Neu im Kino/Filmkritik: „The Happiness of the Katakuris“, erzählt von Takashi Miike

Juli 19, 2023

Ein neuer Film ist Takashi Miikes Genre-Mash-up „The Happiness of the Katakuris“ nicht. Aber er läuft bei uns im Rahmen der „Zeitlos“-Reihe erstmals im Kino. Auf DVD wurde das durchgeknallte Werk bereits 2006 veröffentlicht. Aber im Kino, vor allem in dem kleinen abgeranzten Arthaus-Kino von nebenan in der Spätvorstellung oder im schlecht belüfteten Studentenkino (Gibt es die noch?) entfaltet Miikes Geschichte der Familie Katakuri seinen vollständigen Reiz.

Kurz vor dem wohlverdienten Ruhestand erhält Masao Katakuri die Kündigung. Jetzt will er seinen Lebenstraum verwirklichen: er wird Hotelier. Am Fuß eines Vulkans finden er und seine Familie eine abgeranzte, abgelegen gelegene Pension. Voller Zuversicht und nimmermüdem Optimismus ziehen die vier Generationen der Familie Katakuri in das Haus, das den Charme einer Fünfziger-Jahre-Jugendherberge hat, ein. Sie bereiten alles vor und warten auf ihre ersten Gäste, die nicht kommen wollen.

Als nach langem Warten dann doch, in einer regnerischen Nacht, ihr erster Gast anklopft und ein Zimmer mietet, könnte sich ihr Schicksal wenden. Dummerweise stirbt der Gast noch vor dem Frühstück. Weil ein Toter und noch dazu der unglückselige Umstand, dass der Tote ihr erster Gast war, eine denkbar schlechte Werbung für ihre Pension ist, vergraben sie die Leiche im Wald. Bei ihrem nächsten Gast passiert das gleich. Und auch ihre nächsten Gäste sterben auf teils groteske Art und Weise.

Wie in seinen anderen Filmen pendelt Miike zwischen den Genres und scheut sich nicht vor Übertreibungen. Bei ihm ist eine Blutföntane eher ein Vulkanausbruch und ein unerbittlich zwischen zwei Kontrahenten geführter Kampf zerstört auch schon einmal die Erde. Am bekanntesten ist der äußerst produktive Regisseur für seine Kriminal- und Horrorfilmen, die mal mehr, mal weniger die Genregrenzen und andere Grenzen überschreiten. Zu seinen bekanntesten Filmen, die teilweise auch bei uns im Kino liefen, gehören „Full Metal Yakuza“, „Audition“, „Dead or Alive“, „Ichi the Killer“, „Takashi Miikes Graveyard of Honor“, „13 Assassins“ und „Ace Attorney“.

Aktuell nennt die IMDb ihn als Regisseur von 113 Filmen. Sein Debüt war 1991. Seine Filmographie enthält fast nur Spielfilme. Nicht dass jetzt jemand sagt: mit Musikvideos und Werbeclips seien hundert Filme in dreißig Jahren kein Problem. Bei den Filmen, die ich von ihm kenne, ist von Routine nichts zu spüren.

In dem 2001 entstandenen „The Happiness of the Katakuris“ mischt er munter Animationsfilm mit Realfilm, Familienfilm mit Horrorfilm mit Musical mit Kriminalfilm mit Kitsch-Heimatfilm (so in Richtung „The Sound of Music“ oder deutscher 50er-Jahre-Heimatfilm) und garniert diese Mischung mit viel Humor in ähnlich vielen Schattierungen. Klamauk, Satire, Slapstick und schwarzem Humor wechseln sich munter. Dazwischen wird getanzt, gesungen, chargiert und gestorben.

Das ist nicht perfekt. Das will diese Komödie, die ein überschaubares Budget hatte, auch nicht sein. Sie ist teilweise sogar, objektiv betrachtet, ziemlich schlecht, aber die Energie und Spielfreude von allen Beteiligten täuscht locker darüber hinweg. Dieses wundervolle Chaos voller Ideen und Anspielungen und doch irgendwie liebenswerter Figuren mit all ihren Macken, Schrullen und Verliebtheiten ist alles außer langweilig.

