu drehen. Der Film entstand nicht. Er erkannte, dass er mit einem Dokumentarfilm, in dem die Gesichter seiner Gesprächspartner zu sehen wären, deren Leben gefährden würde.

Also erfand er die Geschichte von Khalil, die einen guten Einblick in das migrantische Leben und die Konflikte innerhalb der türkischen und kurdischen Community bietet.

Diese gelungenen Szenen werden konterkariert durch die immer wieder stark knirschende Geschichte. So ist es, zum Beispiel, für die Geschichte sehr wichtig, aber unglaubwürdig, dass Hamid und die PKK nur über Khalil an die Medien herantreten können.

Das von Florian Hoffmann gezeichnete Bild der Medien ist ein Zerrbild. Es ist die Sicht eines Aktivisten, der bestimmte politische Ziele erreichen will und enttäuscht ist, wenn das nicht so funktioniert, wie er es gerne hätte. Aus dieser Perspektive sollen die Medien einfach ungeprüft die in Cizre (oder einem anderem Kampfgebiet) aufgenommenen Videos ausstrahlen und so eine bestimmte Stimmung verbreiten. Die Medien sollen sie aber nicht überprüfen und auch nicht hinterfragen.

Jetzt sind die oft verwackelten Videos, die damals von Videoaktivisten aufgenommen wurden, in „Stille Post“ zu sehen. Im Film bilden sie ein Gegengewicht zu den Bildern aus Berlin.

Stille Post (Deutschland 2021)

Regie: Florian Hoffmann

Drehbuch: Florian Hoffmann

mit Hadi Khanjanpour, Kristin Suckow, Zübeyde Bulut, Aziz Çapkurt, Vedat Erincin, Jeanette Hain, Ferhat Keskin, Jacob Matschenz

Länge: 95 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Stille Post“

Moviepilot über „Stille Post“

Wikipedia über „Stille Post“