Neu im Kino/Filmkritik: „Das Tier im Dschungel“ lauert auf…

Oktober 6, 2023

Patric Chiha verlegt in seinem neuen Film „Das Tier im Dschungel“ Henry James‘ 1903 erstmals publizierte Kurzgeschichte „The Beast in the Jungle“ so halbwegs in die Gegenwart und vollständig in die Discothek.

1979 treffen sich John Marcer (Tom Mericer) und May Bartram (Anaïs Demoustier) in einer Discothek. Sie ist fasziniert von ihm. Denn er steht abwartend am Rand. Er will nicht tanzen. Er wartet auf ein großes Ereignis. Alles, was davor passiert bedeutet nichts und ist nicht erinnerungswürdig. Deshalb erinnert er sich auch nicht an eine frühere, länger zurückliegende Begegnung mit ihr.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten – die Geschichte umfasst über zwei Jahrzehnte – treffen sie sich jeden Samstag in der Discothek. Die Musik, die Mode und das wechselnde, aber immer junge Publikum zeigen, wie die Zeit vergeht, während John ungerührt das Treiben beobachtet. Während er wartet, verändert sich auch die Welt vor dem Nachtclub. Der Fall der Mauer und 9/11 finden im Fernsehen statt. Diese großen, die Welt erschütternde Ereignisse sind allerdings nicht das Ereignis sind, auf das John wartet.

Er wartet weiter, beobachtet dabei das Leben der anderen Menschen und lässt sein Leben ungelebt verstreichen.

May bleibt bei ihm. Gemeinsam beobachten sie zunehmend passiv das Treiben in dem Nachtclub.

Patric Chihas Idee die Kurzgeschichte in die Discothek und damit in das Nacht- und Clubleben zu verlegen ist so einfach wie genial. Einerseits ist ein Nachtclub ein Symbol für das Leben im Jetzt. Jeden Abend wird gefeiert als gäbe es keine weiteren Abend. Es ist ein Ort, in dem junge Menschen das Leben genießen; – bis sie heiraten und Kinder kriegen. Und es ist ein Ort, an dem sich nichts verändert, weil es ein Ort der ständigen Wiederholung ist. Daran ändern die wechselnde Musik, die wechselnde Inneneinrichtung, die wechselnden Moden, die wechselnden Tänze und die wechselnden Tänzer nichts. Es ist ein Ort, der mit der Realität nichts zu tun hat. Und damit ist es auch der Ort, der sich am wenigsten für das Warten auf ein das eigene Leben veränderndes Ereignis eignet. Vor allem wenn man, wie John, einfach nur wartet und dabei sein Leben ungenutzt verstreichen lässt.

Chiha gelingt es mit einem Minimum an Handlung dieses Warten, das von der von ‚Betty Blue‘ Béatrice Dalle gespielten Türsteherin kommentiert wird, interessant zu gestalten. Am Ende des Films stellt sich die Frage nach dem eigenen Leben.

Das Tier im Dschungel (La bête dans la jungle, Frankreich/Belgien/Österreich 2023)

Regie: Patric Chiha

Drehbuch: Patric Chiha, Axelle Ropert, Jihane Chouaib

LV: Henry James: The Beast in the Jungle, 1903 (Kurzgeschichte, Erstveröffentlichung in dem Sammelband „The Better Sort“)

mit Anaïs Demoustier, Tom Mercier, Béatrice Dalle, Martin Vischer, Sophie Demeyer, Pedro Cabanas, Mara Taquin, Bachir Tlili

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Das Tier im Dschungel“

AlloCiné über „Das Tier im Dschungel“

Rotten Tomatoes über „Das Tier im Dschungel“

Wikipedia über „Das Tier im Dschungel“ (deutsch, englisch, französisch)

Berlinale über „Das Tier im Dschungel“


Neu im Kino/Filmkritik: Die Frau mit berauschenden Talenten ist jetzt „Die Gewerkschafterin“

Mai 3, 2023

https://www.youtube.com/watch?v=NkbxhhEP67k

Maureen Kearney ist die mächtige und wenn sie etwas erreichen will sehr nervige Gewerkschaftsführerin bei dem französischen Industriekonzern Areva. Ihr neuestes Projekt ist die Verhinderung der Kooperation von Areva mit China beim Bau von Atomkraftwerken. Sie befürchtet, dass Arbeitsplätze und das französische Knowhow im Umgang mit der Atomenergie verloren gehen. Sie setzt alle Hebel in Bewegung, um das zu verhindern.

Die von ihr und ihrer Hartnäckigkeit genervten Firmenchefs und in das Geschäft involvierte Menschen versuchen sie zum Schweigen zu bringen. Denn sie könnte ihre Pläne durchkreuzen.

Als Kearney im Dezember 2012 in ihrem Haus überfallen und vergewaltigt wird, scheint daher klar zu sein, wer dafür verantwortlich ist.

In dem Moment nimmt Jean-Paul Salomés neuer Film eine interessante Wende. Ab diesem Moment stehen nicht mehr die bis dahin formidabel bedienten Erzähltopoi des Politthrillers französisicher Prägung im Mittelpunkt. Der Fokus verschiebt sich zur Vergewaltigung und ihren Folgen. Kearny, gewohnt überzeugend von Isabelle Huppert gespielt, verhält sich nicht wie ein typisches Vergewaltigungs-Opfer. Die Polizei glaubt ihr nicht und will beweisen, dass sie die Verwaltigung nur vortäuschte. Ihr gutmütiger Mann versucht ihr eine Stütze zu sein, weiß allerdings auch nicht, ob er ihr glauben kann.

Diese Vergewaltigung und ihre Folgen fanden erst Jahre später, in einer Gerichtsverhandlung einen Abschluss. Denn Kearney ist eine reale Figur. Die gesamte Filmgeschichte basiert auf einem wahren, bei uns unbekannten Fall. Und weil Salomé nah bei den Fakten bleibt, bleibt einiges im Dunkeln; – eigentlich so, wie wir es von den klassischen Polit- und Paranoia-Thrillern kennen, die den Reichen und Mächtigen jede Schandtat zutrauen.

Salomé und Huppert arbeiteten bereits in der grandiosen Hannelore-Cayre-Verfilmung „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ zusammen. Das war eine Krimikomödie. „Die Gewerkschafterin“ ist ein Polit- und Paranoia-Thriller, mit mindestens einem Schuss Claude Chabrol. Sehenswert sind beide Filme.

Die Gewerkschafterin ( La Syndicaliste, Frankreich/Deutschland 2022)

Regie: Jean-Paul Salomé

Drehbuch: Fadette Drouard, Jean-Paul Salomé

LV: Caroline Michel-Aguirre: La Syndicaliste, 2019

mit Isabelle Huppert, Grégory Gadebois, Yvan Attal, François-Xavier Demaison, Pierre Deladonchamps, Alexandra Maria Lara, Gilles Cohen, Marina Foïs, Mara Taquin

Länge: 121 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Die Gewerkschafterin“

Moviepilot über „Die Gewerkschafterin“

AlloCiné über „Die Gewerkschafterin“

Rotten Tomatoes über „Die Gewerkschafterin“

Wikipedia über „Die Gewerkschafterin“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Jean-Paul Salomés „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ (La daronne, Frankreich 2020) und der DVD