Filmstudenten sollten sich diesen kleinen, dreckigen Film, der wie ein großes Epos auftritt, unbedingt ansehen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Denn mit jedem Bild sagt Miike: „Du kannst das! Dreh deinen Film! Habe Spass! Finde Lösungen und wenn das Geld für einen Vulkanausbruch nicht da ist, dann füge einen animierten ein. Knetfiguren und kindische Zeichnungen können teure Computereffekte mühelos ersetzen.“

Heute würde er vielleicht noch sagen: „In jedem Smartphone hast du eine Kamera. Worauf wartest du noch?“

Rabenschwarze Komödie mit Musical-Einlagen (…) Miike zieht alle Register und bietet eine filmgeschichtlich beziehungsreiche Achterbahnfahrt, die von Knetpüppchen zu Beginn des Films ruppig eingeleitet wird.“ (Lexikon des internationalen Films: Filmjahr 2006)

 

The Happiness of the Katakuris“ ist der siebte Film der von Rapid Eye Movies präsentierten „Zeitlos“-Reihe mit teils unbekannten, teils obskuren und teils bekannten Filmen, die aus Sicht des Verleihs im Kino gesehen werden sollten. Die nächsten Filme der Reihe, die teils erstmals, teils nach langer oder sogar sehr langer Zeit, teils in restaurierten Fassungen im Kino laufen sind:

Dangan Runner (Japan 1996, Regie: Sabu, ab dem 17. August im Kino)

Naomi (Japan 1966, Regie: Kan Mukai, ab dem 21. September im Kino)

Abschied von Gestern (Deutschland 1966, Regie: Alexander Kluge, ab dem 19. Oktober im Kino; – gut, der Film fällt etwas aus der Reihe)

Dragon Inn (Taiwan 1967, Regie: King Hu, ab dem 16. November im Kino)

A Touch of Zen (Taiwan 1971, Regie: King Hu, ab dem 21. Dezember im Kino; – ein Klassiker, der zahlreiche Filme, u. a. „Tiger and Dragon“, beeinflusste)

The Happiness of the Katakuris (Katakuri-ke no kōfuku, Japan 2001)

Regie: Takashi Miike

Drehbuch: Kikumi Yamagishi

mit Kenji Sawada, Keiko Matsuzaka, Shinji Takeda, Naomi Nishida

Länge: 113 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Happiness of the Katakuris“

Metacritic über „The Happiness of the Katakuris“

Rotten Tomatoes über „The Happiness of the Katakuris“

Wikipedia über „The Happiness of the Katakuris“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Takashi Miikes „13 Assassins“ (Jûsan-nin no shikaku, Japan 2010)

Meine Besprechung von Takashi Miikes „Phoenix Wright – Ace Attorney“ (Gyakuten saiban, Japan 2012)

Meine Besprechung von Takashi Miikes „Wara No Tate – Die Gejagten“ (Wara No Tate, Japan 2013)

