3sat zeigt die Eröffnung der 75. Berlinale, davor und danach einen Berlin-Film (um 20.15 Uhr als TV-Premiere, „Black Box“ und um 22.55 Uhr „Rammbock“) und begibt sich um 23.55 Uhr für eine halbe Stunde ins Berlinale-Studio.
RBB steigt um 20.15 Uhr mit dem Berlinale-Studio ein, zeigt um 20.30 Uhr die 45-minütige Doku „Im Reich der Filme – Die Berlinale und ihre Geschichte“, begibt sich dann wieder ins Berlinale-Studio, um 22.00 Uhr läuft Tom Tykwers „Lola rennt“ (und kurz darauf im Kino sein neuer Spielfilm „Das Licht“) und um 23.15 Uhr wird über die Berlinale-Eröffnungsgala berichtet.
Die Adamant ist ein Schiff. Es liegt in Paris in der Nähe des Bahnhof Gare de Lyon am rechten Seine-Ufer am Quai de la Rapée und bewegt sich nicht. Denn die Adamant ist seit 2010 eine Tagesklinik für Menschen mit psychischen Störungen. Sie verbringen dort ihre Tage mit verschiedenen Aktivitäten. Sie werden in ihrem Alltag unterstützt. Ihr Leben erhält eine Struktur und sie sollen wieder am normalen Leben teilnehmen können. Bis dahin ist die Adamant für sie ein geschützer, Sicherheit bietender Raum.
Nicolas Philibert beobachtet sie in seinem neuen Film „Auf der Adamant“. Die Dreharbeiten fanden, bis auf wenige Tage Anfang 2022, in mehreren Etappen von Mai bis November 2021 statt. Seine Premiere hatte der Dokumentarfilm im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale. Er wurde von der Jury mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Bären, ausgezeichnet.
Die Kritiker erklärten sich diese Entscheidung mit der Qualität der anderen Wettbewerbsfilme. Trotzdem war es eine schon damals umstrittene Entscheidung. Denn, kurz gesagt, ist ein Dokumentarfilm kein Spielfilm. Und dann ist „Auf der Adamant“ eine beobachtende Dokumentation. Es wird also auf einen Sprecher verzichtet. Es gibt keine Experten die Hintergrundinformationen über das Projekt vermitteln. Es gibt in diesem Film auch keine Gespräche mit dem großen Betreuungsteam der Adamant. Sie hätten etwas über ihre Arbeit als Therapeut oder Pfleger und ihren Umgang mit den Patienten erzählen können. Diese Perspektive interessiert Philibert nicht. Er konzentriert sich ausschließlich auf die Patienten und was sie ihm während seiner Besuche auf der Adamant über sich erzählen. Aber viel erfahren wir nicht über sie.
„Auf der Adamant“ zeigt über gut zwei Stunden nur einige Menschen, die an einem bestimmten Ort etwas tun und die dabei von der Kamera beobachtet werden. Dieses stumme Beobachten kann zu Erkenntnissen führen. Aber alle Erkenntnisse beschränken sich auf das, was sichtbar ist und worüber die Beobachteten sprechen. Oder, anders gesagt, es ist, als ob man ein Spiel beobachtet und versucht die Regeln des Spiels allein durch Zuschauen zu begreifen. Das funktioniert schon bei Fussball nicht.
Hier beschränkt sich die Erkenntnis darauf, dass die „Verrückten“ gar nicht so verrückt sind. Das liegt teils an den Medikamenten, die sie nehmen. Teils liegt es am Umfeld. Denn die Adamant ist, wie gesagt, ein geschützter Raum. Das liegt auch daran, dass auf der Adamant alle normale Alltagskleidung tragen und damit auf den ersten Blick unklar ist, wer hier zum Personal und wer zur Kundschaft gehört.
Für seinen Film hat Philibert seine über mehrere Monate gemachten Beobachtungen dann so kondensiert, dass der Eindruck entsteht, dass hier eine Woche auf der Adamant geschildert wird. Eine Dramaturgie ist nicht erkennbar. Es reihen sich einfach nur Bilder und folgenlose Begegnungen und Gespräche mit dem Regisseur aneinander. Es wird getanzt, gelacht, gesungen und gegessen. Ein Filmclub präsentiert filmgeschichtlich wichtige Filme, wie Federico Fellinis „Achteinhalb“. Konflikte scheint es nicht zu geben. Dabei ist Philiberts Blick immer vorurteilsfrei und von Sympathie und Interesse getragen. Er be- und verurteilt sie nicht. Aber er fragt auch nicht nach.
