Neu im Kino/Filmkritik: „Miller’s Girl“ macht den Lehrer zum Idioten

März 14, 2024

Was für ein Idiot denkt der geneigte Zuschauer. Denn auch wenn Jonathan Miller (Martin Freeman), verheirateter Lehrer an einer Schule im ländlichen Tennessee, als verkopfter Literaturprofessor keine Filme kennen würde und er nur „Lolita“ als Studie über die verhängnisvolle Beziehung eines älteren Mannes zu einer deutliche jüngeren Frau gelesen hätte, wüsste er, in welchem politischen Klima er in den heutigen USA unterrichtet und welche Dienstanweisungen er unterschrieben hat. Und da steht drin: keine Beziehung zu Schülern. Kein Kontakt zu ihnen außerhalb der Schule. Und sich mit ihnen unter keinen Umständen an einem Ort treffen, an dem es keine Zeugen gibt. Wenn also seine überaus begabte Schülerin Cairo Sweet (Jenny Ortega), die allein in der riesigen Villa ihrer sich ständig auf Reisen befindenden Eltern lebt, ihre Reize spielen lässt, dann gibt es für einen Lehrer nur eine Handlungsoption: Weg! Auf dem schnellsten und kürzesten Weg.

Weil das für einen Film natürlich keine Option ist – dann wäre „Miller’s Girl“ noch vor dem Vorspann um -, beginnen sie eine Beziehung, die letztendlich für ihn problematischer als für sie ist. Mehr soll hier nicht verraten werden; wobei die größte Überraschung in Jade Halley Bartletts Regiedebüt ist, dass ihr Erotik-Thriller harmloser und züchtiger als andere Erotik-Thriller, vor allem natürlich die Erotik-Thriller der neunziger Jahre, ist.

In „Miller’s Girl“ gibt es Anspielungen, die zeigen, dass Drehbuchautorin und Regisseurin Bartlett das Subgenre des Erotik-Thrillers kennt und sie es in raren Momenten auch parodiert. Wegen der zahlreichen Anspielungen und Zitate, die leicht zu entschlüsseln sind, ist „Miller’s Girl“ ein Meta-Erotik-Thriller, der als Versuchsanordnung zum Verhältnis zwischen Literatur und realem Leben gelesen werden kann. In dieser Versuchsanordnung ist auch unklar, wer hier wen warum verführt. Ein guter Thriller ist es nicht. Dafür ist alles zu spannungsfrei, zu künstlich und, letztendlich, zu unglaubwürdig.

Das liegt auch an Szenen von atemberaubender Dümmlichkeit. So ist Miller einverstanden, dass Cairo eine Literaturarbeit im Stil von Henry Miller schreibt. Als sie ihr Henry-Miller-Stück abliefert, ist er entsetzt über den pornographischen Inhalt des Textes. In dem Moment fragte ich mich, was er denn erwartet hat. Eine züchtige, jugendfreie, keine anstößigen Inhalte enthaltende Version einer Henry-Miller-Geschichte?

Und das beschreibt „Miller’s Girl“ ziemlich treffend: ein mit Jenny Ortega und Martin Freeman in den Hauptrollen prominent besetzter, von seiner intellektuellen Brillanz überzeugter Meta-Erotik-Thriller ohne Erotik und Thrill, mit etwas Südstaaten-Schwüle.

Miller’s Girl (Miller’s Girl, USA 2024)

Regie: Jade Halley Bartlett

Drehbuch: Jade Halley Bartlett

mit Martin Freeman, Jenna Ortega, Bashir Salahuddin, Gideon Adlon, Dagmara Dominczyk, Christine Adams, Augustine Hargrave, Elyssa Samsel

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Miller’s Girl“

Metacritic über „Miller’s Girl“

Rotten Tomatoes über „Miller’s Girl“

Wikipedia über „Miller’s Girl“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Sofia Coppola, „Priscilla“ und Elvis Presley

Januar 4, 2024

1959 trifft Priscilla Beaulieu in Deutschland auf einer US-Militärbasis Elvis Presley. Der 24-jährige Weltstar musste für seinen zweijährigen Militärdienst seine gut laufende Karriere als Musiker unterbrechen. Sie ist vierzehn Jahre und, wie viele Teenager, über beide Ohren verliebt in den Rockmusiker. Vor allem nachdem der an Einsamkeit und Heimweh leidende, feinfühlige und sehr höfliche Musiker sich für sie interessiert.

