Ein knapp dreistündiger Rausch: Laurence (Melvil Poupaud) und Fred (Suzanne Clément) sind ineinander verliebt. Da trifft Laurence eine folgenschwere Entscheidung: Er will ab jetzt als Frau leben.
„Laurence Anyways“ ist, wie alle großen Liebesfilme, letztendlich ein Film über die Unmöglichkeit der großen Liebe, bei dem die ordnende Hand eines Regisseurs fehlt, der beherzt Szenen aus dem Film entfernt, den Film auf verträgliche zwei Stunden gekürzt und die Vision klarer herausgearbeitet hätte. Denn gegen Ende zerfasert der Film etwas. Aber das ist ein kleiner Einwand gegen einen insgesamt mitreißenden Film.
I killed my Mother (J’ai tué ma Mère, Kanada 2009)
Regie: Xavier Dolan
Drehbuch: Xavier Dolan
Xavier Dolans semi-autobiographisches, mitreißendes Debüt über die schwierige Beziehung eines 17-jährigen zu seiner Mutter. Von der Kritik abgefeiert und der Beginn einer erstaunlichen Karriere.
Davor, um 20.15 Uhr zeigt One Dolans zweiten Spielfilm ‚“Herzensbrecher“, um 21.50 Uhr die Kurzdoku „Xavier Dolan – Wunderkind oder Enfant terrible“ und, als Wiederholung, um 23.45 Uhr „Matthias & Maxime“. Ein wahrlich dolanesker Abend
mit Xavier Dolan, Anne Dorval, François Arnaud, Suzanne Clément, Patricia Tulasne
Wiederholung: Samstag, 23. März, 00.05 Uhr (Taggenau! – nach „Herzensbrecher“ um 22.30 Uhr)
Xavier Dolans bester Film (laut Rotten-Tomatoes-Tomatometer): die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter und ihrer Beziehung zu ihrem anstrengendem Sohn, der seine Mutter über alles liebt.
Samuel O’Shea ist Leonard-Cohen-Fan. Das macht ihn schon einmal grundsympathisch. Allerdings ist der Literaturprofessor auch ein alter Sack, Schürzenjäger und Trinker. Das macht ihn schon deutlich unsympathischer.
In letzter Zeit hat O’Shea zunehmend Wahnvorstellungen. Seine Ärztin diagnostiziert einen riesigen Tumor in seinem Gehirn. Bevor er sich darum kümmert, macht er sich von Montreal auf den Weg nach Irland zu einer einsam am Meer gelegenen Hütte und Matt Bissonettes Film beginnt zunehmend zu zerfasern. Das Spiel zwischen Realität und Halluzinationen wird immer chaotischer und willkürlicher. Die Geschichte immer beliebiger und auch egaler. O’Shea führt lange Gespräche mit seinem schon lange totem Vater. Er verliebt sich in eine jüngere Frau. Er wird, selbstverständlich wegen dieser Frau, zu einem Mörder. Oder auch nicht.
Der anfängliche Spaß über einen Lehrer, der mit der Wirklichkeit und seinem Leben hadert, weicht zunehmend dem Gefühl eines gelangweilten anything goes. Garniert und grundiert wird das mit sieben Songs von Leonard Cohen. Unter anderem „Heart with no Companion“, „Did I ever love you“, „Bird on the Wire“ und, selbstverständlich „Hallelujah“. Diese ausführlich ausgespielten Songs sind ein Pluspunkt des Films. Der andere ist Gabriel Byrne, der Samuel O’Shea spielt.
Aber auch er kann nichts daran ändern, dass am Ende die Enttäuschung überwiegt.
Death of a Ladies‘ Man(Death of a Ladies‘ Man, Kanada/Irland 2020)
Regie: Matt Bissonnette
Drehbuch: Matt Bissonnette
mit Gabriel Byrne, Jessica Paré, Brian Gleeson, Suzanne Clément, Antoine Olivier Pilon
Erheblich näher an der Realität ist Philippe Girards Comic „Leonard Cohen: Like a Bird on a Wire“. Er rast auf nicht einmal hundertzehn Seiten durch Leonard Cohens Leben. Alle paar Seiten wird in ein neues Jahr gesprungen. Bekannte Musiker haben Kurzauftritte. Cohens Frauen ebenso. Aber ein roter Faden ist nicht erkennbar. Am Ende bleibt nur eine Abfolge von Episoden, die ohne ein Wissen über Cohens Leben und das Rockmusikbusiness fast unverständlich sind.
Eine verpasste Chance.
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Philippe Girard: Leonard Cohen: Like a Bird on a Wire
TV-Premiere von Xavier Dolans bestem Film (laut Rotten-Tomatoes-Tomatometer): die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter und ihrer Beziehung zu ihrem anstrengendem Sohn, der seine Mutter über alles liebt.
