DVD-Kritik: Über Mario Bavas „Die Stunde, wenn Dracula kommt“

August 16, 2016

Moldawien, frühes siebzehntes Jahrhundert: Prinzessin Asa Vajda und ihr Liebhaber werden von ihrem Bruder auf einem Scheiterhaufen verbrannt, weil sie eine Hexe und er ein Vampir, vielleicht sogar Dracula höchstselbst, sein sollen.

Zweihundert Jahre später entdecken Professor Krubajan und sein Assistent Gorobec während ihrer Fahrt zu einem Ärztekongress das Grab von Asa und durch eine Verkettung unglücklicher Umstände erwecken sie sie zum Leben. Sie und ihr damaliger, ebenfalls von den Toten zurückkehrender Liebhaber Javutich wollen sich jetzt an Asas Nachfahren rächen.

Dracula, um gleich ein Missverständnis auszuräumen, das es nur in der deutschen Fassung von Mario Bavas Regiedebüt gibt, ist der aus kommerziellen Erwägungen gewählte Quasi-Name von Javutich – und, zugegeben, der Titel „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ klingt verdammt gut. Auch wenn „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ auf der Geschichte „Wij“ von Nikolai Gogol basiert. Aber auch mit dieser Geschichte hat der Film wenig zu tun. Bava, ein Fan der Geschichte, übernahm nur einige Elemente aus ihr.

Letztendlich ist das egal, weil „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ der surrealen Logik eines Alptraums folgt, rudimentär aufgehängt an der bekannten und unzählige Male wiederholten Vampirgeschichte, in der ein Vampir wieder auftaucht, Menschen aussaugt, andere Menschen ihn besiegen wollen und es eine bedrohte Jungfrau gibt.

Dazu fand Bava Bilder, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, wie die Metallmaske, die auf Asas Gesicht gedrückt wird, und der ganze Film hat eine auch heute noch verstörende Atmosphäre von Sex, Sadismus, Gewalt, Angst und Wahnsinn. In einer sich an den schon damals klassischen Hollywood-Horrorfilmen aus den dreißiger und vierziger Jahren orientierenden, allerdings viel opulenteren Ausstattung mit sumpfiger Landschaft zwischen Friedhöfen und alten Gemäuern, klaustrophobisch engen Wegen durch dorniges Gebüsch und kafkaesken, teils verfallenen Gebäuden und Gemächern voller Spinnennetzen und flackernden Kerzen.

Mario Bava, der vor seinem offiziellem Regiedebüt „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ bereits bei Dutzenden Filmen Kameramann war und auch ohne Namensnennung einige Filme zumindest teilweise inszenierte, inszenierte die Horrorgeschichte mit einem deutlichen Blick auf effektive und auch effektheischerische Bilder hin. Dass Javutich und Asa, die langsam von den Toten erwacht, immer wieder aus dem Nichts auftauchen und im Nichts verschwinden, trägt zu dieser alptraumhaften Stimmung bei. Außerdem hat Barbara Steele eine Doppelrolle: sie ist Asa und Katia, die schöne Schlossherrin, in die sich Gorobec bei ihrem ersten, bedrohlich abgehobenem Auftreten, sofort verliebt. Sie ist auch die Jungfrau, die Asa töten will.

1960, als der Film in die italienischen Kinos kam, muss das, neben klinisch reinen Doris-Day- und Heinz-Erhardt-Filmen ein Schock gewesen sein. Alfred Hitchcocks grenzüberschreitender und stilbildender (Horror-)Thriller „Psycho“ (der allerdings auf einer anderen Ebene für Entsetzen sorgte) lief fast gleichzeitig in unseren Kinos an. Denn in Deutschland lief Bavas Film bereits 1961 in einer minimal gekürzten Fassung in den Kinos. In die englischen Kinos kam Bavas Film 1968 in einer stark gekürzten Fassung. Erst 1992 erschien dort eine ungekürzte Fassung.

Und heute?

Über seinen Einfluss gibt es kaum Diskussionen. So orientierte Francis Ford Coppola sich 1992 beim Set-Design von seinem Dracula-Film mehrmals an Bavas Sets. Tim Burton nannte ihn 1998 seinen Lieblingshorrorfilm und in „Sleepy Hollow“ (1999) spielte er auf ihn an. Und in zahlreichen Listen taucht er auf. Beispielsweise in Frank Schnelle/Andreas Thiemans Meta-Liste „Die 50 besten Horrorfilme“ (2010), für die sie fünfzig Bestenlisten und Umfragen der letzten Jahre auswerteten.

