Neu im Kino/Filmkritik: „Emilia Pérez“, früher Gangsterboss, jetzt Wohltäterin

November 28, 2024

Auf dem Papier kann Jacques Audiards neuer Film nicht funktionieren. Im Kino funktioniert diese Mischung aus Musical, Gangsterfilm, Drama über eine Geschlechtsumwandlung, realistischem Sozialdrama und soapige Geschichte einer Wohltäterin mit dunkler Vergangenheit dann überraschend gut.

Alles beginnt damit, dass der gefürchtete mexikanische Kartellboss Manitas del Monte aus dem Verbrecherleben aussteigen möchte. Lebendig. Dafür engagiert er die junge Anwältin Rita Mora Castro (Zoe Saldaña). Sie ist hochintelligent und als kleine Zuträgerin in einer großen Kanzlei sträflich unterfordert. Die dankbare Kundschaft der Kanzlei besteht vor allem aus Schwerverbrechern und Drogenbossen.

Rita organisiert, fürstlich bezahlt und ohne das Wissen ihrer Vorgesetzten, del Montes Ausstieg aus dem Gangsterleben. Sie ordnet Finanzen und organisiert für seine Familie ein neues Leben in der Schweiz.

Außerdem organisiert sie noch die Erfüllung eines speziellen Wunsches von del Monte. Er will sein Geschlecht ändern und so endlich die Person werden, die er schon immer sein wollte. Außerdem: wer würde vermuten, dass sich hinter dem Gesicht einer attraktiven Frau ein brutaler, allseits gefürchteter, hässlicher Macho-Gangster verbirgt? Als zusätzliche Sicherheit für seine Familie und für sich inszeniert er seinen Tod.

Nach der Geschlechtsumwandlung ist Manitas del Monte Emilia Pérez (Karla Sofía Gascón). Aber die Vergangenheit lässt sie nicht los. Sie will wieder Kontakt zu ihren Kindern und ihrer Frau Jessi (Selena Gomez) haben. Rita organisiert das.

Außerdem kehrt Emilia wieder an ihren alten Wirkungsort zurück (was ich für sehr unglaubwürdig halte) und beginnt sich als Wohltäterin für ihre Gemeinschaft einzusetzen. Das halte ich für noch unglaubwürdiger; also nicht, dass sie ihr Geld für Wohltaten ausgibt und für ihre früheren Taten büßen möchte, sondern dass sie ihr Geld für Wohltaten an dem Ort ausgibt, an dem es von alten Bekannten wimmelt und an jeder Ecke mindestens eine Person ist, die del Monte umbringen möchte.

Die Story von „Emilia Pérez“ ist reinster Pulp. Gesang und Tanz sind, auch wenn der Film dann nicht oder nur verschämt als Musical beworben wird, im Moment sehr beliebt bei Regisseuren. Aber Audiard nimmt nicht den Weg in Richtung Fantasie, sondern in Richtung Edel-Telenovela.

Seine Premiere hatte „Emilia Pérez“ im Hauptwettbewerb des 77. Filmfestivals von Cannes. Dort erhielt er unter anderem den Preis der Jury und den für die beste Schauspielerin, der in diesem Fall an Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz und Zoe Saldaña ging. Danach lief er erfolgreich auf mehreren Festivals. Aktuell ist er für mehrere Europäische Filmpreise noniniert, unter anderem als bester Film, beste Regie und beste Darstellerin. Und er ist Frankreichs Einreichung bei den Oscars als bester internationaler Film.

Emilia Pérez (Emilia Pérez, Frankreich 2024)

Regie: Jacques Audiard

Drehbuch: Jacques Audiard

LV (frei nach): Boris Razon: Ecoute, 2018

mit Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz, Mark Ivanir, Édgar Ramírez

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Emilia Pérez“

AlloCiné über „Emilia Pérez“

Metacritic über „Emilia Pérez“

Rotten Tomatoes über „Emilia Pérez“

Wikipedia über „Emilia Pérez“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Jacques Audiards „The Sisters Brothers“ (The Sisters Brothers, Frankreich/Spanien/Rumänien/USA/Belgien 2018)

Meine Besprechung von Jacques Audiards „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (Les Olympiades, Frankreich 2021)


TV-Tipp für den 21. Februar: A rainy Day in New York

Februar 20, 2024

Arte, 20.15

A rainy Day in New York (A rainy Day in New York, USA 2019)

Regie: Woody Allen

Drehbuch: Woody Allen

Während seine Freundin Ashleigh sich für die Studentenzeitung an einem verregneten Tag in New York mit dem von ihr bewunderten Arthaus-Regisseur Roland Pollard trifft, bummelt ihr wohlhabender Freund Gatsby durch die Stadt und trifft dabei einige alte Bekannte.

