Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Delia Owens‘ „Der Gesang der Flusskrebse“ im Sparks-Land

August 18, 2022

Am 30. Oktober 1969 entdecken zwei spielende Jungen im Marschland die Leiche von Chase Andrews. Trotz einer dünnen Beweislage wird Kya Clark angeklagt, ihn heimtückisch ermordet zu haben.

Im Dorf ist sie als das Marschmädchen bekannt. Diesen Spitznamen hat sie bekommen, weil sie seit ihrer Geburt in North Carolina im Marschland, dem lebendigem Teil des Sumpfes, lebt. Zunächst mit ihrer Familie, später allein.

Delia Owens erzählt in ihrem Romandebüt „Der Gesang der Flusskrebse“ Kyas Geschichte. Owens ist eine 1949 geborene Zoologin, die mit ihrem Mann Jahrzehnte in Botswana uns Sambia in der Wildnis forschte. Wegen damaliger, nie restlos aufgeklärter Aktionen gegen Wilderer soll sie in Sambia vor Gericht aussagen. Sie weigert sich. Wer will, kann kann ihr Romandebüt als ein kaum verklausuliertes Geständnis oder eine vollkommen fiktive Bearbeitung dieses Mordvorwurfs lesen. Oder einfach als eine unterhaltsame Geschichte.

Owens erzählt in „Der Gesang der Flusskrebse“ die Geschichte von Kya als eine gut zu lesende Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Naturbetrachtung und Gerichtsdrama; wobei die Kriminalgeschichte der enttäuschendste Teil des Romans ist.

Der Roman wurde sofort ein Bestseller. In den USA wurden bis jetzt über 15 Millionen Exemplare verkauft. Damit gehört „Der Gesang der Flusskrebse“ dort zu den größten Bestsellern. In Deutschland stand das Werk 2020 jede Woche auf einem der ersten zwanzig Plätze der Spiegel-Bestsellerliste.

Hollywood, in diesem Fall Reese Witherspoon und ihre Firma, kaufte die Verfilmungsrechte. Und jetzt startet die Verfilmung in unseren Kinos. Olivia Newman übernahm die Regie. Lucy Alibar schrieb das Drehbuch. Sie ist eine der beiden Autorinnen von „Beasts of the Southern Wild“. Und Daisy Edgar-Jones übernahm die Hauptrolle. Sie spielt Kya als junge Frau.

Der Film folgt, wie wir es von Bestseller-Verfilmungen gewohnt sind, weitgehend der Vorlage. Wer also den Roman kennt, wird hier und da eine andere Nuance entdecken, und den Täter kennen. Größere Veränderungen, die allerdings nichts an der Struktur der Geschichte und dem Ablauf der Handlung ändern, gibt es eigentlich nur im Vorfeld bei den Ermittlungen der Polizei und in der Gerichtsverhandlung. Beide Male nimmt sie viel Erzählzeit in Anspruch. Trotzdem ist der Krimiplot im Buch und im Film der wirklich ärgerliche Teil. Sie wird mitgeschleppt und teilweise episch ausgebreitet. Beide Male, ohne jetzt ins Detail zu gehen, überzeugt die Planung und Durchführung der Tat nicht. Im Roman wirken die Ermittlungen der Polizei immer so, als habe Owens ihr Wissen aus dem Ansehen von „C. S. I.“-Folgen in die Vergangenheit übertragen.

Erzählt wird Kyas Geschichte mit zahlreichen Zeitsprüngen.

Im Jahr 1969 wird vor allem das Gerichsverfahren geschildert. Ihr Verteidiger ist Tom Milton (David Strathairn im James-Stewart-Modus). Er ist ein pensionierter Kleinstadtanwalt, der Kya helfen will und sich deshalb freiwillig meldete. Und obwohl viele Szenen im Gerichtssaal spielen, erfahren wir erst in Miltons Schlussplädoyer, warum Kya verdächtigt wird und wie sie den Mord begangen haben soll.

