Neu im Kino/Filmkritik: „The End we start from“ ist auch nur ein Anfang. Ist das ein Spoiler?

Mai 30, 2024

Ein Drehbuchautor sagte einmal, dass es in der Geschichte über die Alien-Invasion und die Jugendlichen, die gegen die Außerirdischen kämpfen, um seine Beziehung zu seiner Frau gehe. Aber kein Hollywood-Produzent hätte einen teuren Spielfilm über zwei weinerliche Fünfzigjährige finanziert. Über verliebte Jugendliche, Aliens und eine zerstörte Kleinstadt schon. Er sagte auch, dass niemand, der sich den Film ansieht, diesen Hintergrund – also die Sache mit seiner Bezeihung zu seiner Frau – auch nur ahne. Und das gut so. Jedenfalls wenn es um Unterhaltungsfilme geht, die sich an ein breites Publikum richten. Da kann das Wissen um die persönlichen Hintergründe und die Inspiration für das Drehbuch interessant sein, aber es ist letztendlich unwichtig für den daraus entstandenen Film, der als eigenständiges Werk funktionieren muss.

Bei „The End we start from“ ist das anders. Hier ist eine bestimmte Interpretation so offensichtlich, dass sie nicht wirklich ignoriert werden kann. Und, je nachdem, ob man sich auf das Geschehen auf der Leinwand oder auf die Interpretation konzentriert, ist der Film schlechter oder besser.

Im Mittelpunkt steht eine von Jodie Comer gespielte Frau, die auch in den Credits nur „Woman“ (bzw. „Frau“) heißt. Sie ist hochschwanger, glücklich verheiratet und lebt mitten in London in einem kleinen Einfamilienhaus. So weit, so normal.

Aber ein ständiger Regen führt zu Überschwemmungen in der Stadt und dem ganzen Land. Dieser Regen führt zu einem Zusammenbruch der britischen Gesellschaft. Auch nachdem es aufhört zu regnen, kehrt die Gesellschaft nicht schnell zur Normalität zurück, sondern sie begibt sich in die Welt der Apokalypse-Dystopien, in denen die Menschen sich in kleinen Gruppen zusammenrotten und gegenseitig umbringen. Faustrecht eben.

Nach der Geburt fahren die Frau und ihr Mann zuerst zu seinen Eltern, die etwas abgelegen auf dem Land leben. Als die Eltern des Mannes bei der Suche nach Nahrung getötet werden, begeben sich die Frau und ihr Mann auf eine Reise durch das Land. Zuerst zusammen, später getrennt und ohne eine Möglichkeit miteinander in Kontakt zu treten. Handy können nicht aufgeladen werden, das Internet und das Telefonnetz funktionieren nicht mehr; jedenfalls vermute ich das, weil sie es nicht benutzen.

Sie findet in einem Lager des Militärs, das mit Waffengewalt gegen Angriffe von Außen geschützt wird, ein Bett. Vor dem Lager trennen sie sich und er verschwindet in den Wäldern. Fortan taucht er nur noch in ihren Erinnerungen und in Visionen auf, in denen er tatenlos in der Landschaft herumsteht.

Weil ihr das Leben in dem Lager nicht gefällt, begibt sie sich mit einer anderen Frau auf den Weg zu anderen Gruppen, die anders organisiert sein sollen.

Vom Plot her ist „The End we start from“ eine typische Dystopie, die wie an einer Perlenkette ein Dystopie-Klischee an das nächste reiht. Nur dass hier eine Frau mit einem nur wenige Wochen altem Baby durch die postapokalyptische, sehr sumpfige Landschaft wandert. Das ist gut gemacht, aber in seiner Vorhersehbarkeit auch elend langweilig. Viel zu einfallslos werden die bekannten Stationen einer dystopischen Reisegeschichte abgehakt. Da helfen auch die atmosphärischen Bilder und die guten Schauspieler nicht.

