Neu im Kino/Filmkritik: Über Jan-Ole Gersters Irgendwie-Noir „Islands“

Mai 8, 2025

Noir sei, meinte vor Jahren ein Autor, als er nach einer Definition von Noir gefragt wurde, das Gegenteil von Disney. Mit dieser damals flott formulierten, insgesamt erstaunlich zutreffenden Definition im Gepäck ist Jan-Ole Gersters neuer Film „Islands“ ein Noir. Auch wenn es in dem Film für einen klassischen Noir erstaunlich wenig bis überhaupt keine Verbrechen, keine Betrügereien und auch keine sexuellen Verwicklungen gibt.

Aber Noir ist, wie Disney, ein Blick auf die Welt. Es ist eine Haltung, die Gersters Film von der ersten bis zur letzten Minute prägt.

Auf Fuerteventura arbeitet Tom (Sam Riley) seit längerem und ohne weitere Ambitionen als Tennislehrer in einem All-Inclusive-Hotel. Schon während der Arbeit trinkt er. Den Feierabend verbringt er in der Disco und anschließend geht der Samenspender gerne für einige Stunden mit jungen Inselbesucherinnen ins Bett. Flüchtiger Urlaubssex ohne weitere Verpflichtungen eben.

Eines Tages fragt ihn die im Hotel mit ihrem Mann und Sohn urlaubende Anne (Stacy Martin), ob er ihrem siebenjährigen Sohn Anton (Dylan Torrell) Einzelunterricht geben könne. Er tut es. Er bringt sie auch, nachdem Annes Mann Dave (Jack Farthing), ein ziemliches Arschloch, sich über das Zimmer beschwerte, in einem ruhigeren Zimmer unter. Und er zeigt ihnen die schönen, von Touristen noch nicht entdeckten Seiten der Insel.

Warum er sich so ungewöhnlich intensiv um diese Hotelgäste kümmert, bleibt lange unklar. Er wird auch immer mehr zu Annes und Antons potentiellem Beschützer gegenüber Dave.

Als Dave nach einer gemeinsamen Sauftour verschwindet, beginnt die Polizei den spurlos verschwundenen Urlauber zu suchen. Er könnte ins Wasser gefallen sein. Oder jemand stieß ihn ins Wasser. Ein vom Festland abgestellter Kommissar vermutet, dass Dave ermordet wurde. Tatverdächtig sind selbstverständlich Anne und Tom.

In diesem Moment sind schon gut achtzig Minuten des zweistündigen Films vergangen, in denen für Fans eines konventionellen Noir-Krimis in dem ein Mann sich in die falsche Frau verliebt, es zu Mord und Verrat kommt, wenig bis nichts passierte. Das ändert sich auch im letzten Drittel des Films nicht. Gerster will hier keine Erwartungen erfüllen. Er benutzt Noir-Motive und lässt anschließend die Erwartungen des Publikums an eine spannende Noir-Geschichte konsequent ins Leere laufen.

Als Thriller ist „Islands“, obwohl die Macher den Film im Presseheft mehrmals so labeln, bestenfalls ein Slow-Burner, der erst mit dem Auftauchen des Kommissars, der sofort einen Mordfall mit zwei auf dem Silbertablett präsentierten Tatverdächtigen vermutet, etwas spannender wird. Wirklich spannend wird es nicht.

Aber als Noir-Charakterstudie, in der jede Person in ihrem eigenen Gefängnis gefangen ist und sie nicht aus ihrem selbstgewählte Gefängnis entkommt, ist „Islands“ ziemlich interessant. Der ehemalige Tennisprofi Tom vegetiert seit Jahren nur noch als letztklassiger Tennislehrer für Hotelgäste vor sich hin. Seine Tage sind seit Ewigkeiten nur eine immergleiche Abfolge aus Tennisstunden, Trinken und flüchtigem Sex. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen kümmert er sich um eine das Hotel besuchende Familie. Seine Gefühle gegenüber Anne sind weniger sexuell, sondern freundschaftllich und vielleicht sogar etwas beschützend. Anne ist in einer gewalttätigen Ehe gefangen. Trotzdem bleibt sie bei ihrem Mann Dave, der ebenfalls in seinem Verhalten gefangen ist.

Am Ende ist alles beim Alten – der Urlaub ist vorüber und jeder geht zurück in sein gewohntes Leben“, sagt Jan-Ole Gerster über seinen dritten Spielfilm, der im Presseheft fälschlicherweise als Noir und Thriller verkauft wird. Denn dieses Labeling weckt Erwartungen, die Gerster in seiner deprimierenden Charakterstudie über Menschen, die in ihrem Leben gefangen sind und die im Kreis herumlaufen, nicht erfüllen will.