Das hat, wie ich aus Gesprächen über den Film erfuhr, einigen schon gereicht. Die meisten Kritiken sind euphorisch. Für mich – ich verbrachte meinen Zivildienst in einer Tagesstätte für Schwerstmehrfachbehinderte – war das zu wenig.
Ich hätte gerne mehr über das Konzept der Einrichtung (die auf den ersten Blick hiesigen Tagesstätten ähnelt), die Finanzierung und wie viele es davon in Frankreich gibt erfahren. Also ob die Adamant als Einrichtung einzigartig ist (der Ort ist sekundär) oder ob in dem Film einfach nur ein inzwischen normales Konzept an einem besonderem Ort gezeigt wird. Mich hätte auch interessiert, wie die Tagesklinik in das Stadtviertel eingebunden ist.
Das wäre, zugegeben, ein anderer Film. Es wäre auch ein infomativerer Film. So hat mich „Auf der Adamant“, in dem ohne jeden Kontext einige psychisch erkrankte Menschen an einem Wohlfühlort gezeigt werden, schnell zu Tode gelangweilt.
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Und jetzt etwas copy&paste aus dem Presseheft. Dort steht über die Adamant:
Sie ist ein „Tageszentrum“ und gehört zum Zentralen Psychiatrischen Verbund der Paris-Gruppe, zu der auch zwei CMPs (Centres Médicaux Psychologiques – Psychologische Medizinische Zentren), ein mobiles Team und zwei Abteilungen des psychiatrischen Krankenhauses Esquirol, das wiederum dem Krankenhauskomplex Saint-Maurice angegliedert ist, angehören.
Es handelt sich also nicht um einen isolierten Ort, denn die miteinander verknüpften Einheiten, aus denen die Gruppe besteht, bilden ein Netzwerk, in dem Patient*innen und Betreuer*innen ständig in Bewegung sind und mittels der verschiedenen Angebote eine für sie passende Lösung finden können.
Die Adamant ist ein schwimmendes Holzgebäude mit einer Fläche von 650 qm und großen Fenstern, die sich zur Seine hin öffnen. Für den Entwurf arbeiteten die Architekten eng mit den Betreuer*innen und den Patient*innen der Einrichtung zusammen. Im Juli 2010 wurde sie eröffnet.
Da die öffentliche psychiatrische Versorgung in Frankreich in Sektoren unterteilt ist, ist die Adamant, wie auch die anderen Aufnahmezentren der Pariser Zentralgruppe, für Patient*innen aus den ersten vier Arrondissements der Hauptstadt vorgesehen.
Manche Patient*innen kommen jeden Tag, andere nur ab und zu, in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen. Sie kommen aus allen Altersgruppen und aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten. Der Tag beginnt mit einem Frühstück für alle Anwesenden. Am Montag findet ein wöchentliches Treffen statt, bei dem Betreuer*innen und Patient*innen zusammenkommen. Jede*r kann Punkte auf die Tagesordnung setzen, die er oder sie besprochen haben möchte, Neuigkeiten werden ausgetauscht, Projekte geplant: ein Theaterbesuch, der bevorstehende Besuch eines Gastes, ein Waldspaziergang, ein Konzert, eine Ausstellung…
Das Betreuungsteam besteht aus Krankenpfleger*innen, Psycholog*innen, Ergotherapeut*innen, einem Psychiater, einem Sekretariat, zwei Krankenhausmitarbeiter*innen und verschiedenen externen Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichem Hintergrund. Die Aufgaben des täglichen Lebens werden kontinuierlich begleitet. Alle, sowohl die Patient*innen als auch die Betreuer*innen, sind eingeladen, daran mitzuhelfen, es „gemeinsam zu schaffen“.
Die therapeutische Funktion der Einrichtung betrifft die Gruppe als Ganzes. Jede*r kann sich einbringen, unabhängig von Status, Ausbildung, Platz in der Hierarchie, Persönlichkeit oder Lebensstil. Es wird hier niemanden vor den Kopf stoßen, wenn eine Patientin der Person, die an diesem Tag die Bar leitet – sei es eine Betreuerin, eine Krankenschwester, ein „einfacher“ Praktikant oder ein anderer Patient -, wichtige Dinge anvertraut und dem Psychiater bei der Konsultation am nächsten Tag nicht viel sagt, denn das Team wird einen Weg finden, die verstreuten Informationen miteinander zu verknüpfen.
