Seit Jahren wird Joy in einem kleinen Raum von einem Sexverbrecher gefangen gehalten. Ihr Sohn Jack kennt nur diesen Raum. Aber er wird älter und stellt Fragen über die Welt. Eines Tages beschließt sie, mit ihrem Sohn zu fliehen.
TV-Premiere des großartigen, sehr beklemmenden und mühelos auf mehreren Ebenen interpretierbaren Kammerspiels.
In „Raum“, dem neuen Film von „Frank“-Regisseur Lenny Abrahamson, sieht man nichts physisch schlimmes. Keine Blutbäder, keine abgetrennten Gliedmaße, keine wüsten Schießereien oder Schlägereien. Es geht ziemlich gesittet zu zwischen Ma (Brie Larson), ihrem fünfjährigem Sohn Jack (Jacob Tremblay) und Old Nick (Sean Bridgers), der Ma vor sieben Jahren entführte und seitdem in einem neun Quadratmeter großem Raum gefangen hält. Und gerade weil jeder sich diese Situation gut vorstellen kann, ist „Raum“ psychisch fordernder als das neueste Horrorfilmblutbad oder irgendein Exploitation-Film.
Ma, die als Siebzehnjährige entführt wurde, versucht Jacob möglichst normal zu erziehen. Für ihn ist daher dieser Raum die Welt. Eine Außenwelt gibt es für ihn nicht. Im Fernsehen sind keine echten Menschen. Und Old Nick versorgt sie, mehr schlecht als recht, mit allem, was sie brauchen.
Aber Jack wird älter, stellt Fragen und Ma überlegt, wie sie flüchten können.
Als in der Filmmitte die Flucht aus dem Raum gelingt, wird zwar der Raum, in dem Ma und Jack leben, größer, aber haben sie wirklich ihr Gefängnis verlassen und wie können sie außerhalb ihres vertrauten Gefängnisses, das sie in den letzten Jahren auch beschützte, überleben? Außerdem veränderte sich die Welt außerhalb des Raums. Mas Eltern, Nancy (Joan Allen) und Robert (William H. Macy), mussten mit dem spurlosen Verschwinden ihrer Tochter umgehen und die Medien interessieren sich für Ma und Jack.
Was das Kammerspiel „Raum“ so grandios macht, ist, dass es auf vielen verschiedenen Ebenen tadellos funktioniert. Es ist an der Oberfläche die Geschichte eines Jungen, der seit seiner Geburt in einem geschlossenen Zimmer lebt und danach die Welt kennenlernt. Es ist auch die Geschichte einer Mutter, die ihr Kind erzieht und vor allen Bedrohungen schützen will. Diese feinfühlig und nuanciert erzählte Mutter-Kind-Geschichte würde schon genügen, um „Raum“ sehenswert zu machen.
Daneben funktioniert „Raum“ auch als Metapher für, nun, je nachdem, wie viel wir den Film hineininterpretieren wollen und welchen Aspekt wir gerade für den Wichtigsten halten, unser Leben, das Erwachsenwerden, das Erkunden der Welt und den sich damit wandelnden Perspektiven. So erscheinen Dinge, die früher für uns groß waren, irgendwann sehr klein. Es geht um die Beziehungen von Eltern zu ihren Kindern und wie damit umgegangen wird.
Die Prämisse von „Raum“ erinnert selbstverständlich an mehrere reale Fälle. Emma Donoghue, die Autorin des Romans und des Drehbuchs, war von dem Fall Elisabeth Fritzl, die von ihrem Vater 24 Jahre in einem Keller gefangen gehalten und mehrfach vergewaltigt wurde und dadurch mehrfache Mutter wurde, inspiriert.
Eine weitere, ebenso offensichtliche und bekannte Inspiration ist der Fall Natascha Kampusch, die acht Jahre in einem Keller gefangen gehalten wurde.
Abrahamson erzählt die Geschichte konzentriert und immer nah an den beiden Hauptfiguren, ihren Gefühlen, ihrer Perspektive und ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit. „Raum“ ist gerade deshalb sehr wahrhaftig und auch unangenehm. Zu gut können wir uns eine solche Gefangenschaft vorstellen. Zu einfach können wir „Raum“ als Metapher für unser eigenes Leben verstehen.
„Raum“ ist beklemmend großartiges Kino, das seine Geschichte ganz altmodisch unaufgeregt und ohne Effekthaschereien erzählt und so auch jede emotionale Distanzierung, jede Flucht aus dem Raum, erschwert.