TV-Premiere. Typisches Alterswerk von Woody Allen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

Sein fünfzigster Film „Ein Glücksfall“ startet am 11. April in den deutschen Kinos.

mit Timothée Chalamet, Elle Fanning, Selena Gomez, Jude Law, Diego Luna, Liev Schreiber, Annaleigh Ashford, Rebecca Hall, Cherry Jones, Will Rogers, Kelly Rohrbach

Wiederholung: Montag, 26. Februar, 14.15 Uhr

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „A rainy Day in New York“

Metacritic über „A rainy Day in New York“

Rotten Tomatoes über „A rainy Day in New York“

Wikipedia über „A rainy Day in New York“ (deutsch, englisch)

Homepage von Woody Allen

Deutsche Woody-Allen-Seite

Meine Besprechung von Robert B. Weides „Woody Allen: A Documentary“ (Woody Allen: A Documentary, USA 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “To Rome with Love” (To Rome with Love, USA/Italien 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “Blue Jasmine” (Blue Jasmine, USA 2013)

Meine Besprechung von Woody Allens “Magic in the Moonlight” (Magic in the Moonlight, USA 2014)

Meine Besprechung von John Turturros “Plötzlich Gigolo” (Fading Gigolo, USA 2013 – mit Woody Allen)

Meine Besprechung von Woody Allens “Irrational Man” (Irrational Man, USA 2015)

Meine Besprechung von Woody Allens „Café Society“ (Café Society, USA 2016)

Meine Besprechung von Woody Allens „Wonder Wheel“ (Wonder Wheel, USA 2017)

Meine Besprechung von Woody Allens „A rainy Day in New York“ (A rainy Day in New York, USA 2019)

Meine Besprechung von Woody Allens „Rifkin’s Festival“ (Rifkin’s Festival, USA 2020)

Woody Allen in der Kriminalakte  


Neu im Kino/Filmkritik: Woody Allen verbringt „A rainy Day in New York“

Dezember 5, 2019

Schon der Titel „A rainy Day in New York“ deutet es an: das ist ein Film, bei dem beiläufige Beobachtungen und Begegnungen wichtiger als eine stringente Geschichte sind. Das ist auch kein Film, der große und letzte Wahrheiten verkünden will. Schließlich geht es nur um irgendeinen verregneten Tag. Ausgehend von diesem selbstgewählten Anspruch und weil Woody Allens letzte Filme eher solala waren, sind die Erwartungen für den neuen Film von Woody Allen nicht besonders hoch. Es ist einfach der neue Film eines Regisseurs, der seit gut fünfzig Jahren zuverlässig jedes Jahr einen Film dreht, dessen bekanntesten und besten Filme, wie „Der Stadtneurotiker“ und „Manhattan“ vor allem in den Siebzigern entstanden, der in den achtziger und neunziger Jahren abwechslungsreich darauf aufbaute und der seit zwanzig weitgehend selbstgenügsam vor sich hin arbeitet. Wenige Filme, wie „Match Point“ und „Blue Jasmine“, stechen hervor. Der Rest versinkt in einem immer wieder durchaus unterhaltsamen Strom recyclter Woody-Allen-Beliebigkeit mit sattsam bekannten Themen, Figuren, Witzen und einem aus alten Jazz-Songs bestehendem Soundtrack, der schon vor vierzig Jahren sehr retro war. Oder erinnert sich noch jemand ernsthaft an „Sweet and Lowdown“, „Schmalspurganoven“ (Small Time Crooks), „Im Bann des Jade Skorpions“ (The Curse of The Jade Scorpion), „Hollywood Ending“ (okay, der lief niemals in Deutschland), „Anything Else“, „Melinda und Melinda“, „Scoop – Der Knüller“, „Cassandras Traum“ (Cassandra’s Dream), „Vicky Cristina Barcelona“, „Whatever Works – Liebe sich wer kann“, „Ich sehe den Mann deiner Träume“ (You will meet a tall dark Stranger), „Midnight in Paris“, „To Rome with Love“, „Magic in the Moonlight“, „Irrational Man“, „Café Society“ und „Wonder Wheel“.

