Neu im Kino/Filmkritik: Über den Cannes-Gewinner 2024: „Anora“

November 1, 2024

Aschenputtel-Geschichten haben im Film, siehe „Pretty Woman“, eine gute Chance auf ein glückliches Ende. Aber auch da gibt es Grenzen, die bei Sean Bakers neuem Film „Anora“ von Eltern gezogen werden. Die lernt Anora Mikheevazwar erst nach ihrer Hochzeit mit dem Oligarchenzögling Ivan Zakharov kennen. Schon vorher lernt sie deren Handlanger kennen, die eine für einen Film sehr amüsante Mischung aus Dummheit und Gehorsam sind.

Anora arbeitet in einem Club als Stripperin und sie verdient auch als Sexarbeiterin Geld. Sie ist jung, taff und nicht dumm. Evan lernt sie als einen Kunden kennen, der sich in sie verliebt, weil sie etwas russisch spricht. Die gemeinsam verbrachte und von ihm bezahlte Zeit gefällt ihr. Aber als er ihr vorschlägt, sie zu heiraten, reagiert sie reserviert. Schließlich gibt es solche Ehen nur im Märchen und ihr Leben ist kein Märchen.

Ivan lebt im Moment allein in dem riesigen Anwesen seiner Eltern und er hat absolut keine Geldsorgen. Er ist auch impulsiv und dumm. Halt ein verwöhntes Kleinkind, das inzwischen alt genug ist, um in Nachtclubs zu gehen, Alkohol zu trinken und Auto zu fahren.

Nach längerem Zögern willigt Anora ein. Während eines Trips nach Las Vegas heiraten sie. Zurück in New York beginnt der zweite, längste und beste Akt von Sean Bakers neuem Film „Anora“, der dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme erhielt.

Toros, der Vertraute von Ivans Eltern, erfährt von der Heirat und dass sie schon auf dem Weg in die USA sind. Er weiß, dass Ivans Eltern ihn für diese Dummheit ihres Sohnes verantwortlich machen werden. Schließlich sollte er aufpassen, dass Ivan keine Dummheiten macht. Und eine Hochzeit mit einer Prostituierten ist eine Riesendummheit. Also schickt er zwei seiner Handlanger los. Igor und Garnick sollen mit dem jungen Paar reden. Der Gesprächsversuch läuft schnell vollkommen aus dem Ruder. Ivan flüchtet panisch in Richtung Manhattan. Anora beginnt sofort die beiden Schläger zu verprügeln. Sogar nachdem sie sie gefesselt haben, ist sie immer noch ein mehr als ebenbürtiger Gegner.

Toros kann sie zu einer halbwegs tragfähigen Zusammenarbeit bewegen. Gemeinsam suchen sie am Abend und in der Nacht Ivan in den Kneipen, Bars und Nachtclubs von Brighton Beach, Coney Island und Manhattan.

Anora“ zerfällt in drei unterschiedlich lange und stilistisch unterschiedliche Akte. Der erste Akt, das gemeinsame Abhängen von Anora und Ivan im Haus seiner Eltern und die Hochzeit in Las Vegas, sind etwas zäh. Es passiert wenig und was passiert, ist vorhersehbar und wenig interessant. Der zweite Teil, die Suche nach dem untergetauchten Ivan, ist eine pointiert erzählte Suche nach einer flüchtigen Person im nächtlichen New York. Diese Odysee ist stilistisch deutlich vom New-Hollywood-Kino beeinflusst. Von mir aus hätte dieser Teil doppelt so lang sein dürfen.

Im dritten Akt geht es dann um die Scheidungsverhandlung. Auch dieser Teil ist witzig als Feuerwerk von Pointen, die auch in einer hochtourigen Sitcom gut funktionieren würden. Das hat dann nicht mehr den erzählerischen Drive der vorherigen Suche nach dem flüchtigen Ivan. Während im zweiten Teil auch Raum für Improvisationen, Vor-Ort-Drehs und Atmosphäre war, geht es im dritten Teil nur noch um das möglichst schnelle Abfeuern von Sätzen. Es ist eine Verhandlung, in der Anora das Beste für sich herausholen will. Immerhin handelt es sich um eine legale Las-Vegas-Hochzeit zwischen zwei erwachsenen Menschen.

