Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ in Kirill Serebrennikovs Alexei-Salnikow-Verfilmung

Januar 26, 2023

Erstens: Kirill Serebrennikovs neuer Film beginnt mit dem Hinweis, in dem Film seinen Szenen, in denen geraucht und Alkohol getrunken werde. Nun, ob diese zutreffende Warnung für Sechzehnjährige (der Film ist hier „frei ab 16 Jahre“) wirklich nötig ist, bezweifle ich ernsthaft. Außerdem, wenn es schon gut gemeinte Warnungen gibt, hätten die Macher auch gleich auf die teils sehr graphisch gezeigte Gewalt, längere Nacktszenen, vulgäre Sprache und die konstante Reizüberflutung hinweisen können. Und da sind wir noch lange nicht beim Inhalt angelangt. Vor dem könnte auch noch gewarnt werden. Denn dieser ist ziemlich verstörend. Jedenfalls für alle, die glauben, Russland sei ein Paradies, in dem jeder gerne leben möchte.

Aber wahrscheinlich ist die Warnung nur ein Witz über idiotische Triggerwarnungen – oder bei russischen Filmen eine Auflage, die erfüllt werden muss, um den Film dort im Kino zeigen zu dürfen.

Zweitens: Kirill Serebrennikov ist Russe und einer der wichtigsten zeitgenössischen russischen Regisseure.

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor einem knappen Jahr wird ja darüber diskutiert, ob deswegen auch russische Künstler und Kunst boykottiert werden sollten. Wer dies etwas differenzierter tut, muss zur Kenntnis nehmen, dass Serebrennikov kein Putin-Freund, sondern schon seit Jahren ein wortstarker Putin-Kritiker ist. Mit offensichtlich fingierten Beschuldigungen wurde er angeklagt und verurteilt. Er stand jahrelang unter Hausarrest und er durfte das Land nicht verlassen. Seine Arbeiten wurden, wenig überraschend, von der Regierung als systemkritisch eingestuft.

Selbstverständlich kritisiert Serebrennikov den völkerrechswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Seit April 2022 lebt er in Berlin.

In dem Moment hatte er seinen neuen Film bereits abgedreht. In Cannes wurde „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ bereits 2021 im Wettbewerb gezeigt.

Im Mittelpunkt der schwarzhumorigen Satire steht, naja eher taumelt und schneuzt Petrow sich in den ruhigen Tagen zwischen Weihnachten und Silvester durch Jekaterinburg. Er fährt Bus. Er trifft seinen alten Freund Igor und gemeinsam begeben sie sich in einem Leichenwagen, in dem gerade in einem Sarg eine Leiche befördert wird, auf eine ausgedehnte Sauftour.

Währenddessen schlägt sich Petrows Frau, eine Bibliothekarin, mit einem Lesekreis herum, kocht und verletzt ihren Sohn. Auch sie erkrankt und fantasiert.

Ihrem Sohn ergeht es nicht besser. Aber er will unbedingt ins Theater zum Jolkafest, dem sowjetischen und jetzt russischen Äquivalent zu einer hiesigen Weihnatsshow.

Petrov’s Flu“ ist wie ein Fiebertraum, in dem die Figuren sich immer wieder an vergangene Ereignisse erinnern, fantasieren und durch die Stadt stolpern. Im Film und in Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“, den Serebrennikov verfilmte, bewegen Petrow und Petrowa sich zwar ständig durch die Stadt, aber eine konventionelle Geschichte ergibt sich daraus nicht. Ihre Bewegungen sind eher ziellos und immer wieder verändern Zufälle ihren ursprünglich geplanten Weg. Es wird munter vor sich hin assoziiert. Einige Figuren und Themen tauchen öfter auf. Einige Ereignisse werden zu einem späteren Zeitpunkt aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.

Dabei folgt Serebrennikov Salnikows Roman ziemlich präzise. Auch wenn er einiges weglässt und einige Episoden verschiebt. Der größte Unterschied ergibt sich aus seiner Erzählweise. Der sehr russische Roman ist doch etwas langsam und fast schon langweilig realistisch erzählt. Obwohl die Geschichte in der Gegenwart spielt und es zahlreiche Anspielungen auf die US-Popkultur gibt (so werden „Matrix“ und „Fight Club“ erwähnt), könnte sie genausogut vor vierzig, fünfzig oder sogar hundert Jahren spielen. Der trinkfreudige Petrow und seine ebenso trinkfreudigen Freunde verkörpern genau das Bild, das wir von Russland haben. Die unhöfliche, die Fahrgäste beleidigende Schaffnerin und die abgeranzten Wohnungen strahlen genau den autoritätshörigen Mief aus, den wir mir der untergegangenen Sowjetunion und ihrer konstanten Mangelwirtschaft verbinden.