Die Apokalypse selbst und warum Überschwemmungen eine Gesellschaft vollkommen zusammenbrechen lassen, wird nicht weiter erklärt. Das muss einfach so hingenommen werden.

Wenn man die Geschichte allerdings als eine leicht zu entschlüsselnde Metapher auf die Gefühle einer Frau während und nach ihrer Schwangerschaft sieht, dann ist das etwas anders. Dann ist das Dystopie-Gewand eine interessante Visualisierung ihrer Gefühle. Die Frau wandert allein durch eine feindliche Welt. Ihr Mann zieht sich schnell aus der gemeinsamen Kindererziehung zurück. Verschiedene Menschen geben ihr Ratschläge. Es ist ein einziger Alptraum, den sie allein durchleiden muss. Und den nur sie für sich beenden kann. Erst danach kann aus dem „ich“ ein „wir“ werden.

Diese Interpretation macht aus „The End we start from“ und seinem Ende, das, wie der Titel verrät, ein Anfang ist, einen deutlich interessanteren Film.

P. S.: Jodie Comers nächster Film startet bereits am 20. Juni. In Jeff Nichols‘ „The Bikeriders“ hat sie eine der Hauptrollen. Meine Besprechung des in den sechziger Jahren spielenden Biker-Dramas gibt es zum Kinostart.

The End we start from (The End we start from, Großbritannien 2024)

Regie: Mahalia Belo

Drehbuch: Alice Birch

LV: Megan Hunter: The End we start from, 2017 (Vom Ende an)

mit Jodie Comer, Joel Fry, Katherine Waterston, Gina McKee, Nina Sosanya, Mark Strong, Sophie Duval, Benedict Cumberbatch

Länge: 102 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „The End we start from“

Metacritic über „The End we start from“

Rotten Tomatoes über „The End we start from“

Wikipedia über „The End we start from“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Die Horrorfilme „Baghead“ und „The Queen Mary“

Dezember 28, 2023

Gehen wir zuerst in den Pub und dann aufs Schiff.

In „Baghead“ erbt die Anfangszwanzigerin Iris einen heruntergekommenen Pub, in dem ihr Vater als Torwächter lebte. Im Keller lebt ein Wesen, dem ein Sack über den Kopf gestülpt wurde (daher der Namen Baghead). Mit der Hilfe dieser Kreatur kann man für zwei Minuten Kontakt zu einer toten Person aufnehmen. Falls man die zwei Minuten überschreitet, geschehen unsagbar furchtbare Dinge.

Diese Prämisse erinnert an Danny und Michael Philippous gelungeneren Horrorfilm „Talk to me“ (Talk to me, Australien 2022). Während bei ihnen die Regeln, wie die Zeitbegrenzung für den Kontakt zum dem Totenreich, eingehalten wurden, ist in Alberto Corredors „Baghead“ die Zeitbegrenzung nur ein unverbindlicher Hinweis. Der Keller, in dem das Wesen lebt, gehört zu einem riesigen, anscheinend halbwegs zentral in Berlin stehendem Backsteinhaus, das mehr nach einer alten Fabrik (die inzwischen zu einer teuren Yuppie- und Touristen-Location renoviert worden wäre) als nach einem lauschigen britischen Pub aussieht, Für Nicht-Berliner mag das nicht weiter störend sein, aber Berliner stört das schon. Außerdem ist dieses heruntergekommene Haus ist für einen Pub einfach viel zu groß. Dazu kommen sich idiotisch verhaltende Figuren. So sehen sich Iris und ihre Freundin das Video, das Iris‘ Vater vor seinem Tod aufgenommen hat und in dem er ihr alles über das Wesen im Keller erklärt, erst an, nachdem sie mit der allseits beliebten Versuch-und-Irrtum-Methode einen Mann, der ihnen dafür viel Geld angeboten hat, seine verstorbene Frau kontaktieren ließen. Die sich daraus entwickelnde Geschichte basiert auf Corredors gleichnamigem Kurzfilm von 2017, ist arg vorhersehbar und minimalistisch. Letztendlich handelt es sich um eine Vier-Personen-Stück.

