Neu im Kino/Filmkritik: „The Inspection“: Hast du das Zeug zum US-Marine?

August 24, 2023

Für Ellis French ist es die letzte Chance. Seine Mutter hat ihn rausgeworfen. Sie kann und will nicht akzeptieren, dass er schwul ist. Seitdem lebt er auf der Straße. Seine Zukunftsaussichten sind düster. Letztendlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis er stirbt. Das hat er in den vergangenen Jahren bei vielen seiner ebenfalls obachlosen Freunde gesehen. Um diesem Schicksal zu entgehen, bewirbt er sich bei den US-Marines. Die erste Station ist ein Bootcamp, in dem gnadenlos ausgesiebt wird.

In seinem Spielfilmdebüt „The Inspection“ erzählt Elegance Bratton letztendlich seine Geschichte und damit auch, wie es ist, in einer Institution, die Homosexualität ablehnt, als schwuler schwarzer Mann zu bestehen. Denn schnell bemerkt French, dass er nicht der einzige Schwule in dem Bootcamp ist. Aber – der Film spielt 2003 – niemand redet darüber.

Bratton schildert das Leben im Bootcamp akribisch, fast schon dokumentarisch, ohne irgendeine kritische Distanz und ohne konkrete Zeitbezüge. Wenn es im Film nicht den Hinweis gäbe, dass er vor zwanzig Jahren spielt, könnte er genausogut vor vierzig Jahren oder heute spielen. Durch den Hinweis auf das Handlungsjahr wird „The Inspection“ zu einem historischen Film, bei dem das Militär sich auf die Schulter klopfen kann. Die „Don’t ask. Don’t tell.“-Zeit im Umgang mit der Homosexualität ist vorbei. Heute loben hochrangige Offiziere in öffentlichen Anhörungen gegenüber konservativen Politikern überschwänglich die Leistungen queerer Soldaten. Aber die Ausbildung dürfte heute noch genauso wie damals ablaufen. Gleiches gilt für das Verhalten der Rekruten untereinander.

Für den historischen Hintergrund interessiert Elegance Bratton sich nicht weiter. 9/11 und der darauf folgende ‚war on terror‘ werden nicht angesprochen. Dabei meldeten sich nach dem Anschlag auf das World Trade Center zahlreiche junge Männer freiwillig beim US-Militär. Sie wollten ihr Land gegen islamistische Terroristen verteidigen.

French ist das egal. Er hat sich beim Militär nur gemeldet, um nicht auf der Straße zu sterben.

Das Bootcamp schildert Bratton dann, bis auf wenige Momente, in denen wir in Frenchs Kopf sind, quasi-dokumentarisch, beobachtend und ohne Wertungen. Eigentlich schildert er diese Ausbildung, die darauf angelegt ist, Menschen zu brechen, sie zu Mördern und Befehlsempfängern zu machen, als eine gute Schule der Mannwerdung. Im Gegensatz zu Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“, der die Ausbildung und das Sterben auf dem Schlachtfeld zeigt, zeigt Bratton nur das Bootcamp, das aus einem schwulem Obdachlosen einen Befehle empfangenden Uniformträger macht; – jedenfalls wenn er das Bootcamp erfolgreich abschließt. Danach ist er „Ein Offizier und Gentleman“.

Letztendlich ist „The Inspection“ gut gemachte Militärpropaganda für das Arthaus-Kino.

The Inspection (The Inspection, USA 2022)

Regie: Elegance Bratton

Drehbuch: Elegance Bratton

mit Jeremy Pope, Bokeem Woodbine, Gabrielle Union, Raúl Castillo, McCaul Lombardi, Aaron Dominguez, Nicholas Logan, Eman Esfandi, Andrew Kai, Aubrey Joseph

Länge: 95 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „The Inspection“

Metacritic über „The Inspection“

Rotten Tomatoes über „The Inspection“

Wikipedia über „The Inspection“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „American Honey“ – das ist nicht der amerikanische Traum

Oktober 14, 2016

Star beobachtet in einem Wal-Mart in Muskogee, Oklahoma, wie Jake und seine Bande Jugendlicher über die Kassen tanzen, singen und klauen. Sie hat vorher für ihre beiden jüngeren Geschwister in den Mülltonnen nach Essen gesucht. Ihre Eltern sind für sie nur Ballast. White Trash in Reinkultur eben. Deshalb nimmt Star auch sofort das Angebot von Jake an, bei ihnen mitzufahren. Sie verkaufen im mittleren Westen der USA an Haustüren Zeitungsabos. Für die jugendliche Star ist ein Platz in einer Drückerkolonne schon eine gesellschaftliche Verbesserung und es sieht nach einem großen Abenteuer aus.

