Neu im Kino/Filmkritik: Über Ridley Scotts „Napoleon“

November 23, 2023

Die Eckpunkte aus dem Leben von Napoleon Bonaparte dürften aus dem Schulunterricht bekannt sein: Geburt am 15. August 1769 auf Korsika, Militärdienst, Aufstieg mit erfolgreichen Feldzügen und Schlachten zum General und Kaiser der Franzosen, Erlass des Code Civil, ein gescheiterter Russlandfeldzug (Wer hätte auch ahnen können, dass russische Winter eiskalt sind und dass die Moskauer ihre Stadt verlassen, bis Napoleon sich frustriert zurückzieht?), Verbannung nach Elba, Rückkehr nach Paris für hundert Tage, Niederlage in Waterloo (Seitdem steht der Name des Dorfes für grandios-überwältigende finale Niederlagen.) und anschließénde Verbannung nach St. Helena. Dort stirbt er am 5. Mai 1821.

Sein kurzes Leben spielt sich vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und ihrer Nachwirren ab.

Das ist alles, wie gesagt, Schulwissen.

Weniger bekannt über Napoleon ist, dass der Feldherr mit Joséphine de Beauharnais verheiratet war. Als er sie kennen lernt, ist sie eine Witwe mit zwei Kindern. Und sechs Jahre älter als er. Außerdem ist sie politisch gut vernetzt. Sie heiraten 1796 und sie fördert seinen politischen Aufstieg.

Jetzt verfilmte Ridley Scott dieses Leben als Epos, das brav den Konventionen eines Biopics folgt. Chronologisch wird eine Lebensstation nach der nächsten Station abgehandelt. Die Politik wird, wenn es nicht anders geht, gestreift. Aber dafür interessiert Scott sich nicht. Er interessiert sich für die von Napoleon geführten Schlachten und für seine Beziehung zu Joséphine. Alles andere ist Beiwerk

Darau ergibt sich ein stetiger Wechsel aus intimen Szenen und epischen Schlachtengemälden. Aber für Kampfstrategien und das Verhältnis zwischen Napoleon und seinen Soldaten interessiert Scott sich nicht. Viel lieber zeigt er die Schlachten als ein Aufeinandertreffen verfeindeter, sich gegenseitig tötender Soldaten.

Und damit kämen wir zum ersten Punkt, in dem „Napoleon“ sich von anderen Biopics über Feldherren unterscheidet. Scott zeigt drastisch, was eine Kanonenkugel, ein Schwerthieb, eine Kugel bei dem Opfer anrichtet. Blut und Gedärme von Menschen und Pferden spritzen über die Leinwand. Die Schlachten sind Massaker, bei denen die Seite gewinnt, die mehr Männer zum Sterben auf das Schlachtfeld schicken kann. Jedes Mal starben, wie auch eine Texttafel am Filmende verrät, bei den im Film gezeigten Schlachten zehntausende junger Männer.

Der zweite Punkt, der „Napoleon“ von anderen Biopics unterscheidet, ist die Präsentation der Beziehung zwischen Napoleon und Joséphine. Von Anfang an ist es eine schräge, toxische Beziehung, in der sie sich lieben, aber nicht miteinander leben können. Eine seltsamere große Liebe wurde wahrscheinlich noch nie gezeigt. Gleichzeitig hat, auch wenn Scott sich für diesen Aspekt weniger interessiert, ihre Beziehung auch immer etwas von einer Zweckehe. Er interessiert sich eher für die sexuelle, triebgesteuerte Seite der Beziehung.

Der Rest des über zweieinhalbstündigen Films ist konventionelles Biopic-Kino mit Schauwerten und einer immer wieder erstaunlich sprunghaften Erzählweise. So brechen die Schlachten immer wieder mitten im größten Getümmel ab. Die Folgen, also die Felder mit Toten und Verletzten, zeigt Scott nie.

In der von Scott bereits angekündigten deutlich über vierstündigen Langfassung des Films dürfte sich das nicht ändern. Denn er will nicht mehr über Napoleon (Joaquin Phoenix) und seine Verdienste als Feldherr und Politiker erzählen. Er will mehr über Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby) erzählen. Damit dürfte „Napoleon“ endgültig nicht mehr, wie der Kinofilm, ‚Napoleon & Joséphine‘, sondern „Joséphine & Napoleon‘ sein.

Napoleon (Napoleon, USA 2023)

Regie: Ridley Scott

Drehbuch: David Scarpa

mit Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Ludivine Sagnier, Tahar Rahim, Ian McNeice, John Hollingworth, Ben Miles, Rupert Everett, Paul Rhys

Länge: 159 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Napoleon“

Metacritic über „Napoleon“

Rotten Tomatoes über „Napoleon“

Wikipedia über „Napoleon“ (deutsch, englisch)

History vs. Hollywood macht einen Faktencheck (und findet viele Punkte, in denen der Film sich nicht an die historisch verbürgten Fakten hält)

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Prometheus” (Prometheus, USA 2012)

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Exodus – Götter und Könige (Exodus – Gods and Kings, USA 2014)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Der Marsianer – Rettet Mark Watney“ (The Martian, USA 2015)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Alien: Covenant“ (Alien: Covenant, USA 2017)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Alles Geld der Welt“ (All the Money in the World, USA 2017)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „The Last Duel“ (The Last Duel, USA 2021)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „House of Gucci“ (House of Gucci, USA 2021)