In der Vergangenheit, also ab 1952, erfahren wir, wie Kyas Familie im Marschland lebt, wie die einzelnen Familienmitglieder, beginnend mit der Mutter, die von ihrem Mann nicht mehr geschlagen werden will, das Haus verlassen. Damals ist Kya sechs Jahre alt und sie ist das jüngste Kind der Familie. Vier Jahre später verschwindet Kyas gewalttätiger und trunksüchtiger Vater. Die in dem Moment zehnjährige Kya bleibt allein in der im Sumpf stehenden Bretterbude zurück. Sie versorgt sich allein und erzählt niemand davon. Denn sie will unter keinen Umständen in eine Pflegefamilie kommen. Sie lernt Tate Walker kennen. Er interessiert sich ebenfalls für die Tiere und Pflanzen im Marschland. Der feinfühlige Junge bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Und er respektiert sie so, wie sie ist. Er will ihr nicht seinen Willen aufzwingen oder sie in seinem Sinn verändern. Sie verlieben sich ineinander. Aber dann geht er an die Universität.

Kyas zweite große Liebe ist Chase Andrews, ein arroganter und latent gewaltätiger Schönling, Footballstar und Sohn vermögender Eltern. Obwohl er Kya umwirbt, ist es eine aussichtslose Liebe. Denn er plant eine Heirat mit einem der Mädchen aus der Kleinstadt Barkley Cove.

Der Film erzählt Kyas Geschichte als eine typische Nicholas-Sparks-Liebesgeschichte im Setting eines Fünfziger-Jahre-Hollywood-Dramas. Es gibt etwas Verbrechen, etwas Liebe, etwas Coming of Age, einige Naturbetrachtungen, Kleinstadtfolklore und einige sanft angedeutete Konflikte zwischen den Menschen und Rassen. Alles ist zu sauber. Es gibt ein schlecht entwickeltes Südstaaten-Gerichtsdrama mit einem netten Anwalt und vielen Szenen im Gerichtssaal. Es gibt eine Frau zwischen zwei Männern. Das ist der Stoff, der in den Nicholas-Sparks-Verfilmungen, die alle vorhersehbare Schmonzetten sind, besser präsentiert wird.

In „Der Gesang der Flusskrebse“ finden die Macher nie eine eigene Haltung zur Geschichte. Also illustrieren sie nur die Vorlage und verwässern sie. Das gilt vor allem für Kya, deren Lebensphilosophie die des Marschlandes und damit der dort lebenden Tiere, die sich gegenseitig fressen, ist.

Kyas Geschichte ist kompetent inszeniert und gespielt. „Der Gesang der Flusskrebse“ gehört zu den Filmen, die nie wirklich schlecht, aber auch nie gut sind. Er bedient lediglich die Erwartungen der unzähligen Leser des Romans, die die Geschichte des Romans möglichst ohne irgendwelche Reibungsverluste als Film sehen wollen.

Der Gesang der Flusskrebse (Where the Crawdads sing, USA 2022)

Regie: Olivia Newman

Drehbuch: Lucy Alibar

LV: Delia Owens: Where the Crawdads sing, 2018 (Der Gesang der Flusskrebse)

mit Daisy Edgar-Jones, Taylor John Smith, Harris Dickinson, Michael Hyatt, Sterling Macer Jr., David Strathairn, Garret Dillahunt, Jojo Regina

Länge: 126 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse

(übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann)

Heyne, 2021

464 Seiten

11,99 Euro

Originalausgabe

Where the Crawdads sing

G. P. Putnam’s Sons, 2018

Deutsche Erstausgabe

hanserblau, 2019

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Der Gesang der Flusskrebse“

Metacritic über „Der Gesang der Flusskrebse“

Rotten Tomatoes über „Der Gesang der Flusskrebse“

Wikipedia über „Der Gesang der Flusskrebse“ (Film) (deutsch, englisch), „Der Gesang der Flusskrebse“ (Roman) (deutsch, englisch) und Delia Owens (deutsch, englisch)

