Neu im Kino/Filmkritik: Karim Aïnouz besucht das „Motel Destino“

November 14, 2024

Mit einem Auftragsüberfall für den lokalen Gangsterboss will der Möchtegern-Gangster Heraldo sich das Geld für eine bessere Zukunft beschaffen. Aber davor geht einiges schief: eine Zufallsbekanntschaft stiehlt sein Geld, er verschläft, er kann das Zimmer im Motel Destino nicht bezahlen und der schlecht geplante Überfall endet ohne ihn katastrophal. Sein bester Freund stirbt dabei. Und Heraldo wird jetzt von Verbrrechern und der Polizei gejagt.

Mittellos taucht er in dem einsam gelegenem Motel Destino unter. Es ist ein heruntergekommenes, aber gut besuchtes Stundenhotel, das seiner Kundschaft anonym ein Bett für den schnellen Sex bietet. Geführt wird es von Elias und seiner jüngeren Frau Dayana. Er ist ein Rüpel, der ihn als Hilfsarbeiter anstellt. Sie findet schnell gefallen an dem zwanzigjährigem Gast. Eins führt zum anderen – und Noir-Fans erkennen schnell, dass Karim Aïnouz sich in seinem neuen Film „Motel Destino“ schamlos am Plot von James M. Cains Klassiker „The Postman always rings twice“ (1934, Die Rechnung ohne den Wirt, Wenn der Postmann zweimal klingelt…, Der Postbote klingelt immer zweimal) bedient. Vor ihm haben das schon mehrere Regisseure gemacht. Die Verfilmungen von Luchino Visconti (Ossessione, Italien 1942 [Besessenheit]), Tay Garnett (The Postman always rings twice, USA 1946 [Die Rechnung ohne den Wirt]), Bob Rafelson (The Postman always rings twice, USA 1981 [Wenn der Postman zweimal klingelt]) und Christian Petzold (Jerichow, Deutschland 2008) sind legendär. Es sind also große Fußstapfen, in die Aïnouz hier tritt. Erfolgreich und eigenständig. Und leider auch mit einem anderen Ende. Dieses Ende ist der große Schwachpunkt des Neo-Noirs.

Bei Cain spielt die Geschichte in einem kleinen Diner an einer Landstraße in Kalifornien während der Weltwirtschaftskrise. Aïnouz verlegt sie, wie Petzold, in die Gegenwart und, wie Visconti und Petzold, in ein anderes Land. Dieses Mal spielt die Geschichte in Nordbrasilien an der Küste abseits jeglicher Touristenpfade. Die Farben glänzen noch, aber jedes Gebäude und jeder Mensch scheint seine beste Zeit hinter sich zu haben.

Neben der tropisch verschwitzen Liebesgeschichte zwischen Heraldo und Dayana bietet Aïnouz auch einen intensiven Blick hinter die Kulissen eines Stundenhotels. Er zeigt detailliert die dortigen Abläufe, inclusive der Beobachtung kopulierender Kundschaft. Damit vertreibt Elias sich die Zeit.

Motel Destino“ ist ein schwüler, neonfarbenprächtiger Neo-Noir mit einer ordentlichen Portion explizitem Sex. Jedes Bild ist darauf angelegt, sich im Kopf des Zuschauers einzuprägen.

Sehenswert!

Motel Destino (Motel Destino, Brasilien/Frankreich/Deutschland 2024)

Regie: Karim Aïnouz

Drehbuch: Wislan Esmeraldo (in Zusammenarbeit mit Karim Aïnouz und Mauricio Zacharias)

mit Iago Xavier, Nataly Rocha, Fabio Assunção, Renan Capivara, Fabíola Líper, Isabela Catão, Yuri Yamamoto

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 16 Jahre (hätte auch eine FSK-18 für nachvollziehbar gehalten)

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Motel Destino“

Moviepilot über „Motel Destino“

Metacritic über „Motel Destino“

Rotten Tomatoes über „Motel Destino“

Wikipedia über „Motel Destino“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Karim Ainouz‘ „Zentralflughafen THF“ (Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018)

Meine Besprechung von Karim Aïnouz‘ „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ (A Vida Invisível de Eurídice Gusmão, Brasilien/Deutschland 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: Das tropische Melodrama „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Dezember 27, 2019

Nach seiner Langzeitbeobachtung „Tempelhof THF“ über das Leben von Asylbewerbern in der Sammelunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin kehrt Karim Aïnouz zum Spielfilm zurück und wenn nicht beide Filme in seiner Filmographie nebeneinander stünden, würde man nicht vermuten, dass beide Filme vom gleichen Regisseur gemacht wurden. Dabei hat sein neuer Film „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ durchaus einen dokumentarischen Blick mit dem er die fünfziger Jahre in Rio de Janeiro und die damaligen gesellschaftlichen Strukturen wieder aufleben lässt. Es sind, wie damals auch in Deutschland, Strukturen, die Frauen eine passive Rolle zuwiesen.

