Neu im Kino/Filmkritik: „Till – Kampf um die Wahrheit“ in den USA in den Fünfzigern

Januar 30, 2023

Im August 1955 verlässt der vierzehnjährige Emmett Till Chicago. Er fährt zu Verwandten nach Money, Mississippi. Vor der Abfahrt schärft Emmetts Mutter, die 33-jährige Mamie Till Mobley, ihrem Sohn noch ein, wie er sich zu verhalten habe. Kurz gesagt: die Augen auf den Boden richten und Weißen immer Recht geben. Vor allem wenn sie im Unrecht sind oder ihn beleidigen. Das geht schief, als er in einem kleinen Lebensmittelgeschäft mit der Verkäuferin Carolyn Bryant etwas flirtet. Sie behauptet später, er habe sie sexuell belästigt.

Wenige Stunden später ist Emmett tot. Gelyncht.

Seine Mutter beginnt für Gerechtigkeit zu kämpfen und sie geht an die Öffentlichkeit. Ein Fotograf vom Jet Magazin darf seine Leiche fotografieren. Eines seiner Fotos kommt auf die Titelseite. Die Bilder von seinem Gesicht schockierten die Öffentlichkeit. Bei der Trauerfeier in Chicago ist sein Sarg offen. Jeder kann und soll sehen, wie er vor seinem Tod bis zur Unkenntlichkeit brutal zusammengeschlagen wurde. Über Fünfzigtausend kommen und sind schockiert.

Das waren die ersten Schritte in Mamie Till Mobleys Kampf um Gerechtigkeit. Eine Gerichtsverhandlung und jahrzehntelange Arbeit als Bürgerrechts-Aktivistin folgen. Mamie Till Mobley stirbt am 6. Januar 2003.

Till – Kampf um die Wahrheit“ endet mit einem ihrer ersten Auftritte als Bürgerrechtskämpferin.

Emmetts Mörder wurden – wir befinden uns hier im Feld historischer Tatsachen und, auch wer sie nicht kennt, dürfte darüber nicht verwundert sein – freigesprochen. Sie wurden für ihre Taten niemals verurteilt.

Jahrzehnte nach dem Lynchmord sagte Carolyn Bryant in einem Interview, dass Emmett Till sie nicht belästigt habe. Das sei eine Lüge gewesen.

Das ist eine wichtige Geschichte, die es in jeder denkbaren Beziehung verdient erzählt zu werden. Und natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, dies in einer Art und Weise zu tun, die ein großes Publikum erreichen kann. Das wollen die Macherinnen – unter anderem die Regisseurin Chinonye Chukwu, die Drehbuchautoren Michael Reilly und Keith Beauchamp, dem Regisseur der 2005 die Doku „The untold Story of Emmett Louis Till“, und die Produzentinnen Whoopi Goldberg (die auch eine kleine Rolle übernommen hat) und Barbara Broccoli. Sie produziert normalerweise die James-Bond-Filme. Trotzdem war die Finanzierung schwierig und das Budget für den Film überschaubar.

Der jetzt entstandene Film wirkt, auch weil das Drama fast ausschließlich in Studiokulissen gedreht wurde und alles überaus hell ausgeleuchtet ist, wie ein in den Fünfzigern entstandener Douglas-Sirk-Film.

Insgesamt ist „Till“ ein honoriges Drama, das sich an die historisch verbürgten Tatsachen hält. Es soll an zwei wichtige Figuren des Civil Right Movements, nämlich Emmett Till und Mamie Till-Mobley, und die Anfänge dieser wichtigen Bewegung erinnern. Es ist eine aufbauend inszenierte Geschichtsstunde.

Gleichzeitig sollen Gegner des Anliegens überzeugt werde. Es wird alles in ein harmonisches Fünfziger-Jahre-Licht getaucht, das an eine vergangene, längst abgeschlossene Zeit erinnert. Es gibt keine offensichtlich verstörenden Bilder; – wobei die Gerichtsverhandlung gegen Emmetts Mörder durchaus verstörend ist. Die Geschworenen sind weiße Männer. Die Weißen feiern ein Picknick, während die Schwarzen auf Bänken zusammengequetscht werden. Auch Mamie Till-Mobley wird ausgesprochen herablassend behandelt und es wird angezweifelt, ob der unkenntliche Tote überhaupt ihr Sohn ist. In den Minuten werden auch die Strukturen erkennbar, die den Mord an Emmett ermöglichten. Doch meistens erscheint der Mord und der Rassismus der Täter als eine individuelle Tat.