Insgesamt ist „Anora“ eine wundervoll spaßige und kurzweilige Unterhaltung. Eine Boulevard-Komödie, die in dem Milieu spielt, das man auch aus Bakers früheren Filmen kennt, wie „Tangerine L. A.“. In der ebenfalls quasi-dokumentarisch vor Ort und undercover gedrehten Komödie sucht im sonnigen Los Angeles eine extrem verärgerte Prostituierte ihren Zuhälter, der mit einer anderen Frau eine Affäre hatte.

Anora (Anora, USA 2024)

Regie: Sean Baker

Drehbuch: Sean Baker

mit Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan

Länge: 140 Minuten

FSK: ab 16 Minuten

Hinweise

Moviepilot über „Anora“

Metacritic über „Anora“

Rotten Tomatoes über „Anora“

Wikipedia über „Anora“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Sean Bakers „Tangerine L. A.“ (Tangerine, USA 2015)

Meine Besprechung von Sean Bakers „The Florida Project“ (The Florida Project, USA 2017)

Meine Besprechung von Sean Bakers „Red Rocket“ (Red Rocket, USA 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: „Scream“ – in der Version von 2022

Januar 13, 2022

Und wieder klingelt in einem Vorstadthaus das Telefon. Und wieder nimmt ein gutaussehender Teenager den Anruf an. Und wieder fragt der unbekannte Anrufer, ob sie mit ihm ein Frage-und-Antwort-Spiel über Horrorfilme spielen möchte.

Aber im Gegensatz zum ersten „Scream“-Film, wo die schon damals sehr bekannte und auf den Plakaten entsprechend herausgestellte Drew Barrymore von dem maskierten Killer getötet wurde, nimmt heute, 25 Jahre später, die hierzulande deutlich unbekanntere Jenna Ortega (u. a. die Disney-TV-Serie „Mittendrin und kein Entkommen“ [Stuck in the Middle]) den Hörer ab. Vielleicht darf sie deshalb den Angriff des Killers überleben. Denn Ghostface ist, elf Jahre nach „Scream 4“, zurück. Immer noch trägt er die ikonische, von Edvard Munchs „Der Schrei“ inspirierte Maske. Und, wieder einmal, verbirgt sich hinter der Maske ein anderer Mörder oder, wie in den meisten „Scream“-Filmen, ein Mörderpaar.

Vielleicht wollten die Macher auch einfach nur eine kleine Variation ausprobieren.

Vor 25 Jahren war diese sofortige Ermordung der potentiellen Hauptperson ein schockierender Auftakt für einen Slasher-Horrorfilm, der seine Figuren über die Regeln des Slasher-Horrorfilms philosophieren ließ. Denn Mitte der Neunziger hatten alle Teenager und Twenty-Somethings ihren Teil an Horrorfilmen gesehen und sie wussten, was passiert, wenn der Boyfriend alleine in den Keller geht oder die selbstverständlich sehr gut aussehende Jungfrau Sex vor der kirchlichen Trauung haben will. Dann schlägt die puritanische Moral sofort und unbarmherzig zu. Es gibt Schreie, ein Blutbad, Tote.

Kevin Williamson schrieb das intelligente Drehbuch. Es war sein Debüt. Danach kamen „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“ (I Know What You Did Last Summer), „The Faculty“, weitere „Scream“-Drehbücher und die TV-Serie „Dawson’s Creek“.

Wes Craven, der Regisseur des ersten und der drei weiteren „Scream“-Filme, war damals schon ein bekannter Horrorfilm-Regisseur, dank Werken wie „Das letzte Haus links“ (The Last House on the Left, 1972), „Hügel der blutigen Augen“ (The Hills Have Eyes. 1977) und, selbstverständlich, „Nightmare – Mörderische Träume“ (A Nightmare on Elm Street, 1984). Er starb 2015. „Scream 4“ war sein letzter Film.

Scream“ (1996) war schon Meta, als nur die „Spex“-Schreiber sich darunter etwas vorstellen konnten. Und es war der erste Teen-Horrorfilm, der diese Idee künstlerisch und kommerziell erfolgreich umsetzte.

Scream“ (2022) ist jetzt ein Metafilm über einen Metafilm. Es wird also nicht mehr nur über die Regeln des Genres gesprochen, sondern auch darüber, dass es jetzt zunehmend Filme gibt, die an eine einstmals erfolgreiche Reihe anknüpfen und sie, meist unter Mißachtung einer oder mehrerer Vorgängerfilme, wiederbeleben wollen.

Das war zuletzt bei „Matrix Resurrection“ so. Auch da wurde über die Sinnhaftigkeit von „Matrix 4“ gesprochen, bevor einfach noch einmal „Matrix“ wiederholt wurde.