Perlentaucher über „Der Gesang der Flusskrebse“

Bookmarks über „Der Gesang der Flusskrebse“


Neu im Kino/Filmkritik: Cop Denzel Washington entdeckt „The little Things“

Juli 8, 2021

Kleinstadt-Cop Joe ‚Deke‘ Deacon (Denzel Washington) fährt von Kern County nach Los Angeles. Er soll einige Beweismittel abholen. Dort, nach einer zweieinhalbstündigen Autofahrt, trifft der Mann mit dem Blick für Details auf seine alten, ihn betont reserviert begrüßende Kollegen (sein Abschied war wohl etwas problematisch), seinen strebsamen Nachfolger, Sergeant Jim Baxter (Rami Malek), und einen Mordfall, der ihn an einige andere Fälle erinnert. Baxter bittet ihm, gegen den Rat seiner Kollegen, um Mitarbeit in dem Serienkillerfall und der gestandene Krimifan fragt sich, ob die Welt wirklich noch einen weiteren Serienkillerthriller benötigt. In den neunziger Jahren waren sie, beginnend mit „Das Schweigen der Lämmer“, fortgesetzt mit unzähligen Variationen, wenige sehr gelungene, wie „Se7en“, etliche okaye, wie „Copykill“ („Copycat“) und „Der Knochenjäger“ („The Bone Collector“, ebenfalls mit Denzel Washington), ein Trend im Kino, in dem die Morde, die Motive und auch die Täter immer exzentrischer wurden. Seitdem sind sie vor allem in TV-Krimis zu finden.

Da wirkt „The little Things“ wie ein weiterer, mindestens zwanzig Jahre zu spät kommender Nachklapp. Aber in diesem Fall ist es etwas anders. Denn Regisseur John Lee Hancock schrieb das Drehbuch für die 1990 spielende Geschichte bereits in den frühen Neunziger. Verschiedene Versuche, es zu verfilmen, unter anderem mit Clint Eastwood, scheiterten. Warum es gerade jetzt gelang, ist etwas rätselhaft. Der Plot folgt brav den inzwischen sattsam vertrauten Konventionen und der spätestens seit „Se7en“ etablierten Idee, einen älteren, erfahrenen, illusionslosen Ermittler und einen jungen, unerfahrenen, naiven, in diesem Fall christlich überzeugten Ermittler, gemeinsam ermitteln zu lassen. Etwas überraschend in Hancocks ruhig erzähltem Film ist, wie sehr die Ermittler sich auf die Arbeit des Kriminallabors verlassen. Das wurde erst 2000 mit den zahlreichen „CSI“-TV-Serien zu einem Standard im Genre.

Der Mörder, oder, um jetzt nichts zu spoilern, den Mann, den Deacon und Baxter für den Täter halten, ist ein intelligenter Psychopath mit Charles-Manson-Gedächtnisfrisur. Gespielt wird Albert Sparma von Jared Leto angenehm bedrohlich. Also mehr so bedrohlich wie der nervige, ständig aus dem Fenster stierende, wahrscheinlich illegale Drogen konsumierende Nachbar und weniger wie der mörderisch-axtschwingende Nachbar.

Hancock ist mit Filmen wie „Blind Side – Die große Chance“, „Saving Mr. Banks“ und „The Founder“ vor allem als Schauspielerregisseur und nicht als Thriller-Regisseur aufgefallen. Wobei auch in dem Neo-Noir „The little Things“ der Fokus nicht auf der eigentlich nicht vorhandenen Action und dem kaum vorhandenen Thrill liegt. Viel mehr interessiert er sich für seine Figuren. Er zeigt sie auch in ihrer Freizeit und mit ihrer Familie und ihren Freunden. Den Fall entwickelt er äußerst geduldig, Schritt für Schritt und mit einem Blick auf die titelgebenden Kleinigkeiten.

Das ist nicht schlecht. Aber letztendlich bleibt alles zu sehr in den inzwischen zweihundertprozentig etablierten Genrestandards (das war 1993 anders), um wirklich zu begeistern. Die immer wieder eingestreuten christlichen Symbole, Kreuze, Kirchtürme und Gebete deuten eine christlich konnotierte Behandlung von Schuld und Sühne an, ohne dass sie in der Filmgeschichte konsequent vertieft wird. So ist „The little Things“, nach all den Serienkillerthrillern der vergangenen Jahrzehnte ein überflüssiger Nachklapp.

The little Things (The little Things, USA 2021)

Regie: John Lee Hancock

Drehbuch: John Lee Hancock

mit Denzel Washington, Rami Malek, Jared Leto, Natalie Morales, Terry Kinney, Chris Bauer, Josis Jarsky, Isabel Arraiza, Michael Hyatt

Länge: 128 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „The little Things“

Metacritic über „The little Things“

Rotten Tomatoes über „The little Things“

Wikipedia über „The little Things“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von John Lee Hancocks „Saving Mr. Banks“ (Saving Mr. Banks, USA/Großbritannien/Australien 2013)

Meine Besprechung von John Lee Hancocks „The Founder“ (The Founder, USA 2016)