Neu im Kino/Filmkritik: „Schlaf“ – Bin ich wach?

Oktober 29, 2020

Lohnt es sich jetzt noch Kinokritiken zu schreiben und zu veröffentlichen? Schließlich sollen die Lichtspielhäuser ab Montag bis Ende November geschlossen sein und mein Postfach füllt sich mit Absagen von Pressevorführungen und Startterminen. Manchmal wird gleich ein neuer Starttermin genannt. Manchmal nicht.

Aber andererseits laufen die Filme jetzt an und sie können in den nächsten Tagen (und dann ab Dezember) auf der großen Leinwand gesehen werden. Dazwischen gibt es vielleicht wieder Kooperationsangebote, bei denen der Film auf einer speziellen Plattform gezeigt und der Erlös zwischen Verleih und Kino geteilt wird. Bei „Now“ (sehenswerte Doku von Jim Rakete über die aktuelle Umweltbewegung) ist das wahrscheinlich so. Bei „Schlaf“ vielleicht auch. Deshalb:

Marlene hat Alpträume. Jetzt glaubt sie, dass sie für das Hotel, das sie aus ihren Träumen kennt, eine Anzeige gesehen hat. Anstatt ihrer Arbeit als Stewardess nachzugehen, macht sie sich, ohne es ihrer Tochter zu sagen, auf den Weg zu dem Hotel Sonnenhügel in Stainbach.

Kurz darauf erhält Mona die Nachricht, ihre Mutter liege katatonisch in einer Klinik. Mona macht sich auf den Weg nach Stainbach. Sie will herausfinden, was mit ihrer Mutter geschah.

Schnell ist sie in einem Geflecht zwischen Realität und (Alp)traum gefangen, in dem es nicht nur Mona zunehmend schwer fällt zu unterscheiden, ob sie gerade wach ist oder träumt. Für den Genrefan eröffnet sich in diesem Moment in Michael Venus‘ Kinospielfilmdebüt „Schlaf“ die Möglichkeit, die einzelnen Zeichen zu deuten. Das erinnert natürlich an David Lynch; vor allem „Twin Peaks“, aber auch „Lost Highway“ und „Mulholland Drive“. Venus nennt noch Grimms Märchen, George A. Romeros „Night of the Living Dead“ und Mario Bavas „Operazione paura“ (Die toten Augen des Dr. Dracula) als Einflüsse. Er hätte auch jeden anderen Horrorfilm von Mario Bava oder einen der Klassiker von Dario Argento nennen können. Es sind Filme, die sich einer banalen Erklärung entziehen, während sie sich mit verdrängten Gefühlen, Ereignissen und Wünschen beschäftigen.

Auch in „Schlaf“ haben alle Figuren mindestens ein Geheimnis. Sie verhalten sich immer etwas seltsam. Und wenn Mona als einziger Hotelgast durch das riesige leere, einsam im Wald liegende Hotel streift, sind Gedanken an das Overlook Hotel naheliegend.

Neben diesen Anspielungen, die das Herz der Genrefans erfreuen ohne den Film zu einer reinen Zitat-Parade verkommen zu lassen, enthüllt Michael Venus in seinem Horrorfilm langsam eine mehrfach miteinander verwobene Familiengeschichte zwischen deutscher Gegenwart und Vergangenheit, über die hier nichts verraten werden soll.

Schlaf“ ist ein gelungener, visuell überzeugender und stilsicherer Horrorfilm aus Deutschland, der wegen seiner Geräuschkulisse auf der richtigen Anlage in der nötigen Lautstärke genossen werden sollte.