Die Beauce, die Kornkammer Frankreichs, ist eine dünn besiedelte Landschaft nördlich von Paris und wenn nicht gerade der Weizen sprießt, ist es eine echte „Fargo“-Landschaft. Ohne den Schnee. Die Menschen könnten, wie wir in „Das Ende ist erst der Anfang“ erfahren, problemlos in dem Film der Coen-Brüder mitspielen. Sogar Jesus läuft mehrmals durch das Bild und er hat eine wichtige Rolle in der von Bouli Lanners geschriebenen und in schönster Country-Noir-Tradition inszenierten Geschichte. Er spielt auch Gilou, einen Kopfgeldjäger, der mit seinem Partner Cochise (Albert Dupontel) in der Beauce ein Telefon finden soll. Das Handy wurde ihrem Auftraggeber gestohlen und es enthält wichtige Informationen über den Gangster.
Die Diebe, Willy (David Murgia) und Esther (Aurore Broutin), irren durch die menschenleere Landschaft und halten sich mit kleinen Diebstählen über Wasser. Beide sind geistig beschränkt. Sie suchen die Adoptivmutter von Esthers Tochter. Sie haben keine Ahnung, wo sie ist und wie sie sie finden können.
Diese vier Durchreisende treffen auf seltsame Einheimische und Kleingangster. Wobei Gilou und Cochise auch nicht gerade die hellsten Leuchten sind. Eher so in Richtung Vincent Vega und Jules Winnfield aus „Pulp Fiction“, allerdings in der abgerockten franco-belgischen Schmuddelversion.
Das hat durchaus seinen Reiz, aber Bouli Lanners („Eldorado“, „Kleine Riesen“) lässt die lakonisch erzählte Geschichte voller Figuren, die auch in einem Kaurismäki-Film gut aufgehoben wären, an Orten, die sogar Kaurismäki als zu schäbig empfinden würde, in durchgehend dunkel-monochromen Bildern, die George Millers SW-Version von „Mad Max: Fury Road“ wie einen knallbunten Farbfilm erscheinen lassen, eher vor sich hin plätschern. Vieles in der eigentlich simplen Geschichte bleibt sehr lange rätselhaft oder wird nur interpretationsoffen angedeutet. Es wird vom Ende der Welt gesprochen und Lanners garniert den Film eifrig mit christlichen Symbolen und Anspielungen. Über weite Strecken wird kein einziger Konflikt auch nur halbwegs konsequent verschärft. Die Auftritte der Einheimischen sind Vignetten, während Cochise und Gilou gar nicht so sehr daran interessiert sind, ihren Auftrag zu erledigen. Immerhin stecken sie in einer ausgewachsenen Sinnkrise, die erst einmal kuriert werden muss.
Das alles hat Potential, das Lanners zu wenig nutzt. So ist „Das Ende ist erst der Anfang“ letztendlich ein Film, der weit unter seinen Möglichkeiten bleibt.
Auf der 66. Berlinale erhielt der Film den „Preis der Ökumenischen Jury in der Sektion Panorama“.
Das Ende ist erst der Anfang (Les premiers, les derniers, Belgien/Frankreich 2016)
Regie: Bouli Lanners
Drehbuch: Bouli Lanners
mit Albert Dupontel, Bouli Lanners, Suzanne Clément, Michael Lonsdale, David Murgia, Aurore Broutin, Philippe Rebbot, Max von Sydow
Der fünfzehnjährige Steve (Antoine Olivier Pilon) ist ein echtes Problemkind, das sogar in einer Geschlossenen Anstalt kaum gebändigt werden kann. Also nimmt seine Mutter Diane (Anne Dorval), die kaum genug Geld verdient, um alleine über die Runden zu kommen, ihn wieder bei sich auf. Denn die Witwe liebt ihren Sohn abgöttisch und auch Steve liebt sie ebenso abgöttisch. Er würde alles für sie tun. Wenn er einen Wutanfall bekommt, dann nur, weil etwas nicht nach seinem Kopf abgeht oder jemand Diane, aus seiner Perspektive heraus, schlecht behandelt. Genauso hemmungslos wie seine Wutausbrüche sind auch seine Liebesbeweise. Außerdem ist er der Mann im Haus.
Zu diesem immer kurz vor einer Explosion stehendem Mutter-Sohn-Gespann kommt noch die Nachbarin Kyla, eine auf unbestimmte Zeit beurlaubte Lehrerin, die eine Sprachstörung hat, sich deshalb fast nur in ihrem Vorstadthaus aufhält, schließlich Steve Privatunterricht gibt und dabei auch ihr Stottern überwindet.
Nach dem schwächeren „Sag nicht, wer du bist!“ ist „Mommy“, Xavier Dolans fünfter Spielfilm in fünf Jahren, wieder einmal überbordendes, kompromissloses Kino, das über fast hundertvierzig, äußerst kurzweilige Minuten in jeder Hinsicht begeistert. Das beginnt schon mit der mutigen Entscheidung, den Film im Format 1:1 zu drehen. Dieses viereckige Bild, wie ein CD-Cover, lässt links und rechts ungefähr ein Drittel der Leinwand im Dunkeln, was dazu führt, dass Steve, Diane und Kyla auch optisch in ihren seelischen Gefängnissen gefangen sind. Vor allem Steve hat diesen Tunnelblick, der seinen Blick einengt. Er handelt immer spontan, aus dem Moment heraus und ohne irgendeine Impulskontrolle.