Andere jüngere Bespiele für diese Erneuerungen alter Franchises sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: „Ghostbusters“, „Halloween“, „Star Wars“ und „Terminator“ (gut, der war DOA). Bei all diesen Requels, Sequels, Reboots und Quasi-Remakes (die Unterschiede sind eher minimal) werden die alten Filmen neu inszeniert mit höherem Budget, einigen Schauspielern aus dem ersten Film der Serie (die das Herz des Fans erfreuen sollen und die den Film nicht notwendigerweise überleben), einigen jüngeren Schauspielern (die bei einem entsprechenden Kassenerfolg in den nächsten Filmen der Serie die Hauptrollen übernehmen sollen) und der altbekannten Story, die etwas abgestaubt und mit zahlreichen Verweisen auf die vorherigen Filme als neu und zugleich alt präsentiert wird.

So auch in „Scream“ (2022). Neve Cambpell, Courteney Cox und David Arquette, die Hauptdarsteller der vorherigen „Scream“-Filme, sind wieder dabei. Auch wenn einige Zeit vergeht, bis sie nacheinander im Film auftauchen. Denn nach dem ersten Anschlag, mordet Ghostface in der Kleinstadt Woodsboro munter weiter. Die wichtigste neue, allerdings ziemlich blasse Figur ist Samantha ‚Sam‘ Carpenter (Melissa Barrera). Sie verließ vor fünf Jahren ihren Geburtsort, weil sie erfuhr wer ihr Vater ist. Kleiner Hinweis: es hat etwas mit dem ersten „Scream“-Film zu tun.

Jetzt kehrt sie nach Woodsboro zurück. Begleitet wird sie von ihrem verständnisvollem Freund. Sie ist die ältere Schwester von Tara, auf die am Filmanfang der Mordanschlag verübt wurde und die jetzt schwer verletzt im Krankenhaus liegt.

Die Teenager klugscheißen über die Regeln des Horrorfilms als seien wir wieder im Jahr 1996 oder 1986, als Slasher-Filme ordentlich Geld einspielten. Sie sind auch verärgert über die Entwicklung der „Stab“-Filmreihe, die auf den Taten von Ghostface basiert und die sich zuletzt in die falsche Richtugn entwickelte. Es gibt für die Fans der vorherigen Filme etliche Easter-Eggs. Offensichtliche, wie der Vater von Figur XYZ oder dieser oder jener Schauplatz, und weniger offensichtliche.

Und mehr bietet „Scream“ (2022) dann nicht.

Das ist das filmische Äquivalent zum Revival einer bekannten Band, die einfach noch einmal ihre Hits runterspielt.

Dabei gibt es gute neue Horrorfilme, wie „The Babadook“ und „The Witch“, die auch in „Scream“ (2022) genannt werden. Das sind Filme, die alte Topoi neu interpretieren. Daran hatten die Macher von „Scream“ (2022) kein Interesse. Die Drehbuchautoren James Vanderbilt („Zodiac“, „White House Down“, „Der Moment der Wahrheit“ [Truth; auch Regie]) und Guy Busick („Ready or Not“, „Castle Rock“) und die Regisseure Matt Bettinelli-Olpin und Tyler Gillett (das Duo inszenierte auch das kurzweilige Spektakel „Ready or Not“) gehen auf Nummer sicher, indem sie auf die Wünsche der Fans hören und letztendlich einfach „Scream“ wiederholen.

Scream (Scream, USA 2022)

Regie: Matt Bettinelli-Olpin, Tyler Gillett

Drehbuch: James Vanderbilt, Guy Busick (basierend auf den von Kevin Williamson erfundenen Figuren)

mit Melissa Barrera, Kyle Gallner, Mason Gooding, Mikey Madison, Dylan Minnette, Jenna Ortega, Jack Quaid, Marley Shelton, Jasmin Savoy Brown, Sonia Ammar, Courteney Cox, David Arquette, Neve Campbell

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Scream“

Metacritic über „Scream“

Rotten Tomatoes über „Scream“

Wikipedia über „Scream“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Matt Bettinelli-Olpin/Tyler Gilletts „Devil’s Due -Teufelsbrut“ (Devil’s Due, USA 2014)

Meine Besprechung von Matt Bettinelli-Olpin/Tyler Gilletts „Ready or Not – Auf die Plätze fertig tot“ (Ready or Not, USA 2019)