Gerade dies und die überaus zurückhaltende Inszenierung führen dazu, dass das Drama deutlich weniger empört, als es empören sollte. Angesichts der aktuellen Lage in den USA ist das ein nachvollziehbarer erzählerischer Ansatz. Angesichts des enttäuschenden US-Einspielergebnisses von „Till“ ging diese Rechnung nicht auf. Wobei, auch erwähnt werden muss, dass mehrere zeitgleich mit „Till“ in den US-Kinos gestartete anspruchsvolle Filme, wie „She said“, „Tár“ und „Triangle of Sadness“, ebenfalls enttäuschende Einspielergebnisse hatten.

Till – Kampf um die Wahrheit (Till, USA 2022)

Regie: Chinonye Chukwu

Drehbuch: Michael Reilly, Keith Beauchamp, Chinonye Chukwu

mit Danielle Deadwyler, Jalyn Hall, John Douglas Thompson, Sean Patrick Thomas, Frankie Faison, Kevin Carroll, Tosin Cole, Whoopi Goldberg

Länge: 132 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Till“

Metacritic über „Till“

Rotten Tomatoes über „Till“

Wikipedia über „Till“ (deutsch, englisch), Emmett Till (deutsch, englisch) und Mamie Till-Mobley

History vs. Hollywood prüft den Wahrheitsgehalt der Verfilmung


Neu im Kino/Filmkritik: „The 355“ – Agentinnen auf Bösewichterjagd

Januar 6, 2022

Wirklich schlecht, also so SchleFaZ-Schlecht, ist „The 355“ nicht. Dafür sind die Schauspielerinnen – Jessica Chastain, Penélope Cruz, Bingbing Fan, Diane Kruger und Lupita Nyong’o – einfach zu gut. Auch die anderen Schauspieler – Édgar Ramirez, Sebastian Stan und für uns Deutsche Sylvester Groth – sind gut. Ebenso die Stuntmen, Kamera undsoweiter. Da ist immer ein bestimmtes Niveau vorhanden. Es wurde, wenigstens teilweise, vor Ort gedreht und dafür wurde einmal um die Welt geflogen. Trotzdem entstanden die meisten Szenen, unabhängig vom Handlungsort, an verschiedenen Orten in Großbritannien. Das Budget ist unbekannt. Aber es werden Zahlen zwischen 40 Millionen US-Dollar und über 75 Millionen US-Dollar genannt. 

Aber gut ist „The 355“ nicht. Es ist ein weiterer, angesichts des Talents, grotesk misslungener Versuch, eine Actionserie mit Frauen als den Heldinnen zu etablieren. Jessica Chastain hatte die Idee für eine Agentenserie im Stil von James Bond und Mission: Impossible. Sie präsentierte Simon Kinberg diese Idee während des Drehs für „X-Men: Dark Phoenix“. Dieser Film war Kinbergs ziemlich misslungenes Spielfilmdebüt. Ich nannte es ein Totaldesaster. Die meisten anderen Kritiken waren ähnlich vernichtend. Bekannter ist er als Produzent und diese Arbeiten sind wesentlich gelungener. Dazu gehören die TV-Serien „The Twilight Zone“ und „Designated Survivor“, die Kinofilme „Mord im Orientexpress“, „Der Marsianer“, „Elysium“, die „Deadpool“- und die „X-Men“-Filmen.

Zusammen mit Theresa Rebeck schrieb er jetzt das Drehbuch für „The 355“. Rebeck ist vor allem bekannt für ihre Bücher und Produzentätigkeit für die Top-TV-Serien „NYPD Blue“ und „Law & Order: Criminal Intent“.

Die von den beiden erfundene Geschichte bedient die gängigen Agentenserien-Versatzstücke und setzt sie erstaunlich konfus zusammen. Letztendlich ergibt die Geschichte keinerlei Sinn.

