Neu im Kino/Filmkritik: Ti Wests „X“ ist sein Blutgericht in Texas

Mai 19, 2022

https://www.youtube.com/watch?v=4jTO_JL7RSA

Sie sind nicht die ersten, die auf die Idee gekommen sind. Schließlich begann in den USA die Porno-Hysterie 1972 mit dem Film „Deep Throat“. Der Porno hatte so etwas wie eine Handlung. Vor den Kinos, in denen er gezeigt wurde, bildeten sich lange Schlangen. Bekannte Persönlichkeiten sahen sich das Werk an und sprachen danach darüber.

1979 war diese Hysterie vorbei. Aber sicher konnte man mit einem Porno noch etwas Geld machen. Vor allem wenn der Film ohne ein Budget auf einer abgelegenen Farm in Texas gedreht wird. Das ist jedenfalls die geniale Idee von Barbesitzer Wayne Gilroy, der hier seinen ersten Film produzieren will.

Das einzige was Wayne benötigt, um seine Idee umzusetzen, sind einige junge, knackige Schauspieler und ein ebenso junger, ambitionierter Regisseur, der den Film als sein Ticket nach Hollywood sieht. Dafür darf er gleichzeitig als Kameramann und Toningenieur arbeiten.

Schnell findet Wayne diese Menschen und den richtigen Drehort. Die Regie übernimmt RJ Nichols. Er ist ein Filmstudent, der natürlich einen künstlerisch wertvollen pornographischen Film drehen möchte. Sein Vorbild ist Jean-Luc Godard. Das mutet etwas seltsam an, weil Godards wichtigste Filme in den Sechzigern entstanden. 1979 hatte er schon seit über zehn Jahren keine Filme fürs Kino mehr gedreht. Stattdessen experimentierte er, abseits der internationalen Öffentlichkeit, mit der damals neuen Videotechnik. Aber in Texas gehen die Uhren halt langsamer.

Die weiblichen Rollen in dem geplanten Epos „The Farmer’s Daughter“ werden von den Stripperinnen Maxine Minx und Bobby-Lynne Parker, die männliche Rolle von dem Vietnamveteran Jackson Hole übernommen. Dass er ein Schwarzer ist, der, wie es dem Klischee entspricht, offensiv seine sexuelle Potenz präsentiert, stört hier niemand. Es ist ja auch ein Teil des geplanten Films.

Fünfte im Bund ist Lorraine Day, die Freundin von RJ. Sie soll ihm bei der Arbeit helfen.

Diese Gruppe will innerhalb weniger Stunden im Gästehaus einer abgelegenen Farm ihr künftiges Meisterwerk drehen. Dass ihr Vermieter Howard etwas seltsam ist und an Gedächtnisproblemen leidet, stört sie nicht. Letzendlich sollen er und seine Frau Pearl, die sie aus einem Fenster im ersten Stock des Farmhauses beobachtet, sie nur in Ruhe ihren Film drehen lassen.

Dass der Dreh sich für die fünf Städter zu einem Horrortrip entwickeln wird, wissen Filmfans in dem Moment schon lange. Denn Ti West spart in seinem neuen Film „X“ (was das angestrebte Rating von Waynes Films ist) nicht mit Anspielungen auf Tobe Hoopers Horrorfilmklassiker „The Texas Chainsaw Massacre“ von 1974.

Für den Genrefan entwickelt sich so schnell ein ziemlich intelligentes und beim Erraten der Vorbilder amüsantes Spiel zwischen verschiedenen Metaebenen, Vorbildern aus dem pornographischen (weniger) und dem Horrorfilm (mehr) und „X“. Das gilt auch für die Reihenfolge der Morde und die Art ihres Ablebens.

Bis zum ersten Mord vergeht allerdings über eine Stunde. Auch danach, immerhin gibt es auf der Farm nur eine überschaubare Zahl an potentiellen Opfern, lässt Ti West sich Zeit. Für den Gore-Fan sind die in der Nacht stattfindenden Morde ziemlich enttäusend. Sie geschehen schnell und es ist immer so dunkel, dass sie mehr erahnt als gesehen werden.