Es gibt zahlreiche Workshops: Nähen, Musik, Lesen, die Herausgabe einer Zeitung, einen Filmclub, Schreiben, Zeichnen und Malen, Radio, Entspannung, Lederarbeiten, Marmeladenherstellung, kulturelle Ausflüge… Aber die Patient*innen können auch einfach nur kommen, um dort einen Moment zu verbringen, einen Kaffee zu trinken, sich willkommen und unterstützt zu fühlen und sich von der Atmosphäre des Ortes einfangen zu lassen. Die angebotenen Workshops erfüllen keinen Selbstzweck, sie sind vielmehr eine Einladung, sich nicht zu Hause einzuschließen, sondern sich wieder mit der Welt zu verbinden und die Beziehung zu ihr neu zu gestalten.
Das alles hätte ich gerne aus dem Film und nicht aus dem Presseheft erfahren.
Auf der Adamant(Sur l’Adamant, Frankreich/Japan 2022)
Regie: Nicolas Philibert, Linda De Zitter (Mitwirkung)
Berlinale 2023: Silberner Bär für Beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle: Sofía Otero
Der achtjährige Aitor möchte nicht mehr mit seinem Geburtsnamen angesprochen werden. Er bevorzugt Cocó und hat mädchenhaft lange Haare. Aber auch dieser Name gefällt ihm nicht so richtig. Als er mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern zu einem längeren Urlaub ins Baskenland zu ihrer Großmutter fährt, hat er einen Sommer lang Zeit, sich über seine Identität Gedanken zu machen.
Besonders gut kommt er dabei mit seiner Großmutter und, vor allem, seiner Tante, ihren Bienen und seinem Bruder aus. Seine verständnisvolle Mutter ist dagegen vor allem mit dem Erstellen einer Skulptur (die wir niemals sehen) für eine Bewerbung auf eine Arbeitsstelle, die ihr wohl nicht so wichtig ist, beschäftigt.
Estibaliz Urresola Solaguren erzählt in ihrem Spielfilmdebüt von Cocós Suche nach dem richtigen Namen für sich. Das erzählt sie äußerst feinfühlig, aber auch ohne nennenswerte Konflikte. Ihre Geschwister, ihre Mutter, ihr Vater (der nicht mitkommen konnte und erst am Ende bei einer Familienfeier wieder dabei ist) und ihre Großmutter akzeptieren und unterstützen Cocós Identitätssuche ohne größere Diskussionen.
Etwaige Probleme zwischen den einzelnen Familienmitgliedern werden nur gestreift, aber nie vertieft. Die Dorfbewohner, vor allem Cocós gleichaltrige Spielkameraden, sind nur eine Randnotiz. Figuren, wie Cocós ältere Schwester und ihre Mutter, verschwinden immer wieder über weite Strecken des Films. Cocós erste Begegnung mit den titelgebenden Bienen erfolgt erst ziemlich spät im Film und bleibt, von der Filmzeit, ein Nebenschauplatz.
Das macht „20.000 Arten von Bienen“ zu einem dieser ohne eine nennenswerte Spannungskurve vor sich hinplätschernden „ein Sommer auf dem Land bei den Großeltern“-Filmen, die es früher öfter aus Frankreich gab und natürlich immer auch ein Familienporträt sind.
Die neunjährige Sofía Otero, die Cocó spielt, ist die bislang jüngste Preisträgerin in der Geschichte der Berlinale.
20.000 Arten von Bienen (20.000 Especies de Abejas, Spanien/Frankreich 2023)
Regie: Estibaliz Urresola Solaguren
Drehbuch: Estibaliz Urresola Solaguren
mit Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain, Itziar Lazkano, Martxelo Rubio, Sara Cózar, Unax Hayden, Andere Garabieta, Miguel Garcés
Berlinale 2022: Silberner Bär für Beste Nebendarstellerin: Laura Basuki
Das hat jetzt, zwischen Berlinale-Premiere und Kinostart, einige Monate gedauert und ob sich das Warten in diesem Fall gelohnt hat, liegt im Auge des Betrachters. Wer nämlich so ein richtiges politisch gesättigtes Historiendrama mit einer oder mehreren Liebesgeschichten erwartet, wird enttäuscht sein. Die Filmgeschichte würde zwar für so einen Film taugen, aber „Before, Now & Then“ ist dieser Film nicht.