Es geht, knapp zusammengefasst, um eine aus fünf Frauen bestehende Truppe – vier Agentinnen, eine Psychologin, die eher zufällig in die Geschichte hineinschlittert –, die eine externe Festplatte finden müssen, bevor sie in die falschen Hände gerät. Auf der Festplatte ist ein Computerprogramm, das alle elektronischen Systeme zielgenau angreifen und das Internet, wie wir es kennen, vernichten kann. Bevor die fünf Frauen gemeinsam gegen die Bösewichter kämpfen, müssen sie sich erst einmal als Team finden. Initiiert wird die Zusammenarbeit, nachdem in Paris ein Versuch, an die Festplatte zu gelangen, schiefging, von der CIA-Agentin ‚Mace‘ Mason Browne (Jessica Chastain). Sie bittet ihre alte Freundin Khadijah Adiyeme (Lupita Nyong’o), Technikspezialistin, britische MI6-Agentin und nicht mehr im Außendienst, um Hilfe. Später stoßen die einzelgängerische deutsche BND-Agentin Marie Schmidt (Diane Kruger), die kolumbianische Psychologin Graciela Rivera (Penélope Cruz), keine wirkliche Agentin, aber wahrscheinlich sollte sie für den (nicht vorhandenen) komischen Teil zuständig sein, und die chinesische Agentin und Computerexpertin Lin Mi Sheng (Bingbing Fan) dazu. Sie alle sind natürlich auch erfahrene Nahkampfexpertinnen, Schützinnen und immer gutaussehnd; halt wie die männlichen Vorbilder. Nur dass sie auch ein Abendkleid anziehen können.

Die wilde Hatz geht dann von Paris weiter nach Marrakesch und Shanghai.

Auf dem Papier klingt das doch, wie gesagt, ganz gut: namhafte Besetzung, fotogene Drehorte und das Versprechen auf eine ordentliche Portion Action, zusammengehalten von einem sattsam bekannten und bewährten Plot. Daraus könnte eine feministische „Mission: Impossible“-Version entstehen. Und wenn das dann vergnüglich und flott erzählt wäre, gerne mit einem Schuss Selbstironie, könnte daraus ein zumindest unterhaltsames, eskapistisches Kinoabenteuer entstehen.

Aber Selbstironie geht diesem Film vollkommen ab. Und flott erzählt ist die hahnebüchene Geschichte auch nicht. Eher wird von Schauplatz zu Schauplatz gesprungen.

Das Drehbuch und die Inszenierung erheben sich nie über das Niveau eines banalen, vollkommen generischen B-Actionfilm, in dem Frauen die Rollen von Männern übernehmen. Sie sind sozusagen die „Expendables“, nur ohne die Filmographien der Hauptdarsteller als Ikonen des 80er-Jahre-Actionfilms und deren offensiv vorgetragene Selbstironie, die die Filme ansehbar machte. Ein Vergleich mit James Bond, Ethan Hunt oder Jason Bourne – alles Namen, die von den „The 355“-Machern als Inspiration für ihren Film genannt werden – verbietet sich. Zu groß und offensichtlich ist das Gefälle zwischen dem Einzelgänger Bourne und dieser Frauencombo.

In „The 355“ sind die Dialoge banal. Die Handlung ist absurd. Die Motive der Figuren sind meistens unklar. Entsprechend unterfordert ist das gesamte Ensemble. Und die Action bewegt sich nicht über dem Niveau, das wir aus TV-Serien wie „24“ kennen. Auch wenn die Kämpfe etwas länger sind.

Kinbergs Langweiler ist der neueste gescheiterte Versuch, eine Agentenserie mit einer Heldin zu etablieren. Dabei liegt das Problem, wieder einmal, nicht an den Schauspielerinnen, sondern an dem schlechten Drehbuch.

The 355 (The 355, USA/China 2022)

Regie: Simon Kinberg

Drehbuch: Theresa Rebeck, Simon Kinberg (nach einer Idee von Theresa Rebeck)

mit Jessica Chastain, Penélope Cruz, Bingbing Fan, Diane Kruger, Lupita Nyong’o, Édgar Ramirez, Sebastian Stan, Jason Flemying, Sylvester Groth, John Douglas Thompson

Länge: 124 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „The 355“

Metacritic über „The 355“

Rotten Tomatoes über „The 355“

Wikipedia über „The 355“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Simon Kinbergs „X-Men: Dark Phoenix“ (Dark Phoenix, USA 2019)