Neu im Kino/Filmkritik: Über das Biopic „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“

Juli 5, 2024

Nein, einen solchen Film hat Abbé Pierre nicht verdient.

Abbé Pierre, bürgerlich Henri Antoine Grouès (1912 – 2007), ist in Frankreich ein Nationalheiliger. Dreißig Jahre lang, bis er 2005 darum bat, nicht mehr in die Liste aufgenommen zu werden, führte er die Liste der beliebtesten Franzosen an. Er gründete die weltweit tätige Emmaus Stiftung. Sie bekämpft Armut und Obdachlosigkeit. Dabei folgt sie dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe.

Er stammt aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie. Mit zwanzig Jahren schließt er sich den Kapuzinern an. 1938 wird er zum Priester geweiht. Aus gesundheitlichen Gründen muss er das Ordensleben aufgeben. Im Zweiten Weltkrieg ist er Mitglied der Résistance und Fluchthelfer. Aus dieser Zeit stammt sein Pseudonym Abbé Pierre. Nach dem Krieg gründet er die Wohltätigkeitsorganisation Emmaus.

Zur nationalen und später weltweiten Berühmheit wird er im Winter 1953/54. Während einer Kältewelle erfrieren auf den Staßen von Paris viele Menschen elendig. Über Radio Luxemburg appelliert er an seine Landsleute. Der vom Herzen kommende, bewegende Aufruf löst eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Später wird, ausgehend von seiner Initiative, ein großes staatliches Wohnungsbauprogramm verabschiedet.

2007 stirbt er in Paris.

Das sind die biographischen Eckdaten, an denen Frédéric Tellier sich in seinem Biopic „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ entlanghangelt. Sein Film ist ein biederes, chronologisch erzähltes Biopic, das beim Abhandeln wichtiger Lebensstationen konsequent an der Oberfläche bleibt.

Die für Abbé Pierre prägenden Momente – seine Zeit bei dem Kapuzinerorden, seine Erlebnisse im Krieg in der Résistance, sein Kampf gegen Armut und Obdachlosigkeit nach dem Krieg und vor allem im Winter 1953/54 – werden in der ersten Hälfte des hundertvierzigminütigen Films durchaus spannend und konzentriert abgehandelt. Seine Kindheit und Jugend werden ignoriert.

Aber dann ist da noch die zweite Hälfte des hundertvierzigminütigen Films. Die letzten sechzig Minuten sind eine einzige Aneinanderreihung von Epilog-Szenen, die ihn mal hier, mal da zeigen. Fast jede dieser Szenen könnte problemlos aus dem Film geschnitten werden (Was bringt es uns, zu erfahren, dass er keine Ahnung von Popkultur hat?) oder der Abspann könnte nach ihr beginnen. Fast immer ist unklar, warum Tellier unbedingt diese Episode aus dem Leben von Abbé Pierre in seinem Biopic haben wollte. Exemplarisch sei hier auf einen Auftritt von Abbé Pierre 1992 in einer Talkshow verwiesen, in der er sich unter anderem wortgewaltig gegen Jean-Marie Le Pen äußert. Warum Tellier ausgerechnet diesen Auftritt auswählte, bleibt unklar.

Was Abbé Pierre, außer dem Kampf gegen Armut, angetrieben hat, ob und welche Gewissenskonflikte er hatte, wie sehr sein Glauben sein Leben beeinflusste, das wird nur auf der alleroberflächlichsten Ebene abgehandelt. Etwaige Konflikte in der Emmaus Stiftung werden in einer Szene abgehandelt. Abbé Pierre bleibt dabei durchgehend ein von starken Überzeugungen getriebener, rechtschaffener und wortgewaltiger Heiliger.

Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ ist ein um eine Stunde zu lang geratenes 08/15-Biopic, das am Ende noch nicht einmal die Lektüre des Wikipedia-Artikels ersetzt. Er und sein Werk hätten einen besseren Film verdient gehabt.

Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre (L’Abbé Pierre: Une vie de combats, Frankreich 2023)

Regie: Frédéric Tellier

Drehbuch: Frédéric Tellier, Olivier Gorce

mit Benjamin Lavernhe, Emmanuelle Bercot, Michel Vuillermoz, Antoine Laurent, Alain Sachs, Chloé Stefani, Malik Amraoui

Länge: 138 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“

AlloCiné über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“

Rotten Tomatoes über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“

Wikipedia über „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ (englisch, französisch) und Abbé Pierre (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 18. März: Madame empfiehlt sich

März 17, 2020

Arte, 20.15

Madame empfiehlt sich (Elle s’en va, Frankreich 2013)

Regie: Emmanuelle Bercot

Drehbuch: Emmanuelle Bercot, Jérôme Tonnerre

Bettie (Catherine Deneuve), Besitzerin eines kurz vor der Schließung stehenden Restaurants, will an diesem Sonntag nur Zigaretten holen. Aber in der bretonischen Provinz sind alle Geschäfte geschlossen. Also fährt sie immer weiter. Auf der Suche nach…