Das sind Filme, die, bis auf wenige Ausnahmen („Cassandras Traum“, „Midnight in Paris“), wie ein Griff in den Zettelkasten wirken.

Auch „A rainy Day in New York“ ist so ein Griff in den Zettelkasten. Da fährt Gatsby (!!!) (Timothée Chalamet) mit seiner Freundin Ashleigh (Elle Fanning) nach New York. Das kükenhafte Landei will für die Studentenzeitung Roland Pollard (Liev Schreiber) interviewen. Der von ihr abgöttisch bewunderte Arthaus-Regisseur lädt sie ein, sich mit ihm den Rohschnitt seines neuen Films anzusehen. Selbstverständlich ist sie einverstanden.

Währenddessen bummelt ihr Freund durch Manhattan, trifft alte Freunde, hilft bei einem Filmdreh für einen Noir aus, küsst dafür die jüngere Schwester einer Ex-Freundin und muss zu einer von seinen Eltern veranstalteten Feier.

Diese Abfolge von Episoden mit absehbaren amourösen Entwicklungen versucht nie mehr zu sein als eine beliebige Abfolge zufälliger Begegnungen fast ausschließlich weißer Menschen. Selena Gomez als in Gatsby verliebte jüngere Schwester und Diego Luna als Filmstar (und Latin Lover) bringen da etwas Farbe ins Bild.

Die von Woody Allen geschriebenen Monologe und Dialoge sind vertraut aus seinen früheren Filmen. Es ist, immerhin sind alle zentralen Figuren Jugendliche, aber nie die Sprache junger Leute. Die von ihnen benutzten Vergleiche und Anspielungen würden junge Menschen nicht wählen. Es wird nicht auf Harry Potter oder die Marvel-Filme angespielt, sondern auf den literarischen und filmischen Kanon, der vor über einem halben Jahrhundert en vogue war. Mit ihm konnte man sich als Zugehöriger zu einem bestimmten literarisch gebildetem Bildungsbürgermilieu zu erkennen geben. Da wurde, bei der richtigen cineastischen Bildung, die Anspielung auf „Out of the Past“ verstanden. Aber wer kennt heute diesen Vierziger-Jahre-Noir, der unter Noir-Fans ein Klassiker ist, überhaupt?

Allen drehte seinen verregneten Tag in Manhattan vor allem in langen Szenen, die oft nicht oder nur sparsam geschnitten sind. Keine Szene hinterlässt, im Gegensatz zum farbenprächtigen, oft wunderschön durchkomponiertem „Wonder Wheel“, einen visuell bleibenden Eindruck. Bei „A rainy Day in New York“ wirkt alles, als sei es schnell heruntergedreht worden. Fast jede Szene ist auch oft einfach zu lang geraten. Im endlosen Geplänkel seiner Stadtneurotiker fehlt jeder dramaturgische Fokus.

A rainy Day in New York““ ist der selbstgenügsame Film eines alten Mannes, der erfundene Jugendliche durch ein ebenso erfundenes Manhattan gehen lässt als ob es immer noch 1946 oder kurz danach wäre. Das ist sogar zu belanglos, um sich richtig darüber zu ärgern.

A rainy Day in New York (A rainy Day in New York, USA 2019)

Regie: Woody Allen

Drehbuch: Woody Allen

mit Timothée Chalamet, Elle Fanning, Selena Gomez, Jude Law, Diego Luna, Liev Schreiber, Annaleigh Ashford, Rebecca Hall, Cherry Jones, Will Rogers, Kelly Rohrbach

Länge: 93 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „A rainy Day in New York“

Metacritic über „A rainy Day in New York“

Rotten Tomatoes über „A rainy Day in New York“

Wikipedia über „A rainy Day in New York“ (deutsch, englisch)

Homepage von Woody Allen

Deutsche Woody-Allen-Seite

Meine Besprechung von Robert B. Weides „Woody Allen: A Documentary“ (Woody Allen: A Documentary, USA 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “To Rome with Love” (To Rome with Love, USA/Italien 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “Blue Jasmine” (Blue Jasmine, USA 2013)

Meine Besprechung von Woody Allens “Magic in the Moonlight” (Magic in the Moonlight, USA 2014)

Meine Besprechung von John Turturros “Plötzlich Gigolo” (Fading Gigolo, USA 2013 – mit Woody Allen)

Meine Besprechung von Woody Allens “Irrational Man” (Irrational Man, USA 2015)

Meine Besprechung von Woody Allens „Café Society“ (Café Society, USA 2016)

Meine Besprechung von Woody Allens „Wonder Wheel“ (Wonder Wheel, USA 2017)

Woody Allen in der Kriminalakte  


Neu im Kino/Filmkritik: Jim Jarmusch behauptet „The Dead don’t die“

Juni 13, 2019

Einerseits hat Jim Jarmusch noch keinen Zombiefilm und noch keine Komödie gedreht.

