Neu im Kino/Filmkritik: „The Dead don’t hurt“, die Lebenden tun’s

August 8, 2024

Diese Woche läuft Viggo Mortensens Western „The Dead don’t hurt“ an. In zwei läuft dann Kevin Costners „Horizon“ an. Sein Drei-Stunden-Epos ist der Beginn einer aktuell auf drei bis vier Spielfilme angelegten Erzählung über den amerikanischen Westen und seine Eroberung mit vielen Figuren und Handlungssträngen. (Die Besprechung gibt es zum Filmstart.)

Viggo Mortensen, der wie Costner in seinem Epos, Regie führte, das Drehbuch schrieb, produzierte und die Hauptrolle übernahm, erzählt dagegen in „The Dead don’t hurt“ nur eine Geschichte. Zu den gleichen Themen, mit einigen Variationen und – soweit das beim Vergleich zwischen einem ersten Teil und einem in sich abgeschlossenem Film gesagt werden kann – leicht anderen Schwerpunkten.

In „The Dead don’t hurt“ geht es um Holger Olsen (Viggo Mortensen). In San Francisco trifft er seine Frau Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps). Er verliebt sich sofort in die selbstständige Frau und sie in den nobel schweigenden Mann. Gemeinsam reisen sie zu seinem Haus, einer typischen Wilder-Western-Baracke, malerisch gelegen in einem Tal. Dort versucht sie das Beste aus das der Situation zu machen. Als der Bürgerkrieg ausbricht, meldet er sich freiwillig auf der Seite der Union – und verschwindet für ungefähr die nächste halbe Stunde aus dem Film.

Währenddessen arbeitet Vivienne in dem Dorf im Saloon als Bedienung. Weston Jeffries (Solly McLeod), der gewalttätige, alle schikanierende Sohn des lokalen Großgrundbesitzers Alfred Jeffries (Garret Dillahunt), vergewaltigt sie – und sie wird schwanger.

Als Holger zurückkehrt (inzwischen sind ungefähr neunzig Filmminuten bzw. drei Viertel des Films rum), nehmen sie ihr altes Leben wieder auf. Mehr oder weniger. Denn auch Holger fällt auf, dass das Alter ihres Sohnes nicht zur Dauer seiner Abwesenheit passt.

Kurz darauf erkrankt sie und stirbt. Das ist jetzt kein wahnsinnig großer Spoiler, denn der Film beginnt mit ihrem Tod und entfaltet sich von diesem Moment an in zahlreichen, teils aus verschiedenen Perspektiven erzählten Rückblenden.

In dem Moment arbeitet Holger auch als Dorfsheriff. Er hat etwas Ärger mit dem Bürgermeister Rudolph Schiller (Danny Huston) und dem örtlichen Großgrundbesitzer Jeffries, die die Stadt als ihr Eigentum betrachten, und Jeffries‘ Sohn. Ihn lernen wir ebenfalls am Filmanfang als einen Mann kennen, der in dem Dorf seelenruhig alle erschießt, die er auf seinem Weg vom Saloon zu seinem Pferd trifft. Warum er das tut, wissen wir nicht. Er weiß, dass ihm nichts passieren wird. Holger soll sich so um die Angelegenheit kümmern, dass die Jeffries‘ mit dem Ergebnis einverstanden sind.

Wie diese Angelegenheit endet, wird ebenfalls am Filmanfang erzählt und am Filmende weiter erzählt.

Eigentlich erzählt Viggo Mortensen in seinem zweiten Spielfilm keine komplizierte Geschichte. Im Grundsatz ist es eine sehr einfache Geschichte, die ziemlich genau auf die Frage „Was würdest du tun, wenn deine Frau vergewaltigt wurde?“ hinausläuft. Damit die Bedeutung der Frage für den Protagonisten erfasst werden kann, muss vorher erzählt werden, wer er ist, wer sie ist, welche Beziehung sie zueinander haben und auch in welchem Umfeld die Tat stattfand. Das alles erzählt Mortensen auch.

Aber er erzählt seine Geschichte unnötig kompliziert auf mehreren Zeitebenen mit zahlreichen Zeitsprüngen, die oft erst nach einigen Sekunden bemerkt werden. Und danach in Gedanken in die richtige Chronologie gebracht werden müssen.

Außerdem ist „The Dead don’t hurt“ arg langsam erzählt. Mortensen braucht über zwei Stunden, um eine Geschichte zu erzählen, die als klassischer Hollywoodwestern locker in neunzig oder, wenn es sich um ein straff erzähltes B-Picture handelt, sogar weniger Minuten erzählt wurden.

Diese unnötig verschachtelte Struktur führt dazu, dass die Story, die auch in der offiziellen Synopse und dem Trailer (der die Geschichte weitgehend chronologisch bewirbt) fast vollständig erzählt wird, sich erst langsam, eigentlich erst am Filmende, in ihrer Chronologie zusammen setzt. Bis dahin darf munter gerätselt werden, wo die Szene hingehört. Die Identifikation mit den einzelnen Figuren ist durchgehend schwierig. Das Miterleben ihrer emotionalen Reise wird zugunsten der Struktur geopfert.

Auch alle im Film angesprochenen Themen, die zugleich die klassischen Western-Themen und Konfliktkonstellationen sind, leiden darunter. Sie entfalten nie die Kraft, die sie entfalten könnten.