Baghead“ ist ein okayer Grusler für den sehr hungrigen Genrefan. Mehr nicht.

 

Wirklich ärgerlich ist „The Queen Mary“. Gary Shores neuer Horrorfilm spielt auf dem titelgebenden Luxus-Ozeandampfer, der 1936 in Betrieb ging und seit seiner Ausmusterung 1967 als Hotelschiff und Attraktion für Horrorfans im Hafen von Long Beach liegt. Denn auf dem Schiff starben fast fünfzig Menschen auf unnatürliche Art. Schnell hieß es, das Schiff sei verflucht. Seemannsgarn und die blühende Fantasie von Horrorfans erledigten den Rest.

Jetzt will eine Autorin den Eigentümern der „Queen Mary“ einen neuen Weg vorstellen, um das Schiff und seine Geschichte für ein jüngeres Publikum interessant zu gestalten. Während sie ihr Projekt pitcht, sehen sich ihr Mann und ihr Sohn auf dem riesigen Schiff um. Ab diesem Moment springt die Filmgeschichte zwischen unheimlichen Ereignissen in der Gegenwart und unheimlichen Ereignissen in der Vergangenheit, vor allem der blutigen Halloweennacht von 1938, hin und her. Die unheimlichen Ereignisse haben möglicherweise etwas miteinander zu tun. Oder auch nicht. Und es gibt immer wieder, mal mehr, mal weniger präzise Andeutungen auf künftige schreckliche, meist tödliche Ereignisse.

Weil es Gary Shore („Dracula untold“) nie gelingt, daraus eine kohärente Geschichte zu erzählen, ist „The Queen Mary“ das filmische Äquivalent zu einer Geisterbahnfahrt. Es gibt einige Schocks und Überraschungen, aber keine Geschichte. Es gibt auch keine Hauptfigur oder ein Thema, das die einzelnen furchtbaren Ereignisse auf dem Schiff, miteinander verbindet. Es sind nur Bilder, Motive, Szenen und Stimmungen, die teils an andere Filme erinnern. So kam für mich teilweise ein „Twin Peaks“- und „Shining“-Feeling auf. Daraus ergibt sich aber nie eine die Teile auch nur halbwegs sinnvoll miteinander verbindende Vision oder Geschichte, die mehr sein könnte als der mit einer Meta-Ebene angereicherte, illustrierte Verkauspitch der Autorin; – wobei das auch eine Interpretation ist, die nicht unbedingt stimmen muss.

Unbestritten hat Shore das gut inszeniert – und genau das macht „The Queen Mary“ zu einem ärgerlichen Film. Denn es hätte mit einem guten Drehbuch ein guter Horrorfilm werden können. So ist es nur eine beliebige Ansammlung von Horror-Topoi. Eine Geisterbahnfahrt für anspruchslose Gemüter.

Baghead (Baghead, Großbritannien/Deutschland 2023)

Regie: Alberto Corredor

Drehbuch: Christina Pamies, Bryce McGuire

mit Freya Allan, Jeremy Irvine, Ruby Barker, Peter Mullan, Anne Müller, Svenja Jung, Ned Dennehy, Felix Römer

Länge: 95 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Baghead“

Moviepilot über „Baghead“

Metacritic über „Baghead“

Rotten Tomatoes über „Baghead“

Wikipedia über „Baghead“

The Queen Mary (Haunting of the Queen Mary, USA/Großbritannien 2023)

Regie: Gary Shore

Drehbuch: Gary Shore, Tom Vaughan, Stephen Oliver

mit Alice Eve, Joel Fry, Wil Coban, Nell Hudson, Lenny Rush, Florrie May Wilkinson, Dorian Lough, Wesley Alfvin

Länge: 125 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Queen Mary“

Rotten Tomatoes über „The Queen Mary“

Wikipedia über „The Queen Mary“

Meine Besprechung von Gary Shores „Dracula Untold“ (Dracula Untold, USA 2014)