Ein Making-of zum Film

Ein Gespräch mit Takashi Miike über den Film


Neu im Kino/Filmkritik: „Wara No Tate – Die Gejagten“ sorgen für Hochspannung

Juli 10, 2014

Endlich hat es wieder ein Film des überaus produktiven Takashi Miike („Audition“ und gut einhundert weitere Filme) in unsere Kinos geschafft und er liefert – wie eigentlich immer – großes Kino.
In „Wara No Tate – Die Gejagten“ sollen vier Polizisten Kunihide Kiyomaru zum Gericht bringen. Der nur auf den allerersten Blick alltägliche Auftrag ist ein Himmelfahrtskommando. Denn Kiyomaru ermordete bestialisch eine Siebenjährige und stellte sich auf seiner Flucht der Polizei, weil der todkranke, steinreiche Großvater der Toten ein absurd hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Seitdem möchte anscheinend ganz Japan Kiyomaru bereits vor der Gerichtsverhandlung ermorden.
Schon im Krankenhaus können die Polizisten, die durchaus verschiedene Auffassungen über diesen Auftrag haben, den ersten Mordanschlag verhindern. Eine Krankenschwester wollte Kiyomaru mit einer Spritze töten.
Als nächstes wird, kurz nach ihrer Abfahrt, ein Anschlag auf den gut gesicherten Gefangenenkonvoi verübt – und das ist der Anfang eines fast zweistündigen Action-Feuerwerks in dem die Polizisten, die schnell, vor allem durch ihre Taten, zu dreidimensionalen Charakteren werden, ihren Gefangenen auf 1200 höllischen Kilometern, mit wechselnden Fortbewegungsmitteln, quer durch Japan nach Tokio bringen sollen. Dabei wissen sie nicht, ob sie sich gegenseitig vertrauten können und ob sie die Fahrt überleben werden.
Allein schon mit dieser Story könnte Miike eine Cinemascope-Actionoper abfeiern. Weil Miike sich in jeder Szene mit der Frage, was die Aufgabe des Rechtsstaats ist und wie das Verhältnis von Recht und Selbstjustiz ist, beschäftigt, hat „Wara no Tate – Die Gejagten“ eine philosophische Dimension, die man zuletzt in Actionfilmen oft vermisste. Dabei ist Kiyomaru ein Extrembeispiel, das gerade deshalb zum Prüfen von moralischen Gesetzen und Prinzipien taugt. Er ist eindeutig schuldig. Er bereut nichts. Er genießt die Aufmerksamkeit und auch bei all den Leichen, die sich während der Fahrt um ihn herum stalpen, scheint diese Inkarnation des Bösen nichts außer Genugtuung zu empfinden. Wenn jemand den Tod verdient hat, dann er.
Aber rechtfertigt das Lynchjustiz? Dürfen Polizisten dafür Richter und Henker spielen? Oder sollen sie das Leben eines Schuldigen schützen und dafür unschuldige, rechtschaffene Bürger in Lebensgefahr bringen oder sogar töten? Immerhin verkörpern sie den liberaldemokratischen Rechtstaat und die damit verbundenen Prinzipien, wie dem Recht auf ein faires Verfahren und die Unschuldsvermutung. Aber gelten diese Prinzipien absolut? Oder gibt es eine Grenze?
Diese abstrakten Fragen behandelt Miike innerhalb eines Thrillers, der eindeutig Partei für den Rechtsstaat ergreift und ein, auch storybedingt, sehr pessimistisches Bild von den Menschen und ihrem Vertrauen in den Staat hat. Denn schon das Versprechen auf etwas Geld verwandelt zivilisierte Menschen in Bestien, die sich kaum von Kiyomaru unterscheiden.
Miike behandelt sein Thema innerhalb eines elegant erzählten kühlen Polizeithrillers, der durch seine zahlreichen Action-Szenen, und durchstrukturierten, oft sehr poetischen Bilder (weshalb man den Film auf einer großen Leinwand sehen sollte) beeindruckt. Die Story selbst läuft einerseits geradlinig wie ein Hochgeschwindigkeitszug ab, andererseits schlägt sie immer wieder überraschende Hacken und verweist gelungen auf bekannte Vorbilder, wie den Clint-Eastwood-Film „Der Mann, der niemals aufgibt“ (The Gauntlet, USA 1977).

Wara No Tate - Die Gejagten - Plakat

Wara No Tate – Die Gejagten (Wara No Tate, Japan 2013)
Regie: Takashi Miike
Drehbuch: Tamio Hayashi
LV: Kazuhiro Kiuchi: Kazuhiro Kiuchi, 2004
mit Nanako Matsushima, Tatsuya Fujiwara, Takao Ohsawa, Gorô Kishitani, Masatô Ibu, Kento Nagayama, Tsutomu Yamazaki, Kimiko Yo, Hirotarô Honda
Länge: 117 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Japanische Homepage zum Film
Deutsche „Homepage“ zum Film
Film-Zeit über „Wara No Tate – Die Gejagten“
Moviepilot über „Wara No Tate – Die Gejagten“
Metacritic über „Wara No Tate – Die Gejagten“
Rotten Tomatoes über „Wara No Tate – Die Gejagten“
Wikipedia über „Wara No Tate – Die Gejagten“
Cannes Filmfestival über den Film (unter anderem mit der Pressekonferenz im englischen Voiceover)

Meine Besprechung von Takashi Miikes „13 Assassins“ (Jûsan-nin no shikaku, Japan 2010)

Meine Besprechung von Takashi Miikes „Phoenix Wright – Ace Attorney“ (Gyakuten saiban, Japan 2012)


DVD-Kritik: Einspruch! „Phoenix Wright – Ace Attorney“

Juli 7, 2013

Auch wer sich nur auf die bei uns veröffentlichten Filme des Japaners Takashi Miike konzentriert, dürfte kaum den Überblick behalten. Denn der 1960 geborene Regisseur inszenierte seit seinem Debüt 1991, laut IMDB, fast neunzig Spielfilme und ob diese Liste wirklich vollständig ist, weiß wahrscheinlich noch nicht einmal Miike. Er springt dabei wild zwischen den Genres und liefert eigentlich immer gute Arbeit ab. Bekannt wurde er bei uns mit ziemlich bizarren Kriminalfilmen und ungewöhnlichen Horrorfilmen. Zuletzt drehte er, unter anderem, das grandiose Samurai-Epos „13 Assassins“ und die jetzt bei uns auf DVD und Blu-ray veröffentlichte Computerspielverfilmung „Phoenix Wright – Ace Attorney“, die keine stumpf-stupide Ballerorgie, sondern eine vertrackte Mördersuche ist, die sich hauptsächlich in einem Gerichtssaal abspielt.