Das ist nicht uninteressant, durchaus gut gemacht und gut gespielt. Trotzdem ist „Islands“ mit zwei Stunden als langsam erzählter Soft Noir ohne Verbrechen zu lang. Gerster hätte sich besser an der Länge seiner vorherigen und gelungeneren Charakterstudien „Oh Boy“ (83 Minuten) und „Lara“ (98 Minuten) orientieren sollen. Oder an Billy Wilders 99-minütiger Noir-Trinkerstudie „Das verlorene Wochenende“ (The lost Weekend, USA 1945).

Islands“ ist für den Deutschen Filmpreis, der am Freitag verliehen wird, in den Kategorien „Bester Film“, „Beste männliche Hauptrolle“, „Beste Filmmusik“ und „Beste Tongestaltung“ nominiert.

Islands (Deutschland 2025)

Regie: Jan-Ole Gerster

Drehbuch: Jan-Ole Gerster, Blaž Kutin, Lawrie Doran (nach einer Geschichte von Jan-Ole Gerster)

mit Sam Riley, Stacy Martin, Jack Farthing, Dylan Torrell, Pep Ambròs, Bruna Cusí, Ramiro Blas, Ahmed Boulane

Länge: 122 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Islands“

Moviepilot über „Islands“

Rotten Tomatoes über „Islands“

Wikipedia über „Islands“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Islands“

Meine Besprechung von Jan-Ole Gersters „Lara“ (Deutschland 2019)


TV-Tipp für den 30. März: Lara

März 29, 2022

Arte, 20.15

Lara (Deutschland 2019)

Regie: Jan-Ole Gerster

Drehbuch: Blaž Kutin

TV-Premiere. Zweiter Spielfilm von „Oh Boy“-Regisseur Jan-Ole Gerster und wieder ein Volltreffer. Dieses Mal beobachtet er Lara (Corinna Harfouch). Die biestige und einsame Sechzigjährige streift an ihrem Geburtstag ziellos durch Berlin. Am Abend will sie das Konzert ihres Sohnes besuchen. Ihr Sohn hat sie dazu nicht eingeladen. Und wir verstehen ihn sehr schnell.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, André Jung, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Mala Emde, Steffen Jürgens, Alexander Khuon, Birge Schade, Johann von Bülow

Wiederholung: Freitag, 1. April, 14.15 Uhr

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Lara“

Moviepilot über „Lara“

Rotten Tomatoes über „Lara“

Wikipedia über „Lara“

Meine Besprechung von Jan-Ole Gersters „Lara“ (Deutschland 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: Oh Boy! Corinna Harfouch ist „Lara“

November 7, 2019

Endlich hat Corinna Harfouch wieder eine Hauptrolle übernommen. „Giulias Verschwinden“, „Blond: Eva Blond!“ und „Vera Brühne“ liegen ja schon einige Jahre zurück.

Endlich hat Jan-Ole Gerster wieder Regie geführt. Sein Debüt „Oh Boy“ war ein Überraschungserfolg und ist einer der allseits beliebten Berlin-Filme. Seitdem sind sieben Jahre vergangen.

Mit seinem zweiten Spielfilm „Lara“ hat er auf den ersten Blick noch einmal „Oh Boy“ inszeniert. Nur dass dieses Mal nicht Tom Schilling, sondern Corinna Harfouch einen Tag lang ziellos durch Berlin streift.

Auf den zweiten Blick ist „Lara“ erzählerisch dann mindestens ein großer Schritt nach vorne in erzählerisch anspruchsvollere Gefilde. In „Oh Boy“ stolpert der Endzwanziger Niko ziellos durch die Stadt, hat einige erfreuliche, einige weniger erfreuliche Begegnungen und er sucht dabei nur eine gute Tasse Kaffee. Die bekommt er am Ende des Films. „Oh Boy“ ist ein wunderschöner SW-Nouvelle-Vague-Film, der genauso ziellos wie sein Protagonist ist. Gerster könnte da mühelos Episoden austauschen oder weglassen und nichts würde sich verändern.

Lara“ ist dagegen ein deutlich komplexerer Film, der Gegenwart und Vergangenheit zu einem Psychogramm einer sehr problematischen Frau verwebt. Lara ist, pünktlich zu ihrem sechzigsten Geburtstag, in Rente geschickt worden. Die Beamtin war eine strenge, fordernde und vollkommen humor- und empathielose Abteilungsleiterin. Freunde hat sie keine. Sie ist auch nicht zum Konzert ihres Sohnes eingeladen.

Viktor ist ein gefeierter klassischer Pianist, der heute Abend ein von ihm komponiertes Stück aufführen will. In der Vergangenheit litt er immer wieder unter ihren Ansprüchen. Sie spornte ihn gleichzeitig zu Höchstleistungen an und sagte ihm, dass er nicht gut genug sei. Und Viktor gelang es nie, sich von ihrem prägenden Einfluss zu lösen. Weil sie durch ihre Anwesenheit Viktors großen Abend sabotieren könnte, will ihr Ex-Mann verhindern, dass Lara ihn vor dem Konzert trifft.