Auch ist die Horrorstimmung niemals auch nur im Ansatz so beängstigend wie in „The Texas Chainsaw Massacre“.

So ist „X“ für den Fan des Siebziger-Jahre-Horrorfilms ein schönes, liebevoll ausgestattetes, stilbewusstes Erinnerungsstück, das auch etliche Anspielungen auf den pornographischen Film enthält.

X (X, USA 2022)

Regie: Ti West

Drehbuch: Ti West

mit Mia Goth, Jenna Ortega, Brittany Snow, Scott Mescudi, Martin Henderson, Owen Campbell, Stephen Ure, James Gaylyn, Matthew Saville

Länge: 106 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „X“

Metacritic über „X“

Rotten Tomatoes über „X“

Wikipedia über „X“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ti Wests „The Innkeepers“ (USA 2011)


Neu im Kino/Filmkritik: Fortsetzungen, auf die niemand gewartet hat. „The Strangers: Opfernacht“

Juni 21, 2018

2008 war Bryan Bertinos Horrorfilm „The Strangers“ über ein Paar, das von drei maskierten Personen terrorisiert und ermordet wird, ein Überraschungserfolg, der auch ganz gute Kritiken erhielt.

Seitdem wurde über eine Fortsetzung gesprochen und jetzt, nachdem schon niemand mehr ernsthaft damit rechnete, startet sie als „The Strangers: Opfernacht“ in unseren Kinos. Wieder geht es um eine Gruppe Menschen, die von Maskierten terrorisiert werden.

Dieses Mal ist es eine Familie, die auf der Fahrt zur neuen Schule ihrer renitenten Tochter eine Nacht in dem Ferienressort ihres Onkels verbringen wollen. Es ist einsam gelegen und so großflächig angelegt, dass man neben jeden Trailer ein, zwei Fußballfelder legen könnte. Es ist auch gerade die Zeit des Jahres, in der keine anderen Gäste dort sind. Deshalb liegt, als sie mitten in der Nacht eintreffen, im Empfangsgebäude des Ressorts ihr Schlüssel auf dem Tisch. Die vierköpfige Familie zieht, ohne mit ihrer Verwandtschaft gesprochen zu haben, in ihr Haus ein.

Kurz darauf klopft es an ihre Tür. Ein Mädchen fragt, ob Tamara zu Hause sei. Sie schicken sie weg. Kurz darauf klopft es wieder und eine Gruppe Maskierter beginnt sie zu jagen und zu ermorden.

So wie man es aus „The Strangers“ kennt. Aber in „The Strangers: Opfernacht“ ist alles größer geraten. Anstatt einem Liebespaar und ihrem später hinzugekommenem und schnell erschossenen Freund (was die maximale Zahl der Opfer auf drei begrenzt), steht dieses Mal eine typische amerikanische Familie mit Vater, Mutter, Tochter und Sohn im Mittelpunkt des Abschlachtens nach Schema F.

Es wird also munter und viel öfter als in „The Strangers“, der fast ausschließlich in einem Haus spielte, durch die Nacht gestolpert, geschrien, gerannt und gestorben. Mal mehr, aber öfter nicht besonders einfallsreich. Schließlich ist „The Strangers: Opfernacht“ mit den 80er-Jahre-Popsongs auch eine Hommage an den damaligen Slasher-Film und die, nun, haushaltsüblichen Mordinstrumente. Und, auch das kennt man aus unzähligen Horrorfilmen, manche Opfer haben ein erstaunlich langes Leben. Die Täter sowieso. Dabei ist die Bedrohung – wieder ein Mann mit einer hässlichen, groben Stoffmaske und zwei Frauen (Mädchen?) mit ihren Porzellanmasken – wieder, aufgrund ihrer Masken und ihres Schweigens, ziemlich bedrohlich. Aber wer vor dem Filmstart nicht einen Blick auf das Kinoplakat geworfen hat und eine Parallelität zwischen den drei maskierten Gestalten auf dem Plakat und der Zahl der maskierten Gestalten im Film vermutet, wird erstaunt feststellen, dass es Regisseur Johannes Roberts („The other Side of the Door“, „47 Meters Down“) während des gesamten Films nicht gelingt, zu zeigen, gegen wie viele Menschen die All-American-Mittelstandsfamilie sich wehren müssen.

