Neu im Kino/Filmkritik: Über Gaspar Noés „Vortex“

April 29, 2022

Beginnen wir mit der Wohnung in der das ältere Ehepaar anscheinend schon seit Jahrzehnten lebt und die das Flair einer seit den sechziger Jahren nicht mehr renovierten Wohnung ausstrahlt. Sie ist groß, aber auch zu klein. Viel zu klein. Sie ist vollgestopft mit Büchern und Erinnerungen an ihr gemeinsames und berufliches Leben. Das sind unter anderem Videocassetten, Plakate und Requisiten (vulgo Staubfänger) von Filmen. Und viele Büchern. Also wirklich immens viele Bücher, die auch noch alle aussehen, als seine sie mehrmals gelesen worden. Sogar auf dem Klo stapeln die Bücher sich ohne eine erkennbare Ordnung. Das habe ich bei mir noch nicht geschafft.

Bewohnt wird diese bewohnbare Bücherkammer von zwei Menschen, die im Film nur Sie/Mutter und Er/Vater heißen. Sie wird gespielt von Françoise Lebrun. Bekannt wurde sie 1973 mit Jean Eustaches „Die Mama und die Hure“. Zu ihren jüngeren Filmen gehören „Schmetterling und Taucherglocke“, „Séraphine“, „Julie & Julia“, „Die Nonne“, „Die Entführung des Michel Houellebecq“ und „Porto“.

Er wird gespielt von Dario Argento in seiner ersten Hauptrolle. In seinen Filmen hatte er ab und an Cameos, einmal sah man seine Hände und er war auch öfters in der Originalfassung der Erzähler. Zu seinen Filmen gehören die Giallos „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ (sein Regiedebüt), „Rosso – Die Farbe des Todes“ (Profondo Rosso), „Suspiria“, „Tenebre“ und „Terror in der Oper“ (Opera). Er war auch am Drehbuch von „Spiel mir das Lied vom Tod“ beteiligt und er erstellte den legendären Europa-Cut von George A. Romeros „Zombie“ (Dawn of the Dead). Davor war er Filmkritiker. Diesen Beruf übte er jetzt auch in „Vortex“ aus. Seine Frau war Psychoanalytikerin. Jetzt hat sie Alzheimer in einem fortgeschrittenem Stadium. Sie vergisst immer mehr Sachen. Damit ist auch klar, in welche Richtung sich der Film, der mit einem glücklichen Moment zwischen beiden beginnt, bewegen wird und wie er endet. Denn beide sind immer weniger im Besitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte.

Aber wie Gaspar Noé diese sich im Lebenstempo alter Menschen entfaltende Geschichte erzählt, ist dann doch ungewöhnlich. Gedreht wurde ohne ein Drehbuch. Es gab nur eine ungefähr fünfzehnseitige Skizze. Sie war die Basis für die Improvisationen von Lebrun, Argento, ihrem Filmsohn Alex Lutz und einigen weiteren Schauspielern in kleineren Rollen. Noé, der ursprünglich nur in einigen Szenen die Splitscreen-Technik anwenden wollte, änderte während des Drehs seine Meinung. Jetzt läuft der gesamte Film in meistens zwei getrennten Bildern ab, die jeweils die halbe Leinwand beanspruchen und durch einen schwarzen Balken deutlich voneinender getrennt sind. Es sind Bilder und eine Gestaltung, die sich der üblichen Schnittdramaturgie widersetzen. Oft beobachtet Noé sie und ihn in langen Szenen. Oft ohne, selten mit wenigen Schnitten, die in dem Moment ein kleiner Zeitsprung sind. Durch die Gleichzeitigkeit der Präsentation von Ereignissen entsteht eine eigentümliche Spannung. Normalerweise würde zwischen ihr, die sich in ihrer Demenz vom Hinterhof auf die Straße verirrt und einkaufen geht, und ihm, dem irgendwann in der Wohnung auffällt, dass sie schon länger weg ist und er sie sucht, hin und her geschnitten. Jetzt beobachten wir gleichzeitig auf der linken und rechten Bildhälfte, was sie und er tut.

Es sind auch Bilder, die eine große Ruhe ausstrahlen, wenn sie am Filmanfang gemeinsam im Bett liegen. Dann steht sie auf, macht ihre Morgentoilette und bereitet das Frühstück vor, während er langsam aufsteht. Am Frühstückstisch treffen sie sich wieder.

Diese Inszenierung zeigt eindrücklich, wie getrennt sie voneinander sind und wie sehr sie doch noch zusammen leben.