1950 sind Eurídice (Carol Duarte) und Guida Gusmão (Julia Stockler) nicht nur Schwestern, sondern unzertrennlich und an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie haben Träume, die jedes Mädchen hat. Und einen Vater, der mit den Ideen seiner Töchter nichts anfangen kann. Sie sollen sich in die von ihm gutgehießenen Traditionen einfügen, die auf die Heirat mit dem richtigen Mann und einem Leben als ihn umsorgende Hausfrau hinauslaufen.

Aber Eurídice will Konzertpianistin werden und Guida will ein Leben in Freiheit und voll sexueller Erfüllung. Entsprechend exzessiv will sie am Nachtleben teilhaben. Ihre Schwester deckt sie bei den nächtlichen Ausflügen. Als sie sich in einen Seemann verliebt, brennt sie mit ihm durch.

Wenige Monate später kehrt Guida zurück. Der Seemann hat sie verlassen und sie ist schwanger. Ihr Vater weist sie brüsk ab. Fortan verhindert er die Kontaktaufnahmen zwischen den beiden Schwestern.

Je länger Aïnouz die getrennt voneinander laufenden Leben der beiden Schwestern verfolgt, umso größere Probleme hatte ich mit der Konstruktion der Geschichte. Immerhin leben sie in einer Stadt. Da sollen sie in all den Jahren und Jahrzehnten, über die sich die Geschichte erstreckt, nicht noch mindestens einmal versucht haben, miteinander in Kontakt zu treten? Vor allem weil Guida ein neues Leben in einer verrufenen Gegend beginnt, und Eurídice, die traditionell verheiratet wird, am Filmanfang als unzertrennliche Seelenverwandte geschildert werden. Da sollte doch, neben all den Briefen, auch mal ein Telefonanruf oder ein Hausbesuch möglich gewesen sein.

Sehenswert ist Aïnouz‘ ‚tropisches Melodram‘ (Fassbinder-Bewunderer Aïnouz über seinen Film), dank der beiden starken Hauptfiguren, ihren akkurat nachgezeichneten unterschiedlichen Lebenswegen und der feinfühligen Inszenierung trotzdem. Wegen der Bilder empfiehlt sich die große Leinwand. In Cannes wurde „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ in der Sektion Un Certain Regard als bester Film ausgezeichnet.

Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão (A Vida Invisível de Eurídice Gusmão, Brasilien/Deutschland 2019)

Regie: Karim Aïnouz

Drehbuch: Murilo Hauser, Inés Bortagaray, Karim Aïnouz

LV: Martha Batalha: A Vida Invisível de Eurídice Gusmão, 2016 (Die vielen Talente der Schwestern Gusmão)

mit Julia Stockler, Carol Duarte, Gregorio Duvivier, Bárbara Santos, Flávia Gusmão, Maria Manoella, António Fonseca

Länge: 140 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Moviepilot über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Metacritic über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Rotten Tomatoes über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Wikipedia über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Karim Ainouz‘ „Zentralflughafen THF“ (Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018)


TV-Tipp für den 25. Juni: Zentralflughafen THF

Juni 24, 2019

Arte, 23.10

Zentralflughafen THF (Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018)

Regie: Karim Aïnouz

Drehbuch: Karim Aïnouz

Sehenswerte beobachtende Doku über die Flüchtlinge, die im Zentralflughafen Tempelhof in Berlin viele Monate untergebracht waren.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Ibrahim Al Hussein, Qutaiba Nafea

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Zentralflughafen THF“

Moviepilot über „Zentralflughafen THF“

Rotten Tomatoes über „Zentralflughafen THF“

Berlinale über „Zentralflughafen THF“

Meine Besprechung von Karim Ainouz‘ „Zentralflughafen THF“ (Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: „Zentralflughafen THF“, Flüchtlingsunterkunft im Herzen von Berlin

Juli 6, 2018

Während die Berliner noch über mögliche und nicht mögliche Nachnutzungen des unter Denkmalschutz stehenden, ab Mitte der dreißiger Jahre in seiner heutigen Form gebauten Flughafengebäudes und Nazi-Prestigeprojekts redeten, kam es im Sommer 2015 zu dem allseits bekannten Ansturm von Flüchtlingen und Berlin hatte die aus Verzweiflung geborene Idee, einen Teil der Flüchtlinge in dem leer stehendem Flughafen unterzubringen. In sieben Hangars wurden Wohnzellen für über dreitausend Menschen errichtet. Bis man in der Hauptstadt einen besseren Ort für sie gefunden hat, sollten diese Hallen ihre Wohnung und ihr Lebensmittelpunkt sein. Diese Unterbringung dauerte nicht ein, zwei Nächte, sondern Wochen und oft Monate.