Kamila Andinis neuer Film spielt in Indonesien in den sechziger Jahren. Damals putschte General Suharto sich an die Macht. Nana lebt als Frau eines wohlhabenden Sudanesen auf einem anscheinend abgelegen gelegenem Landhaus ein, auf den ersten Blick, gutes Leben. Trotzdem lässt sie die Erinnerung an den gewaltsamen Tod ihres Vaters und an ihren ersten Mann, der vor Jahren verschleppt wurde,und nicht los. Eines Tages taucht er wieder auf.
Andini („Yuni“) macht aus dieser Geschichte ein Slow-Cinema-Werk, das ganz von seinen atmosphärischen, präzise komponierten Bildern, den langen statischen Einstellungen und der hypnotisierenden Minimal-Music von Ricky Lionardi lebt. Sie zeigt schöne Menschen, die in schöner Umgebung zu schöner Musik, fast nichts tun. Vieles wird nur zart angedeutet und bleibt offen für Interpretationen. So lädt der Film zum Entspannen, zum Meditieren und damit zum Abschweifen ein.
Die politischen Hintergründe, die damit verbundenen Konflikte, die Traditionen und herrschenden gesellschaftlichen Regeln, die im Hintergrund immer erahnbar sind, erschließen sich dagegen wahrscheinlich nur Einheimischen oder Menschen, die Indonesiens Nachkriegsgeschichte kennen. Für alle anderen bleiben, wie gesagt, die Bilder und die Musik.
Before, Now & Then (Nana, Indonesien 2022)
Regie: Kamila Andini
Drehbuch: Kamila Andini, Ahda Imran
mit Happy Salma, Rieke Diah Pitaloka, Laura Basuki, Chempa Puteri, Arswendy Bening Swara, Arawindi Kirana, Ibnu Jamil
Am Mittwoch wurde die diesjährige, für den 17. bis 20. März geplante Leipziger Buchmesse abgesagt. Zu viele Verlage wollten wegen der unklaren Entwicklung der Coronavirus-Pandemie nicht teilnehmen.
Heute, am Donnerstag, startet die diesjährige Berlinale als reine Präsenzveranstaltung, weil, nun, weil Filme ins Kino gehören und es, so hört man in den dunklen Gassen der Hauptstadt, um das Überleben des Festivals geht.
Das soll mit weniger Festivaltagen, weniger Filmen, weniger verfügbaren Sitzplätzen (jeder zweite Platz bleibt leer), Maskenpflicht auch am Sitzplatz, Tests (2G+, teilweise mehr), weniger internationalen Stars und dem Verzicht auf Partys und Empfänge funktionieren.
Das könnte wirklich zu einem sicheren Festival führen. Auch wenn sich so wohl kein richtiges Festivalgefühl einstellen wird.
Zum Abschluss noch einige Links (hier, hier, hier, hier, hier und hier) zu einigen Artikeln über das Festival, das Programm, den Umgang des Festivals mit Journalisten und deren Bedenken. Immerhin gehören sie zu den Menschen, die an den Festivaltagen fast nur im Kino sitzen müssen. Die Maske kann, zwischen den Filmen, zum Luftschnappen vor dem Kino und zum Schlafen abgesetzt werden.
Das gibt es schon einige Jahre und wer mit der Idee von Open-Air-Filmvorstellungen etwas anfangen kann (mir persönlich fehlt da ja der mücken- und regenfreie, dunkle, klimatisierte Kinosaal mit bequemen Sitzen), der sollte die Tage ins Freiluftkino Friedrichshain gehen, mit vielen Menschen auf Holzbänken sitzen, Bier trinken und einige Höhepunkte der diesjährigen Berlinale, natürlich in der Originalfassung (mit Untertiteln) ansehen. Mit anschließenden Filmgesprächen und Verlosungen.
Gezeigt werden:
Donnerstag, 24. Juli, 21.30 Uhr
Eröffnung Sommer Berlinale – Perspektive deutsches Kino ANDERSWO
Vorgestellt von Knut Elstermann (radioeins), Linda Söfka (Leiterin Perspektive Deutsches Kino) und der Regisseurin Ester Amrami.
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Freitag, 25. Juli, 21.30 Uhr THE WAY HE LOOKS
Der Leiter der Berlinale-Sektion Panorama Wieland Speck stellt den diesjährigen Teddy-Award-Gewinner und Publikumspreis-Zweiten vor.
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Samstag, 26. Juli, 21.30 Uhr FEUERWERK AM HELLLICHTEN TAG. (Black Coal, Thin Ice)
Anke Leweke stellt den diesjährigen Gewinner des Golden Bären vor.