Die Motive der Bösewichter sind hier noch kryptischer als im ersten Film, den man nicht gesehen haben muss, um die vollkommen eigenständige Fortsetzung zu verstehen. Im Gegensatz zu anderen Horrorfilmen, in denen die Mythologie von Film zu Film zunehmend ausgebaut wird, wird sie hier ausgelöscht. Es bleibt nur noch ein nichts erklärender Satz übrig. Auch die Inszenierung bietet keinen Subtext mehr an. Damit reiht sich einfach nur ein Mord(versuch) an den nächsten. Ohne Sinn und Verstand, aber mit großer Langeweile.

Verglichen mit neueren Horrorfilmen wie „Der Babadook“, „Get Out“, „A quiet Place“ und „Hereditary“ (gut, da hatte ich einige Probleme), über die man noch lange nach dem Abspann diskutieren konnte, ist „The Strangers: Opfernacht“ nur eine ambitionslose Zwischenmahlzeit für den anspruchslosen Horrorfan. Da helfen auch nicht die atmosphärischen Nachtaufnahmen und der Soundtrack.

The Strangers: Opfernacht (The Strangers: Prey at Night, USA 2018)

Regie: Johannes Roberts

Drehbuch: Bryan Bertino, Ben Ketai

mit Christina Hendricks, Martin Henderson, Bailee Madison, Lewis Pullman, Emma Bellomy, Lea Enslin, Damian Maffei

Länge: 85 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „The Strangers: Opfernacht“

Metacritic über „The Strangers: Opfernacht“

Rotten Tomatoes über „The Strangers: Opfernacht“

Wikipedia über „The Strangers: Opfernacht“


Neu im Kino/Filmkritik: „Everest“, wir Touris kommen!