Karim Aïnouz, der in der Nähe des 2008 stillgelegten innerstädtischen Flughafens lebt, entschloss sich schon bei der Ankunft der ersten Flüchtlinge in Tempelhof, einen Film über Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft zu drehen. „Zentralflughafen THF“ ist eine kommentarlose Langzeitbeobachtung. Ein Jahr begleitet er mit seiner Kamera zwei der in dem Flughafen lebende Flüchtlinge. Es sind Ibrahim Al Hussein und Qutaiba Nafea.

Der Syrer Ibrahim Al Hussein wurde 1994 in Manbij (Aleppo) geboren. Vor seinem Abitur verließ er im Oktober 2015 seine Heimat, seine Eltern und seine sieben Geschwister. In Tempelhof lebte er von Januar 2016 bis März 2017.

Der Iraker Qutaiba Nafea wurde 1978 in Ramadi (Provinz Anbar) geboren. Am Baghdad Medical Institute machte er sein Diplom als Physiotherapeut. Anschließend begann er an der Mosul Medical University Medizin und Chirurgie zu studieren. Nachdem sein jüngerer Bruder und sein Mitbewohner in der Nähe von Ramadi getötet wurden, floh er mit seiner Frau aus dem Irak. Im November 2015 kamen sie in Deutschland an. Bis Februar 2016 lebten sie in Tempelhof. Er arbeitet in der Flüchtlingsunterkunft auch als Übersetzer und hilft den Ärzten bei ihrer Arbeit. Während er oft im Bild ist, sieht man seine Frau nicht.

Diese beiden Männer stehen im Zentrum von „Zentralflughafen THF“, der chronologisch ihr Leben in dem Flughafen zeigt und nie den Flughafen verlässt. Alles spielt sich innerhalb von zwölf Monaten in dem Flughafengebäude und dem davor liegendem Flugfeld, das seit der Schließung des Flugbetriebs von den Berlinern als riesiger Freizeitpark in Besitz genommen wurde, ab. Mit seinen gut komponierten, schönen Bildern von Kameramann Juan Sarmiento G., dem ruhigen Erzähltempo und seiner mitfühlenden Haltung zeigt Aïnouz‘ Dokumentarfilm gut, wie das Leben im Transit ist. Kaum ein Tag unterscheidet sich von dem anderen. Das gesamte Leben ist auf Pause gestellt. Für eine unbestimmte Zeit wird gewartet und gehofft.

Mit seiner Konzentration auf die Bewohner der Unterkunft und ihren Alltag zeigt Aïnouz auch die Gesichter hinter den Zahlen. Sie sind nicht mehr anonyme Masse, sondern Menschen.

Das macht seinen Film unbedingt sehenswert. Es ist aber auch ein Dokumentarfilm, der sich auf das reine Beobachten und die bei Gesprächen aufgefangenen Originaltöne verlässt. Was da nicht gesagt wird oder gezeigt werden kann, existiert nicht. Es gibt nur die Perspektive der Porträtierten. Die Betreiber der Einrichtung, freiwillige Helfer, Sozialarbeiter, Anwälte, Beamte, Politiker oder Wissenschaftler werden nicht befragt. Man erfährt nichts über die Konflikte, die es um die Unterbringung der Flüchtlinge in Berlin gab und auch wenig über die Probleme des Zusammenlebens in einer riesigen Unterkunft. Das liegt nicht an der Konzentration auf die beiden Protagonisten, sondern an dem gewählten Stil, der schon jetzt dazu führt, dass man schon jetzt viele Dinge gerne genauer erklärt bekäme. In einigen Jahren wird dieser Wunsch nach Hintergrundinformationen und Erklärungen noch stärker sein.

Seit 2017 ist die Notunterkunft in den Hangars geschlossen. Am Randbereich des Flughafens gibt es ein Containerdorf. Diese Zwischennutzung soll spätestens 2020 enden.

Zentralflughafen THF (Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018)

Regie: Karim Aïnouz

Drehbuch: Karim Aïnouz

mit Ibrahim Al Hussein, Qutaiba Nafea

Länge: 97 Minuten

FSK: ?

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Zentralflughafen THF“

Moviepilot über „Zentralflughafen THF“

Rotten Tomatoes über „Zentralflughafen THF“

Berlinale über „Zentralflughafen THF“