Buchkritik über „Der Mann, der das Kino liebte – François Truffaut und seine Filme“

Mai 12, 2025

Er liebte das Kino, wurde von ihm erzogen, erhielt Lebensberatung, betrachtete es als große Kunst, als es noch als niedere Kunst, mit der man sich nicht ernsthaft beschäftigen muss, betrachtet wurde, und er inszenierte Filme, die das weitergaben, was er im Kino gelernt hatte, bewunderte und liebte. Und er war, bevor er zum auch international geachteten Regisseur wurde, ein gefürchteter Kritiker bei der „Cahiers du Cinéma“. Sein bekanntester Text aus der Zeit ist „Eine gewisse Tendenz im französischen Film“, in dem er sich gegen die im französischen Kino herrschende ‚Tradition der Qualität‘ wandte.

Gegen dieses Kino inszenierte er zwischen seinem Debüt „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (1959) und seinem letzten Film „Auf Liebe und Tod“ (1983) insgesamt 21 Spielfilme, die zum Kanon des französischen Kinos gehören. Am 21. Oktober 1984 starb François Truffaut mit 52 Jahren an einem unheilbarem Gehirntumor. Noch heute hat er Bewunderer. Mit einigen unterhielt Josef Schnelle sich für ein in der Langen Nacht des Deutschlandfunks am 4./5. Mai 2024 ausgestrahltes Radiofeature, das er anschließend zu dem reichhaltig illustrierten Buch „Der Mann, der das Kino liebte – François Truffaut und seine Filme“ ausbaute. Es handelt sich um eine sehr gelungene Collage aus für dieses Feature aufgenommenen Gesprächen mit Michael Klier (Regisseur, der in den sechziger Jahren in Paris auch bei Truffaut hospitierte), Hans-Christoph Blumenberg (ehemaliger Filmkritiker und seit 1984 Spielfilmregisseur), Robert Fischer (Filmpublizist, Übersetzer und Vertrauter Truffauts in Deutschland) und Gertrud Koch (feminstische Filmwissenschaftlerin), Selbstauskünften von Truffaut, Ausschnitten aus seinen Filmen (mit Bildern) und verbindenden Texten. Oder in der Sprache des Films: Das Buch ist ein auf einem Drehbuch basierender ‚Roman zum Film‘.

Schnelle klappert dabei nicht chronologisch Truffauts Filme ab, sondern nähert sich ihm und seinem Werk aus verschiedenen Perspektiven. Im Zentrum steht, wenig überraschend, Truffauts Film „Eine amerikanische Nacht“ über die Dreharbeiten zu einem Film. Truffaut schrieb, zusammen mit Jean-Louis Richard und Suzanne Schiffman, das Drehbuch, führte Regie und übernahm, wie bei einigen wenigen seiner Film, auch die Hauptrolle. Er spielte den Regisseur. „Eine amerikanische Nacht“ ist immer noch einer der besten, um nicht zu sagen der definitive Film über den Dreh eines Film und die die Dreharbeitenden begleitenden großen und kleinen Katastrophen. Truffauts Debüt „Sie küssten und sie schlugen ihn“, seine weiteren, über Jahrzehnte entstandenen Antoine-Doinel-Filme, „Jules und Jim“, „Der Mann, der Frauen liebte“, „Taschengeld“ und „Der Wolfsjunge“ (in beiden Filmen stehen Kinder im Zentrum) nehmen ebenfalls einen breiteren Raum ein. Seine anderen Filme werden meist nur kurz gestreift.

Wichtige Themen in dem Buch sind Truffauts Arbeit als Filmkritiker und seine Liebe zum Kino, seine sich von Freund- zu Feindschaft wandelnde Beziehung zu Jean-Luc Godard, seine Beziehung zu Frauen und Kindern und was den Truffaut-Touch ausmacht. Es handelt sich dabei um seinen liebevollen Blick auf die Menschen, der in all seinen Filmen, die Komödien, Dramen, Kriminalfilme, historische Dramen, Science Fiction vorhanden ist und sie miteinander verbindet.

Schnelles Buch ist eine kundige und konzentrierte Einführung in das Werk des Cinephilen François Truffauts. Langjährige Bewunderer Truffauts werden danach wieder einen seiner Filme sehen wollen. Alle andere sollten das Buch als eine mühelos zu lesende Einladung verstehen, sich mit Truffaut und seinen Filmen zu beschäftigen. Als Einstieg können die hier genannten Filme dienen.