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Sonntag, 27. Juli, 21.30 Uhr DIE ENTFÜHRUNG DES MICHEL HOUELLEBECQ
Vorgestellt vom Leiter der Sektion Forum Christoph Terhechte.
Anscheinend ist das die einzige Kopie des schrägen Films, der als „Französisches Original mit englischen Untertiteln“ gezeigt wird.
Ein Mann überfährt ein Kind. Ein dummer Unfall. Seine Mutter will ihm helfen. Sie redet mit der Polizei. Lässt ihre Beziehungen spielen. So weit, so normal und allgemeingültig. Aber Calin Peter Netzer zeichnet, eher im Hintergrund, ein Bild der rumänischen Gesellschaft und einer problematischen Mutter-Sohn-Beziehung. Denn die Mutter Cornelia ist eine angesehene Architektin für die Oberschicht Bukarests, geschieden, gerade sechzig geworden und enttäuscht darüber, dass ihr Sohn sich seit zwei Monaten nicht mehr bei ihr gemeldet hat. Seine Freundin gefällt ihr auch nicht. Sie kann einfach nicht akzeptieren, dass ihr inzwischen 35-jähriger Sohn Barbu ein eigenes Leben führen will. Ungefragt und sehr dominant mischt sie sich in die polizeiliche Aufarbeitung des Unfalls und versucht alles, um ein Verfahren gegen ihren selbstverständlich unschuldigen Sohnes abzuwenden. Dafür lässt sie, noch bevor sie mit ihm über den Unfall redet, ihre Beziehungen und Bakschisch spielen.
Viel erschreckender als die alltägliche Korruption, wenn sie um ihr Ziel zu erreichen, zum Beispiel, den ermittelnden Polizisten zusichert, sich um die Probleme bei einer Baugenehmigung zu kümmern oder sie sich mit einem Zeugen trifft und ohne mit der Wimper zu zucken, auf dessen finanziellen Forderungen eingeht, ist die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn, dem sie, mit den allerbesten Absichten, jede Möglichkeit, sich irgendwie selbst zu entfalten, nimmt. Diesen schmalen Grad zwischen normaler mütterlicher Fürsorge (und Sorge der Eltern um ihre Kinder) und übertriebener Fürsorge zeichnet Netzer bis zum Ende ambivalent. Meistens sind ihre Handlungen sowohl in die eine, als auch in die andere Richtung interpretierbar. Selten wird er dabei so deutlich, wie in der Szene, in der sie ihrem Sohn den verspannten Rücken einreibt und es schnell wie eine Vergewaltigung wirkt. Eine Vergewaltigung, bei der das Opfer nichts sagt und die vieles über die Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Sohn verrät. Denn sie steht im Zentrum des Films. Er ist als Täter nur eine weitgehend passive Nebenfigur.
Gedreht wurde der Film, in langen, oft ungeschnittenen Szenen, mit einer pseudokumentarischen Handkamera, die spontan wirken soll, aber doch hochgradig inszeniert ist. Wie die Dialoge, die sich wie alltägliche Gespräche anhören sollen, aber in ihrer Zuspitzung immer auf das ausgefeilte Drehbuch verweisen. Denn auch hier bieten Netzer und sein Co-Autor Razvan Radulescu immer mindestens zwei sich widersprechende Interpretationsmöglichkeiten an, immer werden Machtverhältnisse und Abhängigkeiten thematisiert und jede Handlung, vor allem von der Mutter, aber auch von fast allen anderen Charakteren, erscheint letztendlich egoistisch.
Dieser schonungslose Blick auf seine Charaktere ähnelt dem ähnlich kalt-analytischem Blick von Michael Haneke, der allerdings zugunsten einer ausgefeilten Bilddramaturgie auf die nervig-trendige Handkamera verzichtet. Und wie Hanekes Filme einen nach dem Kinobesuch noch weiter beschäftigen, lädt auch Netzers Film – je nach Alter – zum Nachdenken über die eigene Beziehung zu seinen Eltern und Kindern an.
„Mutter & Sohn“, der den diesjährigen Goldenen Bär auf der Berlinale gewann, ist kein schöner Blick auf die Conditio Humana und ein illusionsloser Blick in die korrupte rumänische Gesellschaft. Denn „Mutter und Sohn“ kann auch als eine kaum verhüllte Metapher für Rumänien und den ehemaligen Ostblock gesehen werden.
Mutter & Sohn (Pozitia Copilului/Child’s Pose, Rumänien 2013)