Schlaf (Deutschland 2020)

Regie: Michael Venus

Buch: Thomas Friedrich, Michael Venus

mit Gro Swantje Kohlhof, Sandra Hüller, August Schmölzer, Marion Kracht, Max Hubacher, Martina Schöne-Radunski, Katharina Behrens, Agata Buzek, Andreas Anke, Benjamin Heinrich, Josefin Schäferhoff, Samuel Weiss

Länge: 101 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Schlaf“

Moviepilot über „Schlaf“

Rotten Tomatoes über „Schlaf“

Wikipedia über „Schlaf“

Berlnale über „Schlaf“


Neu im Kino/Filmkritik: „So was von da“ in dieser Silvesterfeier

August 18, 2018

Für Oskar soll es eine unvergessliche Nacht werden. Immerhin ist diese Silvesternacht auch die letzte Nacht von seinem Club. Es soll in dem eh schon abbruchreifen Szene-Club, der sich anscheinend nie um irgendwelche Vorschriften kümmerte, eine Party gefeiert werden, die St. Pauli und Hamburg nie vergessen.

Love Steaks“-Regisseur Jakob Lass verfilmte Tino Hanekamps autobiographischen Roman „So was von da“ als „improvisierte Romanverfilmung“. Das heißt: es gab ein rudimentäres Drehbuch, die Schauspieler durften und mussten auf dieser Grundlage improvisieren und nachher, im Schnitt, wird dann alles mit Voice-Over und Musik zwischen Punk und Techno zusammengefügt. So entstand ein alkohol- und drogengeschwängerter Fiebertraum, der wie ein wilder Zusammenschnitt der Höhepunkte einer Nacht wirkt. Wie ein roter Faden ziehen sich dabei Oskars Probleme mit seinem Kredithai Kiez-Kalle, der jetzt sein Geld will, durch den Film. Er trifft wieder seine große Schulhofliebe. Er streitet und verbrüdert sich mit seinen Geschäftspartnern und Freuden; meistens sind sie beides gleichzeitig und selten kommen sie über kraft- und lustvoll ausgefüllte Klischees (Kiez-Kalle!) hinweg. Es gibt live und aus der Konserve einen ununterbrochenen Musikteppich. Der todkranke ‚falsche Elvis‘ (Bela B Felsenheimer) steht stumpf auf der Gitarre improvisierend auf der Bühne und will sie nicht mehr verlassen. Seine extrem zickigen Ehefrau, die gleichzeitig die amtierende, rechtsauslegende Innensenatorin (Corinna Harfouch) ist, besucht auf der Suche nach ihrem Mann den Club, den sie lieber gestern als heute schließen würde. Und dann steckt sie im Fahrstuhl fest. Ihr Sohn tritt mit seiner erfolgreiche Punkband im Club auf. Und wir sehen – Zum Glück gibt es kein Geruchskino! – Hamburgs schmutzigste Toilette.

In all dem hochenergetischen Chaos fehlt dann nur der normale Partyleerlauf. Wenn man stundenlang drogenumnebelt dumpf vor sich hin starrt oder sich tödlich langweilt, weil gerade nichts aufregendes passiert. Bei Lass stellt sich dagegen ein anderer Leerlauf ein: denn bei aller Hektik, passiert letztendlich nichts weltbewegendes in dieser Silvesternacht. Es ist dieser atemlose Stillstand, der aber in neunzig Filmminuten nicht langweilt, weil ja ständig etwas passiert und Oskar alle Hände voll zu tun hat, die alle Regeln ignorierende Party zu überleben.

So was von da“ ist herrlich pulsierendes Jugendkino, das nichts mit der Bräsigkeit der meisten deutschen Filme gemein hat.

So was von da (Deutschland 2018)

Regie: Jakob Lass

Drehbuch: Jakob Lass, Hannah Schopf

LV: Tino Hanekamp: So was von da, 2011

mit Niklas Bruhn, Martina Schöne-Radunski, David Schütter, Mathias Bloech, Tinka Fürst, Bela B Felsenheimer, Corinna Harfouch, Kalle Schwensen, Swiss

Länge: 91 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „So was von da“

Moviepilot über „So was von da“

Wikipedia über „So was von da“