Im Film wird daraus eine Dystopie, die ein Land lange nach seinem Zerfall in einem Zustand hysterischer Ohnmacht zeigt. Serebrennikov zeigt diesen rasenden Stillstand in oft extrem langen Takes als eine konstante Reizüberflutung. Das gilt sogar für die wenigen ruhigen Szenen.

Das ist ein ziemlich furioser und die Sinne überwältigender Trip. Auch ohne Alkohol und Rauschwaren. Mit zweieinhalb Stunden ist diese kaum verhüllte Zustandsbeschreibung eines im Chaos vor sich hin taumelnden Reiches aber deutlich zu lang geraten. Eine halbe Stunde weniger wäre mehr gewesen.

Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber (Petrovy v grippe, Russland/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2021)

Regie: Kirill Serebrennikov

Drehbuch: Kirill Serebrennikov

LV: Alexei Salnikow: Petrovy v grippe i vokrug nego, 2016 (Petrow hat Fieber)

mit Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Yulia Peresild, Yuri Kolokolnikov, Yuriy Borisov, Ivan Dorn, Aleksandr Ilyin, Sergey Dreyden, Olga Voronina, Timofey Tribuntsev, Semyon Steinberg, Georgiy Kudrenko

Länge: 152 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage

Alexei Salnikow: Petrow hat Fieber – Gripperoman

(übersetzt von Bettina Kaibach)

Suhrkamp, 2022

368 Seiten

25 Euro

Originalausgabe

Petrovy v grippe i vokrug nego

AST/Redakcija Elena Subina, 2016

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Moviepilot über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Metacritic über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Rotten Tomatoes über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Wikipedia über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ (deutsch, englisch)

Perlentaucher über den Roman „Petrow hat Fieber“

Meine Besprechung von Kirill Serebrennikovs „Leto“ (Leto, Russland/Frankreich 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: „A Hero“, „Abteil Nr. 6“, „Das Ereignis“, „Bis wir tot sind oder frei“ – vier ausgezeichnete Filme für den Arthouse-Fan

April 4, 2022

Neben der neuen Marvel-Origin-Story „Morbius“(ein Arzt experimentiert sich zum Vampir) starten diese Woche auch einige Filme für den Arthouse-Fan. Garantiert ohne Vampire und CGI. Dafür zweimal auf Tatsachen basierend, zweimal könnte es so passiert sein, immer gab es auf Festivals Preise für die Filme und jeder dieser Filme ist, bei allen Unterschieden, sehenswert.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani“ ist der neue Film von Asghar Farhadi. In Cannes erhielt das absolut sehenswerte Drama 2021 den Großen Preis. Weil der titelgebende Rahim Soltani seine Schulden nicht bezahlen kann, verbüßt er eine Haftstrafe. Ab und zu darf er für einen Freigang die Anstalt verlassen. Er versucht seine Schulden irgendwie zu tilgen.

Als seine Freundin an einer Bushaltestelle zufällig eine Tasche mit wertvollen Münzen findet, könnte er damit seine Schulden auf einen Schlag bezahlen. Aber dann, nachdem er feststellt, dass die Münzen dafür nicht ausreichen, packt ihn das Gewissen. Sagt er jedenfalls. Er sucht in Shiraz die Besitzerin. Als sie sich meldet, geben er und seine Freundin ihr die Münzen zurück. Damit könnte die Episode zu Ende sein.

Dummerweise erfahren die Haftanstaltsleiter davon. Sie sind begeistert von dieser Heldentat, die einer ihrer Schützlinge begangen hat. Unverzüglich informieren sie, auch weil sie so ihr Gefängnis in einem positiven Licht präsentieren können, die Öffentlichkeit über Rahims edle Tat. Die Presse ist ebenfalls begeistert; bis sie die Geschichte genauer überprüft und auf immer mehr Widersprüche stößt. Auch Rahims Gläubiger erzählt seine Version und warum er Rahim die Schulden nicht erlassen will.