Vortex“ ist kein einfacher Film. Das liegt an der formalen Gestaltung mit dem durchgehend geteiltem Bild und den langen Szenen, in denen oft wenig bis nichts passiert. Außer dem Warten auf den Tod. Das liegt auch an der Geschichte, die langsam und humorfrei auf das Ende zusteuert und dabei manchmal wie ein Horrorfilm wirkt. Auch weil wir nicht wissen, was die Mutter und der Vater im nächsten Moment tun und ob sie wissen, was sie tun. Noé sagt zu seinem neuesten Film: „Es ist einfach die Geschichte eines genetisch programmierten Zerfalls, bei dem das ganz Kartenhaus in sich zusammenfällt.“

Vortex (Vortex, Frankreich/Belgien 2021)

Regie: Gaspar Noé

Drehbuch: Gaspar Noé

mit Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz, Kylian Dheret

Länge: 142 Minuten

FSK: ab 12 Jahre (aber kein Film für Zwölfjährige)

Hinweise

AlloCiné über „Vortex“

Moviepilot über „Vortex“

Metacritic über „Vortex“

Rotten Tomatoes über „Vortex“

Wikipedia über „Vortex“ (englisch, französisch)

Meine Besprechung von Gaspar Noés „Love 3D“ (Love, Frankreich/Belgien 2015)

Meine Besprechung von Gaspar Noés „Climax“ (Climax, Frankreich 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: „Porto“ – ein Amerikaner und eine Französin begegnen sich

September 15, 2017

Das Beste, was „Porto“ passieren konnte war Anton Yelchin.

Das Schlimmste, was „Porto“ passieren konnte, war Anton Yelchin.

Denn „Porto“ ist eine der letzten Filme von Anton Yelchin („Green Room“, Pavel Chekov in den neuen „Star Trek“-Filmen). Am 19. Juni 2016 starb er bei einem wirklich bescheuerten Autounfall: er wurde in der Einfahrt seines Hauses von seinem Auto überrollt.

Er spielt Jake, einen in der portugiesischen Hafenstadt Porto mehr oder weniger freiwillig gestrandeten Amerikaner. Eines Tages trifft er die Archäologiestudentin Mati (Lucie Lucas) und sie verbringen die Nacht zusammen.

Der Film hatte seine Weltpremiere nach Yelchins Tod am 19. September 2016 beim San Sebastián International Film Festival und selbstverständlich wird die Rezeption des Films und all seiner Fehler von seinem Tod überschattet. Auf der einen Seite ist faszinierend, wie Anton Yelchin sich in die Rolle hineinsteigert und Jake, abgemagert und mit tiefliegenden Augen, als den introvertierten, manischen Quartalsirren spielt, mit dem man sich in der Kneipe nicht unterhalten will.

Auf der anderen Seite ist durch Yelchins Tod auch vollkommen unklar, wie sehr der Tod den Film beeinflusste. Denn viele Szenen wirken improvisiert, vieles wiederholt sich aus verschiedenen Perspektiven, Realität und Fantasie, Vor- und Rückblenden sind unklar und Gabe Klinger wechselte in seinem Spielfilmdebüt zwischen 35 mm, 16 mm und Super-8-Film, ohne dass ein wirkliches Konzept erkennbar wird. Das kann schon so im Drehbuch, das Klinger mit Larry Gross („48 Stunden“, „Streets of Fire“) schrieb, gestanden haben. Das kann auch daran liegen, dass die Dreharbeiten noch nicht wirklich abgeschlossen waren und jetzt aus den vorhandenen Bildern ein Film zusammengeschnitten wurde, der es durch zahlreiche Wiederholungen und impressionistische Bilder auf 74 Minuten bringt.

Jim Jarmusch ist Executive Producer. Klinger nennt ihn „spirit guide“ und der Jarmusch-Einfluss ist im ganzen Film spürbar. Jake ist ein typischer, zielloser Jarmusch-Charakter, der durch Porto driftet. Er ist auf Permanent Vacation. Und als „spirit guide“ hat Jarmusch Klinger sicher einige Tipps gegeben, was er aus dem vorhandenen Material machen kann. Ein Torso bleibt „Porto“ trotzdem. Ob gewollt oder ungewollt, ist unklar.

Am Ende gibt es nur zwei Gründe, sich „Porto“ anzusehen: eine lange, sich stilistisch fundamental vom restlichen Filmstil unterscheidende, auf der großen Leinwand ihre volle Wirkung entfaltende Plansequenz, in der Jake und Mati sich in einem Diner anscheinend zum ersten Mal begegnen (später wird deutlich, dass sie sich schon vorher gesehen haben) und Anton Yelchins intensives Spiel, das durch seinen Tod eine neue Dimension erhielt. Denn er sieht weniger wie ein Dauerurlauber, sondern wie ein lebender Toter aus.

Porto (Porto, Portugal/USA/Frankreich/Polen 2016)

Regie: Gabe Klinger

Drehbuch: Larry Gross, Gabe Klinger

mit Anton Yelchin, Lucie Lucas, Francoise Lebrun, Paulo Calatré

Länge: 74 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Porto“

Metacritic über „Porto“

Rotten Tomatoes über „Porto“

Wikipedia über „Porto“

 


TV-Tipp für den 27. August: Die Entführung des Michel Houellebecq

August 26, 2014

Arte, 21.40

Die Entführung des Michel Houellebecq (Frankreich 2014, Regie: Guillaume Nicloux)

Drehbuch: Guillaume Nicloux

September 2011: die angekündigte Lesereise von Michel Houellebecq („Ausweitung der Kampfzone“, „Elementarteilchen“) fällt aus. Der französische Bestsellerautor und Provokateur war damals von drei Amateur-Kidnappern entführt worden und führte mit ihnen tiefsinnige Debatten über Gott und die Welt.

