Für seinen zweiten Spielfilm bleibt Ladj Ly in der Pariser Banlieue – und erzählt eine gänzlich andere Geschichte. Am besten betrachtet man „Die Unerwünchten – Les Indésirables“ als gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden – Les Misérables“, das 2020 bei uns im Kino lief.
In ihm erzählt er die Geschichte von drei Zivilpolizisten und, nachdem ein Löwenjunge aus einem Zirkus gestohlen wird, einer etwas aus dem Ruder laufenden Schicht, Dabei entsteht das gelungene Porträt von einem Stadtviertel in Paris, in dem sich die sozialen Probleme ballen und die Stimmung ständig kurz vor dem Siedepunkt ist.
In „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ konzentriert er sich auf die städtische Angestellte Haby Keita (Anta Diaw) und den Arzt Pierre Forges (Alexis Manenti). Er wird, nachdem der Amtsinhaber überraschend stirbt, von seiner Partei zum Bürgermeister befördert.
Beide leben in verschiedenen Welten. Sie lebt in Les Grands Bosquets, kennt die Bewohner seit ihrer Kindheit und hilft ihnen. Sie ist eine von ihnen.
Er lebt in seiner noblen Vorstadtvilla und kennt den sozialen Brennpunkit Les Grands Bosquets letztendlich nur aus den Schlagzeilen der Tageszeitung. Politik ist, auch wenn sie hier noch auf lokaler Ebene praktiziert wird und Pierre keine Ahnung von der Politik hat, ein Teil des Lebensstils des etablierten Bürgertums. Es ist keine Notwendigkeit, sondern ein Hobby, bei dem man sein soziales Engagement beweisen kann. Wie dieses Engagement dann mit eigenen Interessen verknüpft ist, zeigt Ladj Ly in „Die Unerwünschten“.
Zwischen den Geschichten von Haby und Pierre herrscht ein Ungleichgewicht, das sich durch den ganzen Film zieht. Sie ergänzen sich nicht, sondern stehen sich im Weg. Ihre Geschichte ist formal ein klassisches Sozialdrama und eine dichte Milieustudie im Ken-Loach-Stil. Seine Geschichte ist dagegen ein Politdrama, die Geschichte eines Mannes, der von der Macht verführt wird. Das ist formal aufklärerisches und die Herrschenden anklagendes Polit-Kino, wie man es aus den siebziger Jahren und von Regisseuren wie Constantin Costa-Gavras kennt.
Dabei ist Pierres Geschichte die eindrucksvollere. Ladj Ly zeigt, wie aus einem politisch unbedarften Arzt ein Menschen verachtendes Monster wird. Von seinen Parteifreunden wird er in den Job gestoßen, um die Zeit bis zur Wahl zu überbrücken. Er ist ein Übergangs- und Verlegenheitskandidat, von dem nur erwartet wird, dass er keine großen Fehler macht. Aber dann will er das Werk seines Vorgängers fortsetzen und das Leben der Menschen in dem Viertel verbessern. Darunter versteht er reaktionäre und ausländerfeindliche Aktionen, die immer noch gerade so legal sind. So lässt er das schon seit Ewigkeiten baufällige Banlieue-Mietshaus in dem arme Einwanderer leben, an Weihnachten räumen, weil der Bau angeblich akut einsturzgefährdet sei. Das ist Quatsch, aber so kann er seine unnötig gemeine Aktion mit Wohltätigkeit und Besorgnis um die Menschen tarnen. Was nach der rücksichtslos durchgeführten Räumung mit den auf der Straße sitzenden Mietern passiert, ist ihm egal. Außerdem ist so der Weg frei für ein schon lange geplantes Bauprojekt. Bislang konnte es nicht verwirklicht werden, weil die Mieter nicht ausziehen wollten.
In Pierres Geschichte zeigt Ladj Ly, wie Politik funktioniert, wie aus einem halbwegs anständigem Mann ein eiskalter Rechtspopulist wird. Seine Untaten ummäntelt er mit Wohltätigkeit. Dabei entwickelt er ein auch seine Parteikollegen überraschendes politisches Talent und Bosheit beim Durchsetzen seiner Ziele.
Bei einer ihrer Begegnungen entschließt Haby sich spontan, gegen ihn zu kandidieren. Ihre Familie wanderte aus Mali ein. Sie ist in dem Viertel verwurzelt, weil sie dort lebt und arbeitet und alle kennt. Sie ist, auch ohne es zu ahnen, die gute Seele des Viertels. In dem Moment ist es nur eine in ohnmächtiger Wut getanene Ankündigung auf die zunächst keine Taten folgen. Auch später wird ihr Wahlkampf mehr mitgeschleppt als konsequent erzählt. Offensichtlich interessiert Ladj Ly sich nicht für diese eigentlich interessante Geschichte. So bleibt Habys Geschichte vor allem eine nah an den Menschen erzählte Milieustudie.
Beide Geschichten bieten Stoff für einen guten Film. Beide Geschichten könnten auch in einem Film gut erzählt werden, wenn die richtigen Momente ausgewählt würden und die richtige Balance zwischen Haupt- und Nebengeschichte gefunden würde. In „Die Unerwünschten“ stehen sie sich im Weg. Zu vieles wird angerissen und dann nicht richtig weiter erzählt. Das macht „Die Unerwünschten“ nicht zu einem schlechten Film, sondern zu einem Film, der besser hätte sein können. Sehenswert ist er trotzdem und eine gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden“.
Das war jetzt die Empfehlung für ein Double Feature.

Die Unerwünschten – Les Indésirables (Les Indésirables/Bâtiment 5, Frankreich 2023)
Regie: Ladj Ly
Buch: Giordano Gederlioni, Ladj Ly, Dominique Baumard
mit Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula, Steve Tientcheu, Aurélia Petit, Jeanne Balibar, Judy Al Rashi
Länge: 105 Minuten
FSK: ?
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Hinweise
Homepage zum Film
Moviepilot über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“
AlloCiné über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“
Metacritic über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“
Rotten Tomatoes über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“
Wikipedia über „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ (deutsch, englisch, französisch)
Meine Besprechung von Ladj Lys „Die Wütenden – Les Misérables“ (Les Misérables, Frankreich 2019)
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