Nachdem Asghar Farhadi seinen vorherigen, etwas enttäuschenden Film „Offenes Geheimnis“ in Spanien drehte, kehrt er mit „A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani“ wieder in seine Heimat, den Iran, und zu alter Stärke zurück. Rahims Geschichte ist universell und gleichzeitig sehr konkret in der iranischen Wirklichkeit verortet. Es wurde vor Ort gedreht, es gibt einen Einblick in den iranischen Alltag und die Strukturen der Gesellschaft. Gleichzeitig könnte Rahims Geschichte prinzipiell überall spielen. Denn überall kann ein Mann sich mit einer schlechten Geschäftsidee verschulden, überall kann er zufällig etwas wertvolles finden und überall steht er vor der Frage, wie er mit dem Fund umgehen soll. Farhadi gibt allerdings keine einfachen Antworten auf Rahims Dilemma. Er zeigt nur, was geschieht und er präsentiert verschiedene, sich teils widersprechende Perspektiven und Interpretationen der Ereignisse. Es sind Interpretationen, die sich verändern können. So ist der Anstaltsleiter zunächst begeistert von Rahims edler Tat. Er fordert ihn sogar auf, sie etwas auszuschmücken. Als dann die ersten Zweifel an Rahims Geschichte aufkommen, lässt er ihn wie eine heiße Kartoffel fallen. Durch diese interpretationsoffene Erzählweise ist bis zum Schluss unklar, ob der um seine Ehre kämpfende Rahim wirklich so naiv und treudoof ist, wie er sich gibt, oder ob er nicht immer mindestens einen Hintergedanken hatte und der Lauf der Ereignisse sich anders als von ihm geplant entwickelte. Weshalb er wieder etwas tun muss. Dabei scheint es für ihn, auch wenn Menschen ihm helfen wollen, nur immer schlimmer zu werden.

Farhadi erzählt diese Geschichte eines Mannes, der um seine Ehre kämpft, mit nie nachlassender Spannung in einem ruhigen Erzähltempo.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani (Ghahreman, Iran/Frankreich 2021)

Regie: Asghar Farhadi

Drehbuch: Asghar Farhadi

mit Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Fereshteh Sadrorafaii, Sahar Goldoust, Maryam Shahdaie, Ali Reza Jahandideh

Länge: 128 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Französische Homepage zum Film

AlloCiné über „A Hero“

Moviepilot über „A Hero“

Metacritic über „A Hero“

Rotten Tomatoes über „A Hero“

Wikipedia über „A Hero“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Asghar Farhadis „Le Passé – Das Vergangene“ (Le Passé, Frankreich 2013)

Meine Besprechung von Asghar Farhadis „The Salesman“ (Fourshande, Iran/Frankreich 2016) und der DVD

Meine Besprechung von Asghar Farhadis „Offenes Geheimnis“ (Todos lo saben, Spanien/Frankreich/Italien 2018)

Auch Juho Kuosmanens neuer Film „Abteil Nr. 6“ lief 2021 in Cannes und erhielt den „Grand Prix“.

Er erzählt die Geschichte von Laura, einer finnischen Archäologiestudentin, die im Winter von Moskau nach Murmansk aufbricht. Dort will sie die berühmten uralten Felsmalereien der Stadt besichtigen. Den tagelangen Weg dorthin legt sie in einem Zug zurück. Ihr Abteil muss sie mit Ljoha teilen. Der Jung-Macho ist das genaue Gegenteil der Studentin. Er ist ein Bergarbeiter, trinkfest, vulgär, ungebildet und scheinbar absolut unsensibel. Immerhin ist er in der ersten gemeinsamen Nacht zu betrunken, um sich ihr zu nähern. Lauras Versuch, in ein anderes Abteil zu wechseln, schweitert. Deshalb muss sie notgedrungen mit Ljoha arrangieren.

Kuosmanen („Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“) konzentriert sich in seinem Roadmovie darauf, wie Laura und Ljoha im titelgebenden „Abteil Nr. 6“ eine für die Reise andauernde Freundschaft entwickeln.