Lara, die an ihrem runden Geburtstag nichts vor hat, streift ziellos durch das alte Westberlin. Sie trifft immer wieder Menschen, die sie zwingen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen. Lara wollte früher selbst Pianistin werden. Sie stellte höchste Ansprüche an sich selbst. Sie war auf dem besten Weg, eine Konzertpianistin zu werden, wenn nicht ein von ihr bewunderter Musiker an ihrem Talent gezweifelt hätte. Danach wurde sie die keine Fehler verzeihende, unverschämt hohe Ansprüche stellende Klavierlehrerin ihres Sohnes, der als erwachsener Mann immer noch versucht sich von ihr zu lösen und gleichzeitig, wie ein kleines Kind, von ihrem Urteil abhängig ist.

Schon in den ersten Minuten liefert Gerster die wichtigsten Informationen über Lara. In den nächsten gut hundert Minuten fügt er diesem Bild so viele neue Facetten bei, dass es immer spannend bleibt. Und in den letzten Minuten mit deprimierender Klarheit deutlich wird, wie sehr Lara unwissentlich Erfahrungen weitergab, die sie, ebenfalls unwissentlich, übernahm. Es ist ein Teufelskreislauf, aus dem sie sich nie befreite, weil sie nicht wusste, dass sie in diesem Kreislauf steckte. Falls sie es überhaupt wissen wollte.

Lara“ ist eine glänzend gespielte, präzise inszenierte und gespielte Charakterstudie, die bei aller Tristesse unglaublich unterhaltsam ist. Und ein Berlin-Film.

Jetzt ist nur zu hoffen, dass nicht wieder sieben Jahre bis zu Gersters nächstem Film vergehen.

Lara (Deutschland 2019)

Regie: Jan-Ole Gerster

Drehbuch: Blaž Kutin

mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, André Jung, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Mala Emde, Steffen Jürgens, Alexander Khuon, Birge Schade, Johann von Bülow

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Lara“

Moviepilot über „Lara“

Rotten Tomatoes über „Lara“

Wikipedia über „Lara“

Gespräch mit Jan-Ole Gerster und Produzent Marcos Kantis nach der Premiere auf dem Filmfest München


TV-Tipp für den 26. Mai: Oh Boy

Mai 25, 2018

Arte, 00.40
Oh Boy (Deutschland 2012, Regie: Jan-Ole Gerster)
Drehbuch: Jan-Ole Gerster
Der Endzwanziger und gescheiterte Langzeitstudent Niko driftet durch Berlin. Er trifft seltsame Menschen und fragt sich nach dem Sinn des Lebens.
Wunderschöne Berlin-Komödie, die bei Kritik und Publikum gleichermaßen gut ankam. Wir warten immer noch auf Jan-Ole Gerstes zweiten Spielfilm.
mit Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Justus von Dohnány, Ulrich Noethen, Katharina Schüttler, Frederick Lau, Michael Gwisdek
Hinweise
Filmportal über „Oh Boy“
Film-Zeit über „Oh Boy“
Moviepilot über „Oh Boy“
Rotten Tomatoes über „Oh Boy“
Wikipedia über „Oh Boy“


TV-Tipp für den 30. Juni: Oh Boy

Juni 30, 2017

Arte, 00.40
Oh Boy (Deutschland 2012, Regie: Jan-Ole Gerster)
Drehbuch: Jan-Ole Gerster
Der Endzwanziger und gescheiterte Langzeitstudent Niko driftet durch Berlin. Er trifft seltsame Menschen und fragt sich nach dem Sinn des Lebens.
Wunderschöne Berlin-Komödie, die bei Kritik und Publikum gleichermaßen gut ankam. Wir warten immer noch auf Jan-Ole Gerstes zweiten Spielfilm.
mit Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Justus von Dohnány, Ulrich Noethen, Katharina Schüttler, Frederick Lau, Michael Gwisdek
Wiederholung: BR, Samstag, 1. Juli, 23.30 Uhr
Hinweise
Filmportal über „Oh Boy“
Film-Zeit über „Oh Boy“
Moviepilot über „Oh Boy“
Rotten Tomatoes über „Oh Boy“
Wikipedia über „Oh Boy“


TV-Tipp für den 13. November: Oh Boy

November 13, 2015

Eins Festival, 21.05
Oh Boy (Deutschland 2012, Regie: Jan-Ole Gerster)
Drehbuch: Jan-Ole Gerster
Der Endzwanziger und gescheiterte Langzeitstudent Niko driftet durch Berlin. Er trifft seltsame Menschen und fragt sich nach dem Sinn des Lebens.
Wunderschöne Berlin-Komödie, die bei Kritik und Publikum gleichermaßen gut ankam.
mit Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Justus von Dohnány, Ulrich Noethen, Katharina Schüttler, Frederick Lau, Michael Gwisdek
Wiederholung: Samstag, 14. November, 01.15 Uhr (Taggenau!)
Hinweise
Filmportal über „Oh Boy“
Film-Zeit über „Oh Boy“
Moviepilot über „Oh Boy“
Rotten Tomatoes über „Oh Boy“
Wikipedia über „Oh Boy“