Ronald M. Hahn und Volker Jansen vertreten, um auch einige der wenigen negativen Stimmen zu nennen, im „Lexikon des Horrorfilms“ (1985/1989) die Minderheitenmeinung: „hanebüchene Streifen…ein geistloser alter Stinkkäse…Ein völlig überbewerteter Grusler, der den Horror aus abscheulich zugerichteten Gesichtern statt aus unterschwelligem Nervenkitzel bezieht.“

Hanebüchen ist, wenn man versucht die Filmgeschichte nachzuerzählen, „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ unbestritten, aber als atmosphärischer Gruselfilm ist er heute noch enorm effektiv, kurzweilig, unterhaltsam, vergnüglich und sexy.

Koch Media veröffentlichte den Horrorfilmklassiker jetzt als Beginn ihrer „Mario Bava Collection“ erstmals auf Blu-ray in einer Blu-ray/DVD-Sammleredition mit umfangreichem Bonusmaterial, unter anderem einem hörenswerten, nicht untertitelten Audiokommentar von Filmhistoriker Tim Lucas, Interviews mit Barbara Steele und Lamberto Bava, einer geschnittenen Szene, einer umfangreichen Bildergalerie und einer alternativen Schnittfassung. Das Bonusmaterial müsste identisch mit der früheren, nicht mehr erhältlichen DVD-Ausgabe von e-m-s sein.

Die Stunde wenn Dracula kommt - DVD-Cover

Die Stunde, wenn Dracula kommt (La Maschera del Demonio, Italien 1960)

Regie: Mario Bava

Drehbuch: Ennio de Concini, Mario Serandrei

LV: Nikolai Gogol: Вий, 1835 (erschienen in „Миргород“) (Wij, Kurzgeschichte)

mit Barbara Steele, John Richardson, Andrea Checchi, Ivo Garrani, Arturo Dominici, Enrico Olivieri, Antonio Pierfederici

DVD/Blu-ray

Koch Media (Mario Bava Collection #1 – Collectors Edition)

Bild: 1,66:1 (16:9)

Ton Deutsch, Englisch, Italienisch (Dolby Digital [DVD], DTS-HD Master Audio 2.0 [Blu-ray])

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial (angekündigt): Trailer, Audiokommentar, Interviews mit Barbara Steele und Lamberto Bava, Alternative Filmfassung, Geschnittene Szene, Bildergalerie

Länge: 84 Minuten (DVD), 87 Minuten (Blu-ray)

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Die Stunde, wenn Dracula kommt“

TCM über „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ (Übersichtsseite) und Lang Thompson über den Film

Wikipedia über „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ (deutsch, englisch)

Nikolai Gogols Geschichte „Wij“ (englische Fassung)

Das ist eines der bekannten Filmbilder

Barbara Steele in "Die Stunde, wenn Dracula kommt" (Foto: Koch Media)

Barbara Steele in „Die Stunde, wenn Dracula kommt“ (Foto: Koch Media)


TV-Tipp für den 8. Februar: Sondertribunal – Jeder kämpft für sich allein

Februar 8, 2016

Arte, 20.15
Sondertribunal – Jeder kämpft für sich allein (Section spéciale, Frankreich/Italien/Deutschland 1975)
Regie: Constantin Costa-Gavras
Drehbuch: Constantin Costa-Gavras, Jorge Semprún
LV: Hervé Villeré
August 1941: ein junger Kommunist erschießt in Paris in der Metro einen deutschen Marinesoldaten. Um die rachedurstigen Deutschen zu besänftigen, will die Vichy-Regierung als Bauernopfer sechs wegen kleinerer Delikte inhaftierte Kommunisten und Juden in dem titelgebendem Sondertribunal zum Tod verurteilen.
Präzise, auf einem wahren Fall basierende Analyse wie das Vichy-Regime versucht mit Hilfe der Justiz Unrecht in „Recht“ zu verwandeln. Das war keine Sternstunde der Grande Nation.
Der Film war für den Golden Globe als bester ausländischer Film nominiert und Constantin Costa-Gavras wurde in Cannes als bester Regisseur ausgezeichnet.
Endlich wird „Sondertribunal – Jeder kämpft für sich allein“ wieder einmal im TV gezeigt. Denn nach der Deutschlandpremiere am 30 Mai 1976 gab es seit Ewigkeiten (Zehn Jahre? Fünfzehn Jahre?) keine Wiederholungen des Films, der inzwischen zu Costa-Gavras unbekanntesten Werken zählt.
mit Louis Seigner, Roland Bertin, Michael Lonsdale, Ivo Garrani, François Maistre, Jacques Spiesser, Henri Serre, Heinz Bennent
Hinweise
Arte über die Costa-Gavras-Filmreihe
Rotten Tomatoes über „Sondertribunal“
Wikipedia über „Sondertribunal“ (englisch, französisch)