Ein Spaß; vor allem natürlich für Houellebecq-Fans.

Das Drehbuch wurde beim Tribeca Filmfestival ausgezeichnet.

mit Michel Houellebecq, Mathieu Nicourt, Maxime Lefrançois, Françoise Lebrun, Luc Schwarz

Hinweise

Arte über „Die Entführung des Michel Houellebecq“

Berlinale über „Die Entführung des Michel Houellebecq“

Rotten Tomatoes über „Die Entführung des Michel Houellebecq“

Wikipedia über „Die Entführung des Michel Houellebecq“

Meine Besprechung von Guillaume Niclouxs „Die Nonne“ (La religiouse, Frankreich/Deutschland 2012)


Neu im Kino/Filmkritik: „Die Nonne“ hadert mit dem Klosterleben

November 1, 2013

Denis Diderots posthum erschienener Roman „Die Nonne“ gehört zu den Klassikern der französischen Aufklärung und das Thema ist heute immer noch aktuell.

Die Geschichte beginnt 1765 in Frankreich, als die junge, bürgerliche Suzanne Simonin (Pauline Ètienne) auf Wunsch ihrer Eltern eine Nonne werden soll. Das Geld für eine standesgemäße Heirat ist, nachdem ihre Geschwister verheiratet wurden, nicht mehr vorhanden und als sie sich zunächst weigert, das Gelübde abzulegen, weil sie Gott nicht belügen will, sagt ihr ihre Mutter, dass sie ein uneheliches Kind ist und das beste was sie vom Leben erwarten könne, ein Leben im Kloster sei. Schweren Herzens legt sie doch das Gelübde ab und, obwohl die Oberin des ersten Klosters, in dem sie lebt, eine verständnisvolle Frau ist, die sie mit Engelsgeduld zu einem Leben im Einklang mit der Kirche (und Gott) überreden will, beginnt ihr Leidensweg. Denn Suzannes Freiheitsdrang, ihr unabhängiges Denken und ihre reine Beziehung zu Gott stehen im ständigen Konflikt mit der Amtskirche und den klösterlichen Strukturen, die von der einen Oberin mit drakonisch-sadistischer Strenge, von der anderen mit obsessiv ausgelebten lesbischen Gelüsten unter dem schützenden Dach der unangefochtenen Kirche ausgelebt werden.

Regisseur Guillaume Nicloux hätte daraus ein süffiges Historiendrama über den Kampf einer unbeugsamen Frau für ihre Freiheit, für Gedankenfreiheit und Selbstverwirklichung, und ein flammendes Plädoyer gegen totalitäre Institutionen und Bigotterie machen können. Eine richtige David-gegen-Goliath-Geschichte vor historischer Kulisse, aber mit gedanklichen Brückenschlägen zur Gegenwart.

Das tat er aber nicht. Er übernimmt die Struktur des Briefromans, indem er in einer eher überflüssigen Rahmengeschichte einen jungen Mann in einer Nacht, in der er sich auch um seinen kranken Vater kümmert, die Briefe von Suzanne lesen lässt und diese Briefe möglichst undramatisch bebildert. Teils indem wichtige Ereignisse und Konflikte mit ein, zwei Sätzen abgehandelt werden, teils indem die Kamera das Geschehen und damit Suzannes Weg durch die Höllenkreise des Klosterlebens bis zum unpassenden Ende teilnahmslos beobachtet.

Auch als Zuschauer wird man durch diese Inszenierung und die klare und strenge Struktur des Films nicht emotional, sondern nur intellektuell angesprochen, was dann für eine Film doch etwas karg ist.

P. S.: Jacques Rivette verfilmte Diderots Roman bereits 1966 mit Anna Karina und Liselotte Pulver. Anscheinend ziemlich gelungen, aber weil diese Version von „Die Nonne“ bei uns fast nie im Fernsehen läuft (die OFDB nennt eine TV-Ausstrahlung) und auch nicht auf DVD erschienen ist, kann ich sie nicht mit der Neuinterpretation vergleichen.

Die Nonne - Plakat

Die Nonne (La Religieuse, Frankreich/Deutschland 2012)

Regie: Guillaume Nicloux

Drehbuch: Guillaume Nicloux, Jérôme Beaujour

LV: Denis Diderot: La Religieuse, 1796 (Die Nonne)

mit Pauline Ètienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck, Louise Bourgoin, Francoise Lebrun, Lou Castel

Länge: 107 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Die Nonne“

Moviepilot über „Die Nonne“

Rotten Tomatoes über „Die Nonne“

Wikipedia über „Die Nonne“ (englisch, französisch), Denis Diderot und die Vorlage

Denis Diderot: Die Nonne (als E-Book)

Berlinale: Pressekonferenz zum Film