Neu im Kino/Filmkritik: „Mediterranea – Refugees welcome?“ Wirklich?

Oktober 19, 2015

Es hätte – zufällig – der Film zur aktuellen Lage werden können. Immerhin arbeitete Regisseur Jonas Carpignano schon jahrelang an dem Thema und seine Premiere hatte „Mediterranea“ bereits im Mai auf dem Cannes-Filmfestival. Es geht um Flüchtlinge, erzählt aus der Perspektive der Flüchtlinge, die von Afrika über das Mittelmeer nach Europa kommen und die „Flüchtlingskrise“ beherrscht seit Wochen die Schlagzeilen. Da kann man den Film, der auf der Seite der Flüchtlinge steht, schnell zum „Film der Stunde“ etikettieren und abfeiern.
Aber bei der Bewertung sollte man zwei Dinge trennen: die Produktion, die guten Absichten und die damit zusammenhängende politische Botschaft (alles begrüßenswert) und die aktuelle Diskussion auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, den Film als dokumentarischen Spielfilm. Und gerade hier zeigt er deutliche Schwächen, die vielleicht auch an der langen Produktion liegen. Denn, zum Beispiel, Yousry Nasrallahs „Nach der Revolution“ über die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz und die Revolte in Ägypten wurde, auch mit Laienschauspielern, 2011 während des Arabischen Frühlings gedreht, geschnitten und wenige Wochen später in Cannes präsentiert. Es war und ist ein faszinierendes Zeitdokument, das ausgehend von einer einfachen Liebesgeschichte, die vor allem als roter Faden dient, ein facettenreiches Bild der ägyptischen Gesellschaft liefert und auch, schon damals, zeigte, an welchen gesellschaftlichen Strukturen die Revolution scheitern wird.
Bei „Mediterranea“ war für Regisseur Carpignano die Initialzündung für den Film seine Beobachtungen der Unruhen in Rosarno, einer Kleinstadt im süditalienischen Kalabrien, bei denen mehr als sechzig Menschen verletzt und tausende Migranten evakuiert werden mussten. Das war im Januar 2010. Unmittelbar danach drehte Carpignano schon den Kurzfilm „A Chiana“ (2011) darüber.
Diese Unruhen sind aber nur der aus heiterem Himmel kommende Höhepunkt von „Mediterranea“. Davor wird die Reise von Ayiva und seinem Freund Abas von Burkina Faso quer durch Afrika, über das Mittelmeer bis nach Italien gezeigt. Hier sind auch die besten Momente des Films, in denen gezeigt wird, wie beschwerlich und gefährlich die Reise ist. Ich sage nicht Flucht, weil Ayiva nach Europa will, um seiner Familie ein besseres Leben zu gewährleisten (was ein absolut legitimer Fluchtgrund ist). Die Strapazen, die er dabei auf sich nimmt, sind auch die Strapazen, die alle anderen Flüchtlinge auf sich nehmen müssen, weil Europa sich immer weiter abschottet und Schlepper deshalb eine nachgefragte Dienstleistung anbieten.
Das ist der stärkere Teil von „Mediterranea“. Allein die Reise, der Kampf um das Überleben und die Frage, ob Ayiva und Abas ihr Ziel erreichen, haben genug dramatisches Potential für eine spannende Geschichte. Da muss es keine große Analyse von Fluchtursachen und Abschottungspolitiken geben.
In Italien bewegt sich „Mediterranea“ dann weitgehend in den bekannten Pfaden eines Dramas über Illegale, die um ihr Überleben kämpfen und von Arbeitgebern ausgebeutet werden. Dass in Kalabrien die ‚Ndrangheta einen alles beherrschenden Einfluss hat und dass die Besitzer der Zitrusfrüchteplantagen ihre illegalen Arbeiter ausbeuten, wird erwähnt. Vor allem die niedrigen Tageslöhne und die damit verbundenen sklavenähnliche Zustände auf den Plantagen, werden ausführlicher angesprochen und gezeigt. Als individuelles Verhalten.
Aber die ökonomischen Bedingungen und Strukturen, vor allem die Nutznießer dieser Ausbeutung, werden im Film kaum angesprochen. Über die Hintergründe des Aufstandes erfährt man im Film eigentlich nicht. Es ist eine Eruption der Gewalt. Ohne Sinn und Ziel.
Doch gerade in diesem Teil wäre, wie man aus den klassischen italienischen Polit-Thrillern kennt, eine Analyse der Strukturen und der verschiedenen Akteure, also auch der ‚Ndrangheta, der lokalen Regierung und Verwaltung, der Regierung in Rom und, mindestens, der EU-Politik, wichtig. Im Presseheft finden sich Informationen dazu. Im Film fehlen sie. Diese fehlende Analyse führt dann auch dazu, dass dieser Teil des Films als eher beliebige Abfolge von Impressionen und individuellen Versuchen, sein Schicksal zu meistern, in der Luft hängt und hinter andere Filme, in denen es um Flüchtlingsschicksale und auch sklavenähnliche Verhältnisse geht, zurückfällt.

Mediterranea - Plakat

Mediterranea – Refugees welcome? (Mediterranea, Italien/Frankreich/USA/Deutschland/Katar 2015)
Regie: Jonas Carpignano
Drehbuch: Jonas Carpignano
mit Koudous Seihon, Alassane Sy
Länge: 111 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Homepage zum Film
Film-Zeit über „Mediterranea“
Moviepilot über „Mediterranea“
Rotten Tomatoes über „Mediterranea“
Wikipedia über „Mediterranea“ (deutsch, englisch)

Die andere Meinung, mit O-Tönen

https://www.youtube.com/watch?v=PFB1t2MooRs