Wenn sich dann zweimal das Bild öffnet und die ganze Leinwand in Besitz nimmt, ist es umso befreiender für die Charaktere, die in diesem Moment ihr inneres Gefängnis verlassen und Freiheit spüren. Für einen kurzen Moment. Denn, daran lässt Dolan von der ersten Minute, keinen Zweifel: Steve wird sich nicht ändern und Diane muss überlegen, wie sie ihrem Sohn am Besten helfen kann. Bis jetzt hat sie alles für ihren Sohn geopfert.
In Cannes erhielt Xavier Dolan für „Mommy“, gemeinsam mit Jean-Luc Godard für „Adieu au langage“ den Preis der Jury. Verdient.
Seine Hauptdarsteller, die Neuentdeckung Antoine Olivier Pilon, der bislang nur einige TV-Auftritte und eine Nebenrolle in Dolans „Laurence Anyways“ hatte, und die beiden Dolan-Stammschauspielerinnen Anne Dorval und Suzanne Clément hätten ebenfalls Preise für ihre natürliche und glaubwürdige Darstellung der psychsich lädierten Charaktere verdient.
Mein Film ist eine Hommage an die ultimative Liebesgeschichte: voller Ambitionen, unmöglich, eine Liebe, die spektakulär und grenzenlos sein soll. Die Liebe, von der wir nicht zu träumen wagen, die Liebe, die nur im Kino, in Büchern und in der Kunst vorkommt.
„Laurence Anyways“ ist eine Hommage an die Zeit in meinem Leben, bevor ich Regisseur wurde, als ich ein Mann werden musste.
Xavier Dolan
Während andere gerade ihren ersten Film drehen, dreht der 1989 geborene Kanadier Xavier Dolan nach „I killed my Mother“ (2009) und „Herzensbrecher“ (2010) bereits seinen dritten Spielfilm „Laurence Anyways“, der, wie seine vorherigen Filme, in Cannes Preise gewann wurde und für den César als bester ausländischer Film nominiert war. Und während Gleichaltrige laue, in der Provinz spielende, autobiographische Coming-of-Age-Dramen abliefern, dreht Dolan einen Film über die Liebe, der zutiefst persönlich, aber nicht autobiographisch ist.
Denn Xavier Dolan ist nicht transsexuell.
Aber im Mittelpunkt seiner sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Liebesgeschichte steht Laurence Alia (Melvil Poupaud), ein eloquenter, lebensbejahender, beliebter Frauenschwarm, Dichter und Schullehrer, der mit 35 Jahren feststellt, dass er eigentlich eine Frau sein möchte. Das sagt er seiner Freundin Fred (Suzanne Clément), mit der er seit zwei Jahren zusammen ist. Sie fragt sich, ob sie Laurence auch noch liebt, wenn er eine Frau ist. Denn sie ist nicht lesbisch und auch nicht bisexuell. Aber sie unterstützt den Menschen, den sie liebt. Ebenso seine Mutter (Nathalie Baye in einer kleinen, aber prägnanten Rolle), die ihr Kind als ihr Kind liebt.
Laurence stürzt sich voller Hoffnungen in das Abenteuer der Geschlechtsumwandlung und ausgehend von Laurences Geständnis entfaltet Dolan einen knapp dreistündigen Film, der wegen seiner Maßlosigkeit für sich einnimmt und auch deswegen verärgert. Denn „Laurence Anyways“ ist mit 159 Minuten einfach zu lang geraten. In dem ersten und längsten Teil erzählt Dolan, wie Laurence und seine Freunde mit seinem Geständnis umgehen. Da ist der Film eine mitreißende und für sich einnehmende Eloge an die Freundschaft, die Liebe und die Lebensfreude, unterlegt mit einer fetzigen Mischung aus damals aktuellen Popsongs und klassischer Musik.
Aber nach diesem grandiosen ersten Teil, in dem Xavier Dolan fast schon traumwandlerisch immer den richtigen Ton trifft, entgleitet ihm in den wesentlich kürzeren, 1995 und 1998 spielenden Teilen die Geschichte. Sie verliert ihren Schwung. Denn jetzt geht es um das Ende der Beziehung von Laurence und Fred. Sie verließ ihn in den frühen Neunzigern. Aber er verfolgt sie, die für ihn die große Liebe ist, mit teils behutsamer, teils penetranter Hartnäckigkeit. Gleichzeitig sind nicht alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen. Diesen traurigen Teil, der auch radikal mit der vorherigen Stimmung bricht, will man nicht unbedingt sehen. Auch weil die Geschichte jetzt episodisch wirkt und zerfasert. So als ob Dolan nicht wüsste, wie er den Film beenden soll.
„Laurence Anyways“ ist, wie alle großen Liebesfilme, letztendlich ein Film über die Unmöglichkeit der großen Liebe, bei dem die ordnende Hand eines Regisseurs fehlt, der beherzt Szenen aus dem Film entfernt, den Film auf verträgliche zwei Stunden gekürzt und die Vision klarer herausgearbeitet hätte.