Andererseits ist jeder Jim-Jarmusch-Film eine Komödie und auch ein Zombiefilm. Denn nie sind seine Charaktere hundertprozentig von dieser Welt. In „Only Lovers left alive“ waren alle Hauptfiguren sogar Vampire. Aber auch fast alle anderen von Jim Jarmusch erfundenen Figuren wandeln etwas untot durch diese Welt. Die Dramen „Broken Flowers“ und „Paterson“ können als die Ausnahmen in seinem Werk gelten. Hier entsprachen die von Bill Murray und Adam Driver gespielten Figuren noch am meisten normal-bürgerlichen Personen. Phlegmatisch und von erstaunlichem Langmut sind sie trotzdem.

Einen sehr speziellen, sehr trockenen Humor haben alle seine Filme. Auch „The Dead don’t die“.

Durch Polarfracking verschiebt sich die Erdachse. Die gewohnten Tag- und Nachtzeiten stimmen nicht mehr. In Centerville, einer beschaulichen 738-Seelen-Gemeinde, steigen die Toten aus ihren Gräbern. Als Chief Clifford Robertson (Bill Murray) und Officer Ronald Peterson (Adam Driver), die lakonisch lakonischen Dorfpolizisten, in einem Diner die ersten Leichen sehen, hat Peterson gleich einen Verdacht. Die Bedienungen wurde von einem Zombie ermordet. Robertson hält das sofort für plausibel.

The Dead don’t die“ ist eine Nummernrevue, die mit dem richtigen Publikum ein grandioser Spaß ist. Denn Jim Jarmusch kennt seine Zombiefilme. Es gibt zahlreiche Anspielungen, vor allem natürlich auf das Werk von George A. Romero. Es werden auch alle vertrauten Genretopoi bedient. Aber halt anders, als gewohnt. Vor allem mit einem gnadenlosem Understatement. Nichts bringt unsere Helden aus der Ruhe.

Für seinen Film hat Jarmusch ein mehr als namhaftes Ensemble versammelt: Bill Murray, Adam Driver und Chloë Sevigny als Dorfpolizisten, Tilda Swinton als Bestatterin mit Samurai-Zusatzausbildung (in der deutschen Synchro mit einem Akzent, an den ich mich nie gewöhnen konnte), Tom Waits als Waldschrat (in der deutschen Synchro notgedrungen ohne seine markante Stimme), und Danny Glover, Steve Buscemi, Selena Gomez, Rosie Gomez, Caleb Landry Jones, Iggy Pop (auf der Suche nach Kaffee), Sara Driver, RZA und Carol Kane, um nur einige zu nennen, als Dorfbewohner und Gäste mit mehr oder weniger begrenzter Lebenszeit. Dieses Ensemble ist auch eine kleine Jarmusch-Familienfeier.

The Dead don’t die“ ist nicht Jarmuschs bester Film. Es ist vor allem ein entspannter Feierabendspaß.

Damit ähnelt die phlegmatische Zombiekomödie am meisten seinem Film „Coffee and Cigarettes“. In dieser 2004 zu einem Spielfilm fasste er eine über mehrere Jahre entstandene Reihe von Kurzfilmen zusammen, in denen sich an einem Tisch mit Kaffee und Zigaretten über Gott und die Welt unterhalten wird. Mal tiefsinnig, mal banal, mal abgedreht.

