Nein, einen solchen Film hat Abbé Pierre nicht verdient.
Abbé Pierre, bürgerlich Henri Antoine Grouès (1912 – 2007), ist in Frankreich ein Nationalheiliger. Dreißig Jahre lang, bis er 2005 darum bat, nicht mehr in die Liste aufgenommen zu werden, führte er die Liste der beliebtesten Franzosen an. Er gründete die weltweit tätige Emmaus Stiftung. Sie bekämpft Armut und Obdachlosigkeit. Dabei folgt sie dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe.
Er stammt aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie. Mit zwanzig Jahren schließt er sich den Kapuzinern an. 1938 wird er zum Priester geweiht. Aus gesundheitlichen Gründen muss er das Ordensleben aufgeben. Im Zweiten Weltkrieg ist er Mitglied der Résistance und Fluchthelfer. Aus dieser Zeit stammt sein Pseudonym Abbé Pierre. Nach dem Krieg gründet er die Wohltätigkeitsorganisation Emmaus.
Zur nationalen und später weltweiten Berühmheit wird er im Winter 1953/54. Während einer Kältewelle erfrieren auf den Staßen von Paris viele Menschen elendig. Über Radio Luxemburg appelliert er an seine Landsleute. Der vom Herzen kommende, bewegende Aufruf löst eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Später wird, ausgehend von seiner Initiative, ein großes staatliches Wohnungsbauprogramm verabschiedet.
2007 stirbt er in Paris.
Das sind die biographischen Eckdaten, an denen Frédéric Tellier sich in seinem Biopic „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ entlanghangelt. Sein Film ist ein biederes, chronologisch erzähltes Biopic, das beim Abhandeln wichtiger Lebensstationen konsequent an der Oberfläche bleibt.
Die für Abbé Pierre prägenden Momente – seine Zeit bei dem Kapuzinerorden, seine Erlebnisse im Krieg in der Résistance, sein Kampf gegen Armut und Obdachlosigkeit nach dem Krieg und vor allem im Winter 1953/54 – werden in der ersten Hälfte des hundertvierzigminütigen Films durchaus spannend und konzentriert abgehandelt. Seine Kindheit und Jugend werden ignoriert.
Aber dann ist da noch die zweite Hälfte des hundertvierzigminütigen Films. Die letzten sechzig Minuten sind eine einzige Aneinanderreihung von Epilog-Szenen, die ihn mal hier, mal da zeigen. Fast jede dieser Szenen könnte problemlos aus dem Film geschnitten werden (Was bringt es uns, zu erfahren, dass er keine Ahnung von Popkultur hat?) oder der Abspann könnte nach ihr beginnen. Fast immer ist unklar, warum Tellier unbedingt diese Episode aus dem Leben von Abbé Pierre in seinem Biopic haben wollte. Exemplarisch sei hier auf einen Auftritt von Abbé Pierre 1992 in einer Talkshow verwiesen, in der er sich unter anderem wortgewaltig gegen Jean-Marie Le Pen äußert. Warum Tellier ausgerechnet diesen Auftritt auswählte, bleibt unklar.
Was Abbé Pierre, außer dem Kampf gegen Armut, angetrieben hat, ob und welche Gewissenskonflikte er hatte, wie sehr sein Glauben sein Leben beeinflusste, das wird nur auf der alleroberflächlichsten Ebene abgehandelt. Etwaige Konflikte in der Emmaus Stiftung werden in einer Szene abgehandelt. Abbé Pierre bleibt dabei durchgehend ein von starken Überzeugungen getriebener, rechtschaffener und wortgewaltiger Heiliger.
„Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ ist ein um eine Stunde zu lang geratenes 08/15-Biopic, das am Ende noch nicht einmal die Lektüre des Wikipedia-Artikels ersetzt. Er und sein Werk hätten einen besseren Film verdient gehabt.

Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre (L’Abbé Pierre: Une vie de combats, Frankreich 2023)
Regie: Frédéric Tellier
Drehbuch: Frédéric Tellier, Olivier Gorce
mit Benjamin Lavernhe, Emmanuelle Bercot, Michel Vuillermoz, Antoine Laurent, Alain Sachs, Chloé Stefani, Malik Amraoui
Länge: 138 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“
AlloCiné über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“
Rotten Tomatoes über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“
Wikipedia über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ (englisch, französisch) und Abbé Pierre (deutsch, englisch, französisch)
Veröffentlicht von AxelB 