Diese nicht chronologische, zersplitterte Struktur zerstört den Western, der letztendlich eine gradlinige, einfache Geschichte erzählt. Hätte Mortensen „The Dead don’t hurt“ chronologisch erzählt, hätte er von mir sicher eine absolute Sehempfehlung erhalten. Denn die Schauspieler sind gut. Die Bilder von Marcel Zyskind („The Killer inside me“, „Daliland“, „Falling“ [Mortensens Regie-Debüt]) ebenso. Die angesprochenen Themen sind damals und heute wichtig und ihre Behandlung ist gelungen. Es ist alles vorhanden für einen packenden Western.

Aber wegen der Präsentation der Geschichte packt der Western nicht. Es ist wie das Betrachten von auf dem Boden zerstreuten Notizzetteln, die mühsam in die richtige Reihenfolge gebracht werden.

Das macht „The Dead don’t hurt“ zu einem ärgerlichem Film.

The Dead don’t hurt (The Dead don’t hurt, USA/Mexiko 2023)

Regie: Viggo Mortensen

Drehbuch: Viggo Mortensen

Musik: Viggo Mortensen

Produktion: Viggo Mortensen (und andere)

Kamera: „Vielleicht nächstes Mal.“

mit Viggo Mortensen, Vicky Krieps, Solly McLeod, Danny Huston, Garret Dillahunt, Colin Morgan, Ray McKinnon, W. Earl Brown, Atlas Green

Länge: 129 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Dead don’t hurt“

Metacritic über „The Dead don’t hurt“

Rotten Tomatoes über „The Dead don’t hurt“

Wikipedia über „The Dead don’t hurt“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Der große Trip – Wild“ – Selbsterfahrung, the American Way

Januar 17, 2015

Besonders groß sind die Sympathien mit Cheryl Strayed am Anfang von „Der große Trip – Wild“ nicht. Denn die 26-jährige will, ohne ein Jota Wandererfahrung, aber mit einer anscheinend aus dem Alles-was-Sie-für-eine-lange-Wanderung-brauchen-Katalog zusammengekauften Ausrüstung, die sie kaum tragen kann, den über viertausend Kilometer (bzw. 2663 Meilen) langen Pacific Crest Trail, einen Wanderweg an der US-Westküste, der sich von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze erstreckt, abwandern.
Diese Wanderung soll, wie man aus den assoziativ eingefügten Rückblenden erfährt, ihr Weg zu einer inneren Läuterung und einem besseren Leben sein. Vor der Wanderung war ihr Leben ein einziges Chaos aus Sex, Drogen, gescheiterten Beziehungen und ohne Perspektive.
Drei Monate wandert sie durch die Wüste, den Schnee und unberührte Wälder bis sie nach 1100 Meilen an ihrem Ziel ist. Später schrieb Strayed über Selbstfindung beim Wandern das Buch „Wild: From Lost to Found on the Pacific Crest Trail“ (Der große Trip). Schon vor der Veröffentlichung kaufte Reese Witherspoon das Buch, das ein Bestseller wurde. Sie übernahm auch die Hauptrolle und jetzt wurde sie dafür, nach zahlreichen anderen Nominierungen (wie Bafta und Golden Globe), auch für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert. Laura Dern, die ihre Mutter spielt, wurde als beste Nebendarstellerin nominiert.
Und Witherspoons Leistung bei diesem Wanderfilm ist auch beeindruckend.
Allerdings funktioniert bei dem von „Dallas Buyers Club“-Regisseur Jean-Marc Vallée inszeniertem Film die Struktur von Strayeds Bericht im Film nur bedingt. Strayed wandert. Sie muss gegen ihren inneren Schweinehund und ihre Unerfahrenheit ankämpfen. Das gelingt ihr mit der manischen Energie einer Süchtigen, die sich jetzt ein Ziel gesetzt hat, das sie unbedingt erreichen möchte. Sie trifft andere Wanderer und Anwohner des Wanderweges. Diese Menschen sind – wie es in der Realität nun einmal ist – normalerweise nett und hilfsbereit. Sie erinnert sich an ihre Vergangenheit.
Das alles funktioniert in einem Erlebnisbericht, bei dem sich viel im Kopf des Erzählers abspielt, besser als in einem Film. Denn gerade diese Innensicht, diese Selbstgespräche und Erinnerungen (die immerhin in Rückblenden illustriert werden können), sind nicht filmisch. Außerdem fehlt Strayeds Wanderung, im Gegensatz zu, beispielsweise, „All is Lost“ (mit Robert Redford) oder „Spuren“ (mit Mia Wasikowska), die lebensbedrohliche Dimension. Strayed muss in „Der große Trip – Wild“ nicht um ihr Leben, sondern gegen ihren inneren Schweinehund kämpfen. Mit von Anfang an bekanntem Ergebnis.
So überzeugt „Der große Trip – Wild“ vor allem als Leistungsschau einer Schauspielerin, garniert mit schönen Landschaftsaufnahmen.

Der große Trip - Wild - Plakat

Der große Trip – Wild (Wild, USA 2014)
Regie: Jean-Marc Vallée
Drehbuch: Nick Hornby
LV: Cheryl Strayed: Wild, 2012 (Der große Trip)
mit Reese Witherspoon, Laura Dern, Thomas Sadoski, Michiel Huisman, Gaby Hoffmann, Kevin Rankin, W. Earl Brown, Mo McRae, Keene McRae
Länge: 116 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Der große Trip – Wild“
Moviepilot über „Der große Trip – Wild“
Metacritic über „Der große Trip – Wild“
Rotten Tomatoes über „Der große Trip – Wild“
Wikipedia über „Der große Trip – Wild“ (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood über „Der große Trip – Wild“
Meine Besprechung von Jean-Marc Vallées „Dallas Buyers Club“ (Dallas Buyers Club, USA 2013)
Homepage von Nick Hornby
Homepage von Cheryl Strayed