Ihre Eltern sind zunächst skeptisch, aber nachdem Elvis ihnen verspricht, auf Priscilla aufzupassen, darf sie ihn abends begleiten. Nach dem Ende seines Militärdienstes halten sie weiter Kontakt. 1963 zieht die siebzehnjährige Schülerin, mit dem Einverständnis ihrer Eltern, zu Elvis nach Graceland. Elvis hat ihnen versprochen, Priscilla zu heiraten, sobald sie volljährig ist. 1967 heiraten sie. Ihre 2023 verstorbene Tochter Lisa Marie Presley kommt neun Monate nach der Hochzeitsnacht auf die Welt. 1972 trennen Elvis und Priscilla Presley sich. Ein Jahr später erfolgt die Scheidung.

Das sind die historisch verbürgten, allgemein bekannten Eckpunkte, die auch den Rahmen für Sofia Coppolas neuen Film „Priscilla“ liefern. Und die sie zu einer weiteren Studie in Ennui benutzt.

Elvis hängt zwar manchmal zwischen Konzerten und Filmdrehs mit seinen Freunden in Graceland ab, aber in Coppolas Film ist er nur eine Nebenfigur. Im Zentrum steht Priscilla, die sich in Graceland langweilt, alleine ist und melancholisch aus dem Fenster starrt. Sie ist eine Quasi-Gefangene. Sie macht Hausaufgaben, während unten gefeiert wird. Sie erträgt in ihren Privatgemächern die wechselnden Launen von Elvis. Mal ist er herrisch, mal liebevoll, mal wissbegierig.

Dazu präsentiert Coppola Rocksongs, die zu Priscillas Gefühlen passen. Auch wenn die Songs erst später veröffentlicht wurden. Einige Cover-Versionen von Elvis-Presley-Songs sind auch dabei. Diesen freimütigen Umgang mit der Musik praktizierte sie erstmals in ihrem Biopic „Marie Antoinette“. In dem im 18. Jahrhundert in Versailles spielendem Historiendrama kommentieren moderne, teils bekannte Rocksongs die Handlung. Das funktioniert überraschend gut und wurde seitdem von anderen Regisseuren kopiert. Zum Beispiel zuletzt von Frauke Finsterwalder in ihrem Kaiserin-Sisi-Film „Sisi & Ich“.

In „Priscilla“ wurde ihr dieser Schritt von den Rechteinhabern der Elvis-Presley-Songs aufgezwungen. Sie verweigerten ihr die Benutzung und zwangen sie zu der jetzt zu hörenden Musikauswahl. Ihr Mann Thomas Mars und seine Indie-Rockband Phoenix waren für die Songauswahl und Teile der Filmmusik verantwortlich.

Auch sonst bewegt Sofia Coppola sich in „Priscilla“ mit vertrauten Stilmitteln auf vertrautem Terrain. Wieder, wie vor allem in „Lost in Translation“, „Somewhere“ und, mit Einschränkungen, „Die Verführten“ (The Beguiled), vermittelt sie überzeugend das Gefühl, das ihre Protagonistin in einem ereignislosen Warte- und Schwebezustand sind. Priscilla lernt Elvis als Kind kennen und verlässt ihn vierzehn Jahre später als Frau, die die Welt außerhalb ihres goldenen Käfigs nicht kennt. Dazwischen wartet sie auf ihren ständig abwesenden Mann.

Coppola inszeniert diese Ereignislosigkeit sehr gut, aber auch mit einem Hang zur gepflegten Langeweile. Die farbentsättigten Bilder gefallen, die Ausstattung ist stimmig, die Schauspieler sind gut, die Musik ist wohlig vertraut, die Story plätschert vor sich hin. Wenn Priscilla am Filmende Elvis und Graceland verlässt, passiert das weniger wegen eines bestimmten Ereignisses, sondern weil Elvis‘ Verhalten in dem Moment der berühmte letzte Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es ist der Moment, in dem sie sich sagt, dass der Rest ihres Lebens anders sein soll.

Wer dagegen mehr über Priscilla Presley oder Einzelheiten über ihre Beziehung erfahren möchte, muss andere Filme und Bücher, wie Priscilla Presleys Biographie, auf der Coppolas Film lose basiert, studieren.

Priscilla (Priscilla, USA 2023)

Regie: Sofia Coppola

Drehbuch: Sofia Coppola

LV: Priscilla Presley: Elvis and Me, 1985 (Elvis und ich)

mit Cailee Spaeny, Jacob Elordi, Ari Cohen, Dagmara Domińczyk, Tim Post, Lynne Griffin

Länge: 113 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Priscilla“

Metacritic über „Priscilla“

Rotten Tomatoes über „Priscilla“

Wikipedia über „Priscilla“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Sofia Coppolas „The Bling Ring“ (The Bling Ring, USA 2013)