Aschenputtel-Geschichten haben im Film, siehe „Pretty Woman“, eine gute Chance auf ein glückliches Ende. Aber auch da gibt es Grenzen, die bei Sean Bakers neuem Film „Anora“ von Eltern gezogen werden. Die lernt Anora Mikheevazwar erst nach ihrer Hochzeit mit dem Oligarchenzögling Ivan Zakharov kennen. Schon vorher lernt sie deren Handlanger kennen, die eine für einen Film sehr amüsante Mischung aus Dummheit und Gehorsam sind.
Anora arbeitet in einem Club als Stripperin und sie verdient auch als Sexarbeiterin Geld. Sie ist jung, taff und nicht dumm. Evan lernt sie als einen Kunden kennen, der sich in sie verliebt, weil sie etwas russisch spricht. Die gemeinsam verbrachte und von ihm bezahlte Zeit gefällt ihr. Aber als er ihr vorschlägt, sie zu heiraten, reagiert sie reserviert. Schließlich gibt es solche Ehen nur im Märchen und ihr Leben ist kein Märchen.
Ivan lebt im Moment allein in dem riesigen Anwesen seiner Eltern und er hat absolut keine Geldsorgen. Er ist auch impulsiv und dumm. Halt ein verwöhntes Kleinkind, das inzwischen alt genug ist, um in Nachtclubs zu gehen, Alkohol zu trinken und Auto zu fahren.
Nach längerem Zögern willigt Anora ein. Während eines Trips nach Las Vegas heiraten sie. Zurück in New York beginnt der zweite, längste und beste Akt von Sean Bakers neuem Film „Anora“, der dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme erhielt.
Toros, der Vertraute von Ivans Eltern, erfährt von der Heirat und dass sie schon auf dem Weg in die USA sind. Er weiß, dass Ivans Eltern ihn für diese Dummheit ihres Sohnes verantwortlich machen werden. Schließlich sollte er aufpassen, dass Ivan keine Dummheiten macht. Und eine Hochzeit mit einer Prostituierten ist eine Riesendummheit. Also schickt er zwei seiner Handlanger los. Igor und Garnick sollen mit dem jungen Paar reden. Der Gesprächsversuch läuft schnell vollkommen aus dem Ruder. Ivan flüchtet panisch in Richtung Manhattan. Anora beginnt sofort die beiden Schläger zu verprügeln. Sogar nachdem sie sie gefesselt haben, ist sie immer noch ein mehr als ebenbürtiger Gegner.
Toros kann sie zu einer halbwegs tragfähigen Zusammenarbeit bewegen. Gemeinsam suchen sie am Abend und in der Nacht Ivan in den Kneipen, Bars und Nachtclubs von Brighton Beach, Coney Island und Manhattan.
„Anora“ zerfällt in drei unterschiedlich lange und stilistisch unterschiedliche Akte. Der erste Akt, das gemeinsame Abhängen von Anora und Ivan im Haus seiner Eltern und die Hochzeit in Las Vegas, sind etwas zäh. Es passiert wenig und was passiert, ist vorhersehbar und wenig interessant. Der zweite Teil, die Suche nach dem untergetauchten Ivan, ist eine pointiert erzählte Suche nach einer flüchtigen Person im nächtlichen New York. Diese Odysee ist stilistisch deutlich vom New-Hollywood-Kino beeinflusst. Von mir aus hätte dieser Teil doppelt so lang sein dürfen.
Im dritten Akt geht es dann um die Scheidungsverhandlung. Auch dieser Teil ist witzig als Feuerwerk von Pointen, die auch in einer hochtourigen Sitcom gut funktionieren würden. Das hat dann nicht mehr den erzählerischen Drive der vorherigen Suche nach dem flüchtigen Ivan. Während im zweiten Teil auch Raum für Improvisationen, Vor-Ort-Drehs und Atmosphäre war, geht es im dritten Teil nur noch um das möglichst schnelle Abfeuern von Sätzen. Es ist eine Verhandlung, in der Anora das Beste für sich herausholen will. Immerhin handelt es sich um eine legale Las-Vegas-Hochzeit zwischen zwei erwachsenen Menschen.
Insgesamt ist „Anora“ eine wundervoll spaßige und kurzweilige Unterhaltung. Eine Boulevard-Komödie, die in dem Milieu spielt, das man auch aus Bakers früheren Filmen kennt, wie „Tangerine L. A.“. In der ebenfalls quasi-dokumentarisch vor Ort und undercover gedrehten Komödie sucht im sonnigen Los Angeles eine extrem verärgerte Prostituierte ihren Zuhälter, der mit einer anderen Frau eine Affäre hatte.

Anora (Anora, USA 2024)
Regie: Sean Baker
Drehbuch: Sean Baker
mit Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan
Länge: 140 Minuten
FSK: ab 16 Minuten
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Hinweise
Wikipedia über „Anora“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Sean Bakers „Tangerine L. A.“ (Tangerine, USA 2015)
Meine Besprechung von Sean Bakers „The Florida Project“ (The Florida Project, USA 2017)
Meine Besprechung von Sean Bakers „Red Rocket“ (Red Rocket, USA 2021)
Veröffentlicht von AxelB 