September 17, 2015

Lange Jahre war der Mount Everest, der erst am 29. Mai 1953 von Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay erstmals bestiegen wurde, ein Berg für wenige, ausgezeichnete Bergsteiger. Bis dann, ab Ende der achtziger Jahre, kommerzielle Besteigungen organisiert wurden. Bei ihnen gelangten auch unerfahrene Bergsteiger auf den Gipfel. 1996 kam es zu einer Katastrophe, bei der innerhalb weniger Stunden acht Bergsteiger starben – und wenn ihr schon jetzt wissen wollt, was damals genau geschah und wer überlebte, kann es hier nachlesen. Einige werden auch Jon Krakauers Sachbuch-Bestseller „In eisige Höhen – Das Drama am Mount Everest“ (Into thin Air: A Personal Account of the Mt. Everest Disaster, 1997) gelesen haben. Krakauer war bei der Besteigung als Journalist dabei. Im Film wird er von Michael Kelly gespielt. Auch andere Überlebende schrieben Bücher darüber, die allerdings nicht so bekannt sind.
Aber auch wenn man die Geschichte kennt, wird man wohl gefesselt von Baltasar Kormákurs Bergsteiger-Drama „Everest“ (das man sich auch in 3D im IMAX ansehen kann) sein. Mit einer großen Besetzung – Jason Clarke, Josh Brolin, Jake Gyllenhaal, John Hawkes (eher ein Indie-Liebling) in den Hauptrollen, Sam Worthington und Emily Watson in wichtigen Nebenrollen, Keira Knightley und Robin Wright als zu Hause sitzende Bergsteigerfrauen – und einem Blick auf die fotogene Bergwelt (es wurde in Nepal und in den italienischen Alpen, im Val Senales und auf dem Senales-Gletscher, gedreht) erzählt Kormákur seinen Katastrophenfilm klassisch und chronologisch die Geschichte. Beginnend von der Ankunft der Bergsteiger in Kathmandu, über die Einführung des erfahrenen und sicherheitsbedachten „Adventure Consultans“-Bergsteigers Rob Hall (Jason Clarke) über die Gefahren des Berges, den ersten Erfahrungen der zahlenden Kunden (die alle ein kleines Vermögen für das Abenteuer ausgeben) am Berg und schließlich, zusammen mit der von Scott Fischer (Jake Gyllenhaal) geführten Gruppe seines Unternehmens „Mountain Madness“, am 10. Mai 1996 dem Aufstieg zum Gipfel. Insgesamt wollten an diesem Tag innerhalb weniger Stunden 34 Bergsteiger den Gipfel erreichen. Schon die letzte Etappe war, wegen des Wetters, problematisch. Der Abstieg, der in der zweiten Hälfte des Films geschildert wird, endet dann in der bekannten Katastrophe.
Baltasar Kormákur („The Deep“, „Contraband“, „2 Guns“) erfindet zwar den Bergsteigerfilm nicht neu, aber das wollte er auch nie. Er will nur, ohne Schuldzuweisungen und ohne eine eindeutige Position zu beziehen, die Geschichte einer angekündigten Katastrophe, die aus einer fatalen Mischung aus Gutwilligkeit, Überschätzung, Egoismus und Dummheit geschah, schildern. Denn nur weil ein Berg da ist, sollte nicht jeder auf ihn draufsteigen dürfen.
Das in „Everest“ geschilderte Unglück führte allerdings nicht zu einem Ende des Mount-Everest-Tourismus. Die Bergsteiger, die die Touren anboten, verbesserten ihre Gefahreneinschätzungen. So sagt Guy Cotter, Key Alpine Advisor des Films, der damals ebenfalls für „Adventure Consultans“ dabei war, seitdem Chef der Firma ist und von Sam Worthington gespielt wird: „Für uns als Große-Höhen-Bergführer-Bruderschaft waren die Ereignisse von 1996 sehr lehrreich. Wir haben uns anschließend viele Fragen gestellt, wie wir verhindern können, dass so etwas noch einmal passiert. Ich glaube, dass wir als Industrie, wenn man so will, davon erwachsen geworden sind. Rob [Hall] war definitiv auf seinem Höhepunkt, aber es war noch sehr früh in der Entwicklung des Bergführens in großen Höhen und manchmal überleben die Pioniere die Entdeckung der Parameter ihrer Umgebung nicht.“
Die Ausrüstung wurde besser und jetzt hinterlassen noch mehr Menschen ihren Müll auf dem Weg zum und auf dem Gipfel des höchsten Berges der Welt.
Zum Glück können wir das im gut klimatisierten Kinosaal tun. Denn, seien wir ehrlich, viel näher werden wir dem Mount Everest niemals kommen.

Everest - Plakat

Everest (3D) (Everest, USA/Großbritannien 2015)
Regie: Baltasar Kormákur
Drehbuch: William Nicholson, Simon Beaufoy
mit Jason Clarke, Josh Brolin, John Hawkes, Emily Watson, Jake Gyllenhaal, Martin Henderson, Michael Kelly, Keira Knightley, Sam Worthington, Ingvar E. Sigurdsson, Elizabeth Debicki, Thomas M. Wright, Naoko Mori, Robin Wright
Länge: 122 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Everest“
Moviepilot über „Everest“
Metacritic über „Everest“
Rotten Tomatoes über „Everest“
Wikipedia über „Everest“ (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood über „Everest“

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs “Contraband” (Contraband, USA 2012)

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs „2 Guns“ (2 Guns, USA 2013)