The Dead don’t die (The Dead don’t die, USA 2019)

Regie: Jim Jarmusch

Drehbuch: Jim Jarmusch

mit Bill Murray, Adam Driver, Tom Waits, Chloë Sevigny, Steve Buscemi, Danny Glover, RZA, Rosie Perez, Carol Kane, Tilda Swinton, Sara Driver, Iggy Pop, Selena Gomez, Caleb Landry Jones, Larry Fessenden, Eszter Balint, Sturgill Simpson

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

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Moviepilot über „The Dead don’t die“

Metacritic über „The Dead don’t die“

Rotten Tomatoes über „The Dead don’t die“

Wikipedia über „The Dead don’t die“ (deutsch, englisch) und über Jim Jarmusch (deutsch, englisch)

The Jim Jarmusch Resource Page

Senses of Cinema über Jim Jarmusch

Jim Jarmusch in der Kriminalakte

Meine Besprechung von Jim Jarmuschs “Only Lovers left alive” (Only Lovers left alive, Deutschland/Großbritannien/Frankreich/Zypern/USA 2013)

Meine Besprechung von Jim Jarmuschs „Paterson“ (Paterson, USA 2016) und der DVD

Meine Besprechung von Jim Jarmuschs „Gimme Danger“ (Gimme Danger, USA 2016)


TV-Tipp für den 18. Juli: Spring Breakers

Juli 17, 2016

Arte, 22.05

Spring Breakers (Spring Breakers, USA/Frankreich 2012)

Regie: Harmony Korine

Drehbuch: Harmony Korine

Vier Mädels wollen in Florida den Spring Break, dieses infantile Megabesäufnis, erleben.

Viel Story hat Harmony Korines assoziativ aufgebauter, sich in endlosen Schleifen wiederholender Skandalfilm „Spring Breakers“ nicht. Aber weil einige Disney-Channel-Kinderstars gegen ihr Image anspielten und er auch sonst erfolgreich auf Provokation setzte, ist „Spring Breakers“ sein kommerziell erfolgreichster Film.

Ich fand „Spring Breakers“ beim Kinostart ja eher ein Stück ausgesuchter Langeweile, aufgepeppt mit homöopathischen Dosen nackter Haut und Gangster-Chic.

mit James Franco, Selena Gomez, Vanessa Hudgens, Ashley Benson, Rachel Korine, Heather Morris, Cait Taylor, Ashley Lendzion, Emma Holzer, Gucci Maine

Hinweise

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Film-Zeit über „Spring Breakers“

Metacritic über „Spring Breakers“

Rotten Tomatoes über „Spring Breaker“

Wikipedia über „Spring Breakers“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Harmony Korines „Spring Breakers“ (Spring Breakers, USA/Frankreich 2012)


