Auf der letztjährigen Berlinale, – der Berlinale, die wegen der Coronavirus-Pandemie nicht im gewohnten Rahmen stattfand -, erhielt Ryusuke Hamaguchis „Das Glücksrad“ den Silbernen Bären. Sein nächster Film, die Haruki-Murakami-Verfilmung „Drive my Car“, lief in Cannes im Wettbewerb, erhielt den Oscar als bester internationaler Film und lief auch bei uns im Kino. Die Kritiken waren überaus positiv bis euphorisch.
Und jetzt kommt sein Berlinale-Film endlich ins Kino. Im Gegensatz zu „Drive my Car“ erzählt Hamaguchi in „Das Glücksrad“ drei voneinander unabhängige, ungefähr gleich lange Geschichten von jeweils etwa vierzig Minuten.
Die erste erste Geschichte „Magie (oder etwas weniger Zuverlässiges)“ beginnt mit einer langen nächtlichen Taxifahrt, in der zwei Freundinnen sich ohne einen Schnitt eine gute Viertelstunde unterhalten. Gumi hat, wie sie ihrer Freundin Meiko erzählt, einen neuen Freund, der für sie die große Liebe ist. Meiko bemerkt irgendwann während Gumis Schwärmereien, dass dieser Traumprinz ihr Ex-Freund ist, den sie in diesem Moment immer noch oder wieder liebt. In jedem Fall will sie wissen, ob er sie noch liebt.
In der zweiten Geschichte, „Die Tür bleibt offen“, will Nao ihren Französisch-Professor, der in der Universät eine konsequente Politik der offenen Tür verfolgt, verführen. Nachdem sie sich getroffen haben, will sie ihm eine E-Mail schicken. Aber sie schickt sie an die falsche Adresse. Und dieses Mal landet die Mail beim Empfänger nicht im Papierkorb.
Die dritte Geschichte „Noch einmal“ ist fast eine Science-Fiction-Geschichte. Fast weil der Computervirus, der zum Verschwinden von E-Mails und einer Wiederauferstehung der Briefpost führt, letztendlich nur ein Gimmick ist. Nach zwanzig Jahren will Moka in Sendai bei einem Klassentreffen ihre heimliche Liebe aus der Schulzeit wieder treffen. Auf der Straße wird sie von ihr angesprochen. Oder handelt es sich dabei um eine Verwechslung? Und wäre das wirklich schlimm oder nicht doch eine glückliche Fügung?
Die Kurzfilme sind formal und inhaltlich Kurzgeschichten, die eigentlich gut im Fernsehen in vierzigminütigen Happen genossen werden können, aber besser im Kino genossen werden. Denn Hamaguchi erzählt extrem zurückhhaltend und mit großer Sympathie für seine Figuren. Er beobachtet sie ohne Wertungen in langen Szenen, die nur selten von einem Schnitt unterbrochen werden. In den drei Geschichten reden die Figuren so viel und die Drehorte sind so anonym-austauschbar, dass die Filme auch bebilderte Hörspiele sein könnten.
Dieser Stil und das langsame Erzähltempo verführen natürlich dazu, wenn das Smartphone in Griffnähe ist, mal schnell seine Mails zu checken, weil im Film gerade nichts passiert. Das ist allerdings ein Irrtum. Unterschwellig passiert viel. Hamaguchi will allerdings nichts vorgeben. Er vertraut auf den aufmerksamen Zuschauer, der kleinste Nuancen erfasst, mitdenkt und interpretiert.
Deshalb wird „Das Glücksrad“ den Menschen gefallen, denen auch „Drive my Car“ gefiel. Für alle anderen ist Hamaguchis ’neuer‘ Film ein guter und auch gut zugänglicher Einstieg in seine Welt, in der eine kleine Veränderung der Beginn von etwas größerem sein kann.
Das Glücksrad (Guzen to Sozo, Japan 2021)
Regie: Ryusuke Hamaguchi
Drehbuch: Ryusuke Hamaguchi
mit Kotone Furukawa, Kiyohiko Shibukawa, Katsuki Mori, Fusako Urabe, Aoba Kawai, Ayumu Nakajima, Hyunri, Shouma Kai
Länge: 121 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
internationaler Titel: Wheel of Fortune and Fantasy
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Hinweise
Moviepilot über „Das Glücksrad“
Metacritic über „Das Glücksrad“
Rotten Tomatoes über „Das Glücksrad“
Wikipedia über „Das Glücksrad“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Ryusuke Hamaguchis „Drive my Car“ (Doraibu mai kā, Japan 2021)