Road-Movie, das auch und vor allem eine Liebeserklärung an Catherine Deneuve ist. Auch wenn das Lexikon des Internationalen Films mäkelt: „unentschlossene Mischung aus Komödie, Roadmovie und Selbstfindungsdrama.

mit Catherine Deneuve, Nemo Schiffman, Camille, Gérard Garouste, Claude Gensac, Paul Hamy, Mylène Demongeot, Hafsia Herzi

Wiederholung: Dienstag, 24. März, 13.45 Uhr

Hinweise

AlloCiné über „Madame empfiehlt sich“

Rotten Tomatoes über „Madame empfiehlt sich“

Wikipedia über „Madame empfiehlt sich“ (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 8. Januar: Mein Ein, mein Alles

Januar 8, 2019

3sat, 22.25

Mein Ein, mein Alles (Mon Roi, Frankreich 2015)

Regie: Maïwenn

Drehbuch: Maïwenn, Etienne Comar

Nach einem Skiunfall bilanziert Tony (Emmanuelle Bercot) in einer Reha-Klinik ihre jahrelange, äußerst stürmische Beziehung zu Georgio (Vincent Cassel).

TV-Premiere der feinfühligen Charakterstudie über eine extrem schwierige Beziehung.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Vincent Cassel, Emmanuelle Bercot, Louis Garrel, Isild Le Besco, Chrystèle Saint-Louis Augustin, Patrick Raynal

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Mein Ein, mein Alles“

Metacritic über „Mein Ein, mein Alles“

Rotten Tomatoes über „Mein Ein, mein Alles“

Wikipedia über „Mein Ein, mein Alles“ (englisch, französisch)

Meine Besprechung von Maïwenns „Mein Ein, mein Alle“s (Mon Roi, Frankreich 2015)


Neu im Kino/Filmkritik: „Mein Ein, mein Alles“, mein Geliebter

März 27, 2016

Tony (Emmanuelle Bercot) muss nach einem schweren Skiunfall in einer malerisch abgelegenen Reha-Klinik wieder Laufen lernen. Während dieser Heilungsprozess seine langsamen Fortschritte macht, erinnert sie sich an ihre ebenso stürmische, wie turbulente jahrelange Beziehung zu Georgio (Vincent Cassel). Die unfallbedingte Ruhepause verschafft ihr die Zeit, eine Bilanz ihres bisherigen Lebens zu ziehen und die sieht in dieser Beziehung nicht besonders gut aus.

Die gut situierte Anwältin lernte Georgio vor zehn Jahren in einer Bar kennen und war von dem extrovertierten Dandy und Frauenschwarm fasziniert. Vor allem, weil der Restaurantbesitzer sich auch für sie interessiert. Und dann überzeugt der notorisch ungebundene Lebemann und Nachtmensch nicht nur im Bett, sondern auch mit seinen Fähigkeiten als Hausmann in der Küche.

Dummerweise sind, wie Tony sich in der Reha bewusst wird, genau die Dinge, wegen denen sie sich in Georgio verliebte, auch die Dinge, die eben auch gegen eine harmonische Beziehung sprechen. Vor allem, wie sie es gerne hätte, eine langfristig bürgerliche, harmonische Beziehung mit Haus und Kind.

Maïwenn (zuletzt „Poliezei“) inszenierte ihre feinfühlige, niemand verurteilenden Charakterstudie immer nah an dem Liebespaar und ihrer ebenso turbulenten, wie auch von Anfang an problematischen Beziehung, in der jeder in dem Anderen etwas sieht, was er nicht hat und genau deshalb begehrt. Allerdings, und das merkt Tony im Lauf der Jahre und auch als Mutter des von Georgio sehnlich gewünschten Kindes, kann und will sich keiner von beiden wirklich verändern. Immer wieder verfallen sie in ihr altes Verhalten. Immer wieder begeht vor allem sie die gleichen Fehler, was dem Film, auch wegen der gewählten Struktur, etwas zirkuläres verschafft.

Schnell muss man sich als Zuschauer entscheiden, wie sehr man mit Tony mitgeht. Denn dass Georgio nicht der häusliche Traumprinz ist und auch niemals sein wird, ist schon bei ihrer ersten Begegnung offensichtlich. Auch wenn sie es anders sieht und nicht auf gutgemeinte Ratschläge hören will.

Mein Ein Mein Alles - Plakat

Mein Ein, mein Alles (Mon Roi, Frankreich 2015)

Regie: Maïwenn

Drehbuch: Maïwenn, Etienne Comar

mit Vincent Cassel, Emmanuelle Bercot, Louis Garrel, Isild Le Besco, Chrystèle Saint-Louis Augustin, Patrick Raynal

Länge: 126 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Mein Ein, mein Alles“

Metacritic über „Mein Ein, mein Alles“

Rotten Tomatoes über „Mein Ein, mein Alles“

Wikipedia über „Mein Ein, mein Alles“ (englisch, französisch)