Neu im Kino/Filmkritik: Der grandiose Wirtschaftsthriller „The Big Short“

Januar 19, 2016

Bei den Golden Globes verlor „The Big Short“ in der Kategorie „Beste Komödie oder Musical“ gegen „Der Marsianer“. Aber jetzt ist er für den Oscar als bester Spielfilm nominiert. Und Adam McKay, dessen vorherigen Regiearbeiten leichtgewichtige Komödien, wie „Die etwas anderen Cops“ und die beiden „Anchorman“-Filme waren, die nicht gerade durch erzählerische Stringenz und eine treffsichere Analyse überzeugten. Doch genau das gelingt „The Big Short“, McKays grandioser Aufarbeitung der 2007 in den USA geplatzten Immobilienblase, die die Weltwirtschaft nachhaltig schädigte und die zahllose Kleinanleger ruinierte. Für sie sind die Folgen des unglaublichen Leichtsinns der Spekulanten noch heute spürbar.
Dabei gab es warnende Stimmen, denen jetzt – ausgehend von Michael Lewis‘ Sachbuch „The Big Short“ – in dem Film ein durchaus unpathetisches Denkmal gesetzt wird. Denn zum Helden, vor allem zum strahlenden Hollywood-Helden, taugt keiner von ihnen. Der eine ist Dr. Michael Burry (Christian Bale), ein ehemalige Neurologe, der zum Hedgefond-Manager mit Narrenfreiheit (solange die Zahlen stimmen) wurde, ein Glasauge und seltsame Angewohnheiten hat. Mit anderen Menschen kann er nicht so gut umgehen, aber er vertieft sich in die Zahlen und entdeckt, dass die Fundamente des Immobilienmarktes mehr als brüchig sind. Für ihn ist offensichtlich, dass der Markt demnächst zusammenbrechen wird.
Der andere ist der egozentrische Hedgefonds-Manager Mark Baum (Steve Carell), der fleischgewordene Alptraum jedes Cholerikers, der zwar einen moralischen Kompass, aber keine Manieren hat. Der „Deutsche Bank“-Makler Jared Vennett (Ryan Gosling) weist ihn, durchaus eigennützig, auf die faulen Kredite hin, die durch einige Buchungstricks zu guten Krediten umgewidmet werden. Gemeinsam wollen sie von dem erwartbaren Zusammenbruch des Marktes profitieren.
Doch bevor sie gemeinsame Sache machen, zieht Baum, der Vennett nicht glaubt, in Florida Erkundigungen über einige dieser Hauskredite ein und er ist schockiert.
Und dann gibt es noch die beiden jungen Geldmanager Jamie Shipley (Finn Wittrock) und Charlie Geller (John Magaro), die ebenfalls durch Zufall auf die Zahlen stoßen und sie mit dem Ex-Banker Ben Rickert (Brad Pitt), der mit seiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben will, vergolden wollen.
Sie erkannten als Wall-Street-Außenseiter, was die Experten nicht erkannten oder nicht erkennen wollten in der Hoffnung, dass es immer so weitergeht.
McKay inszenierte seinen Spielfilm „The Big Short“ wie einen Dokumentarfilm, der zufällig dabei war, als die handelnden Personen ihre Entdeckungen machten. Sie und einige prominente Gäste, wie Margot Robbie, Anthony Bourdain, Selena Gomez und Dr. Richard Thaler (ein Verhaltensökonom), erklären die komplizierten ökonomischen Vorgänge in einer so atemberaubenden Geschwindigkeit, dass man beim ersten Ansehen gar nicht alle Feinheiten mitbekommen kann. Humor und satirische Zuspitzungen helfen, auch wenn einem mehr als einmal das Lachen im Hals stecken bleibt. Vor allem natürlich über die Arroganz der Banker, die ihren schlechten und spekulativen Produkte als sichere Geldanlagen verkaufen. Die Geschichte entwickelt sich flott zwischen den verschiedenen Handlungssträngen wechselnd (weshalb die Stars auch nie bis fast nie zusammen auftreten) auf die bekannte Katastrophe, das Platzen der Immobilienblase im Sommer 2007, zu.
„The Big Short“ ist ein scharfsinniger, aufklärerischer, in jeder Sekunde konzentrierter und an die Intelligenz seines Publikums glaubender Film, den so niemand von Adam McKay erwartet hätte. Oder wie Steve Carell sagt: „Wenn mich jemand auf einer Cocktailparty fragen würde, worum es in dem Film geht, würde ich antworten: ,Erinnern Sie sich, als die Subprime-Hypotheken über die Wupper gingen und all die Firmen ihre Türen schließen mussten und niemand dafür ins Gefängnis wandern musste? Erinnern Sie sich daran? Erinnern Sie sich, wie alles einfach explodierte? Und dann die Regierung kam und alle rausboxte und alles wieder okay erschien? Darum geht es in diesem Film. Es ist ein Horrorfilm, der viel schrecklicher ist, als ich es gerade beschrieben habe.‘“

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The Big Short (The Big Short, USA 2015)
Regie: Adam McKay
Drehbuch: Adam McKay, Charles Randolph
LV: Michael Lewis: The Big Short: Inside the Doomsday Machine, 2010 (The Big Short: Wie eine Handvoll Trader die Welt verzockte)
mit Christian Bale, Ryan Gosling, Steve Carell, John Magaro, Finn Wittrock, Marisa Tomei, Melissa Leo, Hamish Linklater, Rafe Spall, Jeremy Strong, Anthony Bourdain, Margot Robbie, Selena Gomez
Länge: 131 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Englische Homepage zum Film
Moviepilot über „The Big Short“
Metacritic über „The Big Short“
Rotten Tomatoes über „The Big Short“
Wikipedia über „The Big Short“ (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood über „The Big Short“
Meine Besprechung von Adam McKays „Anchorman – Die Legende kehrt zurück“ (Anchorman 2: The Legend continues, USA 2013)


Neu im Kino/Filmkritik: „Spring Breakers“ forever and ever

März 21, 2013

Ob man „Spring Breakers“ für eine geniale Beschreibung der US-amerikanischen Jugend oder für ein Stück ausgesuchter Langeweile, aufgepeppt mit homöopathischen Dosen nackter Haut und Gangster-Chic hält, ist nicht nur Ansichts-, sondern auch Stimmungssache. Immerhin war ich von „Letztes Jahr in Marienbad“ begeistert, fand „Blow Up“ toll und „Clerks“, „Kids“ und „Slacker“ grandios.

