Neu im Kino/Filmkritik: Über Ryūsuke Hamaguchis „Evil does not exist“

April 18, 2024

Verglichen mit seinem neuesten Film „Evil does not exist“ wirkt sein vorheriger Film, das mit dem Oscar als bester internationaler Film ausgezeichnete ruhige Drei-Stunden-Drama „Drive my Car“, wie ein redseliges Werk. Der Grund dafür liegt in der Entstehungsgeschichte. Regisseur Ryūsuke Hamaguchi begann die Arbeit an „Evil does not exist“ mit Aufnahmen für eine Live-Performance der Musikerin Eiko Ishibashi. Und da hätten Dialoge nur gestört. Aus diesen Bildern und Hamaguchis Musik entwickelten sich dann die Bilder und die Geschichte des Films, in dem es um die Interaktion von Mensch und Natur geht.

In dem Dorf Mizubiki in der Nähe von Tokio leben der Gelegenheitsarbeiter Takumi und seine kleine Tochter Hana ein bescheidenes Leben im Einklang mit der Natur. Als eine aus Tokio kommende Agentur ihnen eine Glamping-Anlage als künftigen Touristenmagneten und Geld- und Jobbringer für das Dorf verkaufen will, sind die Dorfbewohner misstrauisch. Denn Glamping, also glamouröses Camping (oder Camping ohne all die Ärgernisse des Campings), klingt nicht wie natürverträgliches Camping, sondern wie Lärm und Schmutz, verursacht von vergnügungssüchtigen Städtern, die nach Sonnenuntergang am Lagerfeuer feiern.

Bei einer von den Projekt-Machern kurzfristigst einberufenen Informationsveranstaltung für die Bewohner von Mizubiki werden deshalb von ihnen viele berechtigte Bedenken angemeldet. Die beiden Präsentatoren des Projekts, Takahashi und Mayuzumi, bemerken, wie wenig durchdacht das von ihnen präsentierte Projekt ist.

Als sie ihren Vorgesetzten von den Bedenken erzählen, wollen diese das Projekt dennoch unverändert durchsetzen und so beträchtliche Fördergelder erhalten. Takahashi und Mayuzumi sollen Takumi als örtlichen Berater engagieren. Sie hoffen, dass er sich bei den anderen Einheimischen für das Projekt einsetzt. Nachdem er ihnen vertraut.

Das klingt jetzt wie ein saftiges Polit-Drama über die skrupellose Ausbeutung der Natur zugunsten kapitalistischer Interessen. Doch nichts davon könnte falscher sein. Es dauert ewig, bis es zu der Informationsveranstaltung kommt. Und es dauert noch länger, bis Takumi als örtlicher Berater engagiert wird. Bis dahin zeigt Hamaguchi Takumi bei alltäglichen Verrichtungen, wie Holz hacken, Wasabi sammeln und, für ein Restaurant, sauberes Wasser aus dem Bach holen. Er streift durch den Wald. Seine Tochter streift durch den Wald. Sie treffen sich mit Nachbarn. Und immer wird viel geschwiegen. So dauert es über zehn Minuten, bevor der erste Satz gesagt wird.

Das macht „Evil does not exist“, mit der Ambient-Musik von Eiko Ishibashi (die auch für Hamaguchis „Drive my Car“ die Musik schrieb), zu einer sehr langsamen und ruhigen Meditation über das einfache, in großer Nähe zur Natur stehende Leben. Wie in seinen vorherigen Filmen will Hamaguchi keine Antworten vorgeben. Er beobachtet, deutet an, lässt Raum für Assoziationen und verweigert eindeutige Antworten. Insofern ist das vollkommen rätselhafte, quer zur Filmgeschichte liegende Ende konsequent.

Evil does not exist (Aku wa sonzai shinai, Japan 2023)

Regie: Ryūsuke Hamaguchi

Drehbuch: Ryūsuke Hamaguchi

Musik: Eiko Ishibashi

mit Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ryuji Kosaka, Ayaka Shibutani, Hazuki Kikuchi, Hiroyuki Miura

Länge: 107 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Evil does not exist“

Metacritic über „Evil does not exist“

Rotten Tomatoes über „Evil does not exist“

Wikipedia über „Evil does not exist“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ryūsuke Hamaguchis „Das Glücksrad“ (Guzen to Sozo, Japan 2021)

Meine Besprechung von Ryusuke Hamaguchis „Drive my Car“ (Doraibu mai kā, Japan 2021)