Miles Edgeworth ist angeklagt, am Heiligabend am Kürbissee Robert Hammond umgebracht zu haben. Phoenix Wright, ein noch junger und sehr unerfahrener Verteidiger, verteidigt den Angeklagten, einen alten Schulfreund, der als grandioser Ankläger mit wasserdichten Verurteilungen eine glänzende Karriere hinlegte. Deshalb will keiner der hochkarätigen Kollegen von Phoenix Wright den Angeklagten verteidigen.

Außerdem ist Manfred von Karma der Vertreter der Anklage. Der legendäre Ankläger hatte in vierzig Jahren nur einen freien Tag und gewann alle seine Fälle. Schlechter könnten die Chancen für die Verteidigung (auch wenn Phoenix etwas übernatürliche Unterstützung und einige gute Freunde hat) nicht stehen.

Und dann gibt es noch eine Verbindung mit dem fünfzehn Jahre altem DL6-Fall.

Phoenix Wright – Ace Attorney“ spielt in einer gegenwärtigen Steampunk-Welt, in der die Gerichtsverhandlungen zu einem höchstens dreitägigem Duell zwischen Anklage und Verteidigung wurden, in dem über plötzlich auftauchende Bildschirme und Hologramme Beweise und Gegenbeweise geführt werden und wichtiger als die Vorbereitung von Ankläger und Verteidiger ist im Gerichtssaal die schnelle Reaktion auf die neuen Beweise. Ein solches Gerichtsverfahren spottet zwar jedem rechtstaatlichem Verfahren, aber in einem Film funktioniert es prächtig. In dem Computerspiel, auf dem der Film basiert, ist es sicher ähnlich.

Miikes Film ist unterhaltsam in seinen comichaften Übertreibungen, aber vor allem für ein jüngeres Publikum, denen das extrovertierte Verhalten der Charaktere nicht zu kindisch ist und die bei der doch ziemlich durchschaubaren Whodunit-Handlung miträtseln können. Denn mit über zwei Stunden ist „Phoenix Wright – Ace Attorney“ doch etwas lang geraten. Und man sollte die „ab 12 Jahre“-Freigabe als „geeignet für 12-jährige“ interpretieren.

Als Bonusmaterial gibt es ein halbstündiges „Making of“ und über zwanzig Minuten Bilder von verschiedenen Screenings des Films.

Phoenix Wright - Ace Attorney - DVD-Cover

Phoenix Wright – Ace Attorney (Gyakuten saiban, Japan 2012)

Regie: Takashi Miike

Drehbuch: Takeshi Iida, Sachiko Ôguchi

mit Hiroki Narimiya, Takumi Saitô, Mirei Kiritani, Akiyoshi Nakao, Shunsuke Daitô, Rei Dan, Akira Emoto, Ryo Ishibashi

DVD

Koch Media

Bild: 2,35:1 (16:9)

Ton: Deutsch, Japanisch (Dolby Digital 5.1)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Making of, Filmpremiere, Trailer

Länge: 129 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Phoenix Wright – Ace Attorney“

Wikipedia über „Phoenix Wright – Ace Attorney“

Meine Besprechung von Takashi Miikes „13 Assassins“ (Jûsan-nin no shikaku, Japan 2010)

 

 

 


TV-Tipp für den 2. Juli: 13 Assassins

Juli 2, 2013

Tele 5, 22.00

13 Assassins (Japan 2010, R.: Takashi Miike)

Drehbuch: Daisuke Tengan (nach einem Drehbuch von Kaneo Ikegami)

Takashi Miikes Version von „Die sieben Samurai“. Classic!

Alles weitere in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Kôji Yakusho, Takayuki Yamada, Yûsuke Iseya, Gorô Inagaki, Masachika Ichimura, Mikijiro Hira, Hiroki Matsukata, Ikki Sawamura, Arata Furuta, Tsuyoshi Ihara

Wiederholung: Donnerstag, 4. Juli, 00.15 Uhr

Hinweise

Japanische Homepage zum Film (englische Version)

Amerikanische Homepage zum Film

Facebook-Seite zum Film

Wikipedia über „13 Assassins“

Schnittberichte: Vergleich Internationale – Japanische Fassung

Meine Besprechung von Takashi Miikes „13 Assassins“ (Jûsan-nin no shikaku, Japan 2010)