Aber „Spring Breakers“ ist für mich nur „Kids“ meets „CSI: Miami“ minus Sonnenbrille Horatio Caine. Und das meine ich nicht lobend.

Autorenfilmer Harmony Korine ignoriert die üblichen Hollywood-Erzählformen. Sein neuester Film ist eher wie ein Minimal-Music-Stück aufgebaut: einige Bilder, Szenen, Satzfetzen, Sätze und Dialoge wiederholen sich immer wieder; dazwischen gibt es so etwas wie eine Geschichte, die aber vollkommen unchronologisch erzählt wird – und vieles, was in den USA vielleicht provoziert, langweilt hier, weil sich vieles einfach immer wieder in einer monotonen Endlosschleife wiederholt und alles so furchtbar plakativ ist, dass sogar ein Michael-Bay-Film subtil wirkt.

Dabei dürfte die größte Provokation in den USA nicht die nackte Haut (fast immer züchtig im Bikini) und der ach so exzessive Drogenkonsum (gerne wird der Alkohol auch breitflächig über nackte Haut verteilt) sein, sondern die Wahl der Darsteller. Selena Gomez, Vanessa Hudgens und Ashley Benson sind in den USA bekannte Gesichter. Vor allem aus dem Disney-Channel. Sie stehen für saubere, familientaugliche Unterhaltung.

Und James Franco gehört sicher zu den interessantesten Jungstars, den die meisten aus den „Spider-Man“-Filmen und der „fantastischen Welt von Oz“ kennen. In „Spring Breakers“ spielt er einen Drogendealer, der unter seiner Maske kaum erkennbar ist und Brit (Ashley Benson), Candy (Vanessa Hudgens), Cotty (Rachel Korine) und Faith (Selena Gomez) auf Kaution und mit einigen Hintergedanken aus dem Gefängnis holt. Die drei Hübschen haben vorher, um beim Spring Break (ein tagelanges Komasaufen, das nur durch die vollkommen verquere Haltung der Amis zu Alkohol erklärt werden kann) dabei zu sein, einen Überfall auf ein Diner begangen, sind nach Florida gefahren, haben viel Alkohol getrunken, wurden verhaftet und von Alien (James Franco) aus dem Gefängnis geholt. Mit ihm haben sie ihren Spaß und aus braven Mädels werden in Aliens Gegenwart (ich gebe zu, sein Charisma verfing bei mir nicht) in Lichtgeschwindigkeit waffenschwingende Mordmaschinen.

Die Story ist, wie schon bei „Kids“, Larry Clarks verstörendes Porträt von normalen New-Yorker-Teenagern, für das Harmony Korine das Drehbuch schrieb, nebensächlich. Die Stimmung des Spring Breaks, der Wechsel zwischen Hochgefühl und Kater, das Gefühl, dass es eine Woche lang keine Regeln mehr gibt, ist dagegen essentiell und Korine drehte, wie auch in seinen vorherigen Filmen mit Laien und er ließ alle Darsteller improvisieren. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund für die fast pausenlose asynchron laufende Tonspur.

Die Bilder spielen immer mit der Hochglanzoptik von Sonne, Wasser, durchtrainierten männlichen Oberkörpern und knapp bekleideten, schlanken Mädchen. In den USA reichte das für ein R-Rating „for strong sexual content, language, nudity, drug use and violence throughout“ (also unter siebzehn Jahren nur in Begleitung eines Elternteils). Die coolen Franzosen gaben dem Film achselzuckend ein „frei ab 12 Jahre“ – und Zwölfjährige finden „Spring Breakers“ vielleicht wirklich provozierend, verstörend und einen Blick in eine neue Welt, in der Filme nicht wie eine Folge aus einer TV-Familienserie aussehen müssen.

Spring Breakers - Plakat

Spring Breakers (Spring Breakers, USA/Frankreich 2012)

Regie: Harmony Korine

Drehbuch: Harmony Korine

mit James Franco, Selena Gomez, Vanessa Hudgens, Ashley Benson, Rachel Korine, Heather Morris, Cait Taylor, Ashley Lendzion, Emma Holzer, Gucci Maine

Länge: 93 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

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Film-Zeit über „Spring Breakers“

Metacritic über „Spring Breakers“

Rotten Tomatoes über „Spring Breaker“

Wikipedia über „Spring Breakers“ (deutsch, englisch)

Die TIFF-Pressekonferenz mit dem Regisseur und den Hauptdarstellern vom 7. September 2012