Und danach, immerhin erscheint meine Besprechung in der „Kriminalakte“, seine Noirs „Schießen Sie auf den Pianisten“ (nach einem Roman von David Goodis), „Die Braut trug schwarz“ (nach einem Roman von Cornell Woolrich), „Das Geheimnis der falschen Braut“ (nach einem Roman von William Irish) und „Auf Liebe und Tod“ (nach einem Roman von Charles Williams) ansehen.

Josef Schnelle: Der Mann, der das Kino liebte – François Truffaut und seine Filme

Schüren, 2025

156 Seiten

25 Euro

Hinweise

Schüren über das Buch

Wikipedia über François Truffaut (deutsch, englisch, französisch)

Erster Teil meines Francois-Truffaut-Porträts (mit einer Besprechung von Emmanuel Laurents “Godard trifft Truffaut”)

Zweiter Teil meines Francois-Truffaut-Porträts: Die Antoine-Doinel-Filme

Kriminalakte über Francois Truffaut


Neu im Kino/Filmkritik: Über Michael Kliers „Idioten der Familie“

September 14, 2019

Weil Heli (Jördis Triebel), die jahrelang auf ihre jüngere Schwester aufpasste, als Malerin noch einmal künstlerisch durchstarten will, soll Ginnie (Lilith Stangenberg) in ein Heim. Bis jetzt lebte die geistig schwer behinderte sechsundzwanzigjährige Ginnie im Haus der verstorbenen Eltern.

Wenige Tage vor diesem für Ginnie entscheidenden Ortswechsel sind ihre Brüder Frederik (Kai Scheve), Tommie (Hanno Koffler) und Bruno (Florian Stetter) noch einmal für ein Wochenende in ihr Elternhaus gekommen.

In diesem Moment beginnt Michael Kliers neuer Film „Idioten der Familie“. Nur langsam erschließt sich der von mir eingangs geschilderte Grund für diese Familienzusammenkunft, in der die Geschwister noch einmal darüber sprechen, ob sie bezüglich Ginnie die richtige Entscheidung getroffen haben. Dabei wird der Wechsel in die Behinderten-Wohngruppe so dramatisiert, als ob sie ihre Schwester danach nicht mehr sehen können. Das ist natürlich Unfug. Sowieso ist Ginnies Umzug nur der austauschbare Grund für das Geschwistertreffen. Ginnie irrlichtert durch den Film, während ihre Geschwister allesamt um sich selbst kreisen und ihre Lebenslügen pflegen. Die Egozentriker entfachen jetzt einen Sturm im Wasserglas. Nach dem Wochenende werden vor allem die Brüder schnell wieder in ihr Leben ohne ihre behinderte Schwester zurückkehren und sie in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren wahrscheinlich genauso oft besuchen, wie sie es in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren getan haben.

Das fast ausschließlich in dem Haus und Garten spielende Drama wirkt mehr wie eine improvisierte Probe an einem Wochenende im Haus eines Freundes als wie ein richtiger Film. Denn aus den einzelnen Szenen ergibt sich keine richtige Geschichte, sondern nur eine Abfolge verschieden befremdlicher Episoden, in denen die Geschwister sich lieben und hassen, auf die Nerven gehen, versöhnen und auch sexuell belästigen. Schon lange vor dem Abspann sinkt jegliche Sympathie und Interesse an den verkorksen Figuren und ihrem bildungsbürgerlich zelebriertem Selbstmitleid auf Null.

Erschwerend kommt die Zeichnung von Ginnie hinzu, die nur als „Wir spielen eine Behinderte“-Schauspielübung ihre Berechtigung hat.

Michael Klier inszenierte „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“, „Ostkreuz“, „Heidi M.“ (sein heute wohl bekanntester Film) und „Farland“. Außerdem ist er einer der Drehbuchautoren von Dominik Grafs „Der Rote Kakadu“.

Idioten der Familie (Deutschland 2018)

Regie: Michael Klier

Drehbuch: Michael Klier, Karin Aström

mit Lilith Stangenberg, Jördies Triebel, Hanno Koffler, Florian Stetter, Kai Scheve

Länge: 102 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Idioten der Familie“

Moviepilot über „Idioten der Familie“