Ein Abenteuer das Andrea Arnold in „American Honey“ mit unruhiger Handkamera, die immer extrem nah bei ihren jugendlichen Charakteren ist, erzählt. Das weckt Erinnerungen an Larry Clarks „Kids“, der vor über zwanzig Jahren sein freizügiges und tabuloses Porträt einiger New Yorker Jugendlicher in neunzig Minuten erzählte. Auch der Dogma-95-Einfluss ist unübersehbar. Das war, zur Erinnerung, ein Manifest, in dem einige dänische Regisseure sich verpflichteten, nur noch mit natürlichem Licht, ohne Sets und zusätzliche Ausstattung, nur mit Handkamera und im Academy-35-mm-Filmformat zu drehen. Das 35-mm-Format benutzt Andrea Arnold auch in einigen Szenen. Und sie engagierte für ihren chronologisch gedrehten Film, bei dem erkennbar viel improvisiert wurde, fast ausschließlich Debütanten.

Die Inspiration für ihren Film war Ian Urbinas 2007 in der New York Times erschienene Reportage „Door to Door: Long Days, Slim Rewards; For Youths, a Grim Tour on Magazine Crews“ über die Subkultur umherziehender, gesetzlich kaum kontrollierter Drückerkolonnen in den USA. Arnold unternahm auch eigene Recherchen und entdeckte, dass die Mitglieder der Drückerkolonne, die teilweise zum ersten Mal weg von zu Hause waren, die Arbeit als Lebensstil ansahen und sich als chaotische Ersatzfamilie betrachteten.

In dem Film ist die von Crystal mit harter Hand geführte, von der restlichen Welt abkoppelte Ersatzfamilie eine darwinistische, quasireligiöse Gemeinschaft, die über Druck, Unterdrückung, Ausbeutung, Angst und finanzielle Anreize funktioniert. Crystals System ist schnell zu durchschauen, wird aber von den Jugendlichen widerspruchslos akzeptiert.

American Honey“ ist als Porträt einer Subkultur, eines Lebensstils und -gefühls, das nur den Augenblick kennt, faszinierend anzusehen. Aber über die Laufzeit von gut drei Stunden hat „American Honey“ auch mit einigen Problemen zu kämpfen. Nach dem Beginn ihrer Reise mäandert der Film zunehmend vor sich hin. Es ist eine Reise ohne ein Ziel durch verschiedene Nicht-Orte und austauschbare Vororte, die nicht zum Verweilen einladen. Auch die Liebesgeschichte zwischen Star, gespielt von der Debütantin Sasha Lane, und Jake, charismatisch gespielt von Shia LaBeouf, dient kaum als roter Faden zwischen Stars Begegnungen mit verschiedenen Kunden. Die anderen Mitglieder der Drückerkolonne bleiben austauschbar. Wir erfahren in den drei Stunden nichts über sie, was wir nicht schon während der ersten Vorstellungsrunde im Kleinbus erfahren. Entsprechend oberflächlich bleibt das Bild von Stars Ersatzfamilie, das Arnold in aufgrund des dokumentarischen Gestus oft etwas zu lang geratenen Szenen zeichnet.

So ist „American Honey“, das dieses Jahr in Cannes den Großen Preis der Jury erhielt, ein sehenswerter, aber auch deutlich zu lang geratener Film über einen Aufbruch ohne Ziel und ohne Ende, aber mit vielen redundanten Wiederholungen.

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American Honey (American Honey, USA/Großbritannien 2016)

Regie: Andrea Arnold

Drehbuch: Andrea Arnold

mit Sasha Lane, Shia LaBeouf, Riley Keough, Verronikah Ezell, McCaul Lombardi, Raymond Coalson, Garry Howell, Christopher David Wright, Shawna Rae Moseley, Crystal B. Ice, Will Patton

Länge: 164 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „American Honey“

Metacritic über „American Honey“

Rotten Tomatoes über „American Honey“

Wikipedia über „American Honey“ (deutsch, englisch)

Die Cannes-Pressekonferenz