Laura, die junge, lesbische, unglücklich verliebte, sich im Moskauer Intellektuellenmilieu bewegende Studentin, entdeckt nämlich ungeahnte Facetten in Ljoha. Er versucht, auf seine jugendlich-unbeholfene Art, sie zu beeindrucken. Er will ihr, soweit das auf einer Zugfahrt mit wenigen Stopps möglich ist, sein Land und die russische Seele zu zeigen. Dazu gehört auch ein Besuch bei seiner Pflegemutter. Und er wird zu ihrem Beschützer und Reiseführer.

Im Presseheft sagt Kuosmanen, dass er, mit Einverständnis von Rosa Liksom, so viel an ihrem Roman veränderte, dass der Film jetzt nur noch von ihm inspiriert sei: „Wir haben so viel geändert, dass die eigentliche Frage ist, was nicht geändert wurde.“

Das erklärt vielleicht, warum es keine Filmausgabe von Liksoms Roman gibt.

Abteil Nr. 6 (Hytti nro 6, Finnland/Deutschland/Russland/Estland 2021)

Regie: Juho Kuosmanen

Drehbuch: Andris Feldmanis, Juho Kuosmanen, Livia Ulman, Lyubov Mulmenko (russische Dialoge)

LV: Rosa Liksom: Hytti nro 6, 2011 (Abteil Nr. 6)

mit Seidi Haaria, Yuriy Borisov, Dinara Drukarova, Julia Aug, Lidia Kostina

Länge: 112 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Filmportal über „Abteil Nr. 6“

Moviepilot über „Abteil Nr. 6“

Metacritic über „Abteil Nr. 6“

Rotten Tomatoes über „Abteil Nr. 6“

Wikipedia über „Abteil Nr. 6“ (deutsch, englisch)

Audrey Diwans „Das Ereignis“ erhielt 2021 in Venedig den Goldenen Löwen als Bester Film. Wie Kuosmanen erzählt sie die Geschichte aus der Perspektive einer jungen Frau. Es handelt sich um die Geschichte von Annie Ernaux, die 1963 in Frankreich schwanger wurde. 2000 erschien ihr Buch über ihre Schwangerschaft. Damals studierte sie Literatur an der Universät und sie stand kurz vor den Abschlussprüfungen. Ein Kind hätte das Ende ihrer beruflichen Ambitionen bedeutet. Eine Abtreibung könnte ihren Tod bedeuten oder, wenn sie erwischt wird, eine Haftstrafe. Keine diese Möglichkeiten ist besonders prickelnd für die unverheiratete, in keiner festen Beziehung lebende Studentin.

Diwan erzählt diese in wenigen Wochen spielende Geschichte immer nah bei der an Anamaria Vartolomei gespielten Anne. Die Handkamera verfolgt sie und nimmt ihren Blick ein, wenn sie verschiedene Ärzte besucht, erfolglos verschiedene Abtreibungsmethoden ausprobiert und die Schwangerschaft vor ihren Eltern und Freundinnen verheimlichen will. Das wird natürlich zunehmend schwieriger.

Einerseits ist „Das Ereignis“ ein historischer Film. Er spielt 1963 als Abtreibung in Frankreich verboten war. 1975 wurde sie legalisiert. Seitdem gab es weitere Gesetzesänderungen, die die Rechte der betroffenen Frauen stärkten. Andererseits ist in anderen Ländern die Abtreibung verboten und auch in Ländern, in denen sie erlaubt ist, wird heftig über sie gestritten. So wurden in den USA in den vergangenen Monaten in einigen Staaten Gesetze formuliert, die eine Abtreibung verhindern sollen. Auch bei einer Vergewaltigung oder Inzest. Diese Aktualität des Themas ist in Diwans Drama jederzeit spürbar.

Gleichzeitig gelingt es ihr, nachvollziehbar zu machen, warum eine Frau abtreiben möchte und welchem Druck sie ausgesetzt ist. Von der Gesellschaft, ihren Eltern, Freunden und den Ärzten, die damals alle ausnahmslos Männer waren.

Das Ereignis (L’événement, Frankreich 2021)

Regie: Audrey Diwan

Drehbuch: Audrey Diwan, Marcia Romano, Anne Berest

LV: Annie Ernaux: L’événement, 2000 (Das Ereignis)

mit Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquéro, Louise Chevillotte, Pio Marmaï, Sandrine Bonnaire

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

AlloCiné über „Das Ereignis“

Moviepilot über „Das Ereignis“

Metacritic über „Das Ereignis“

Rotten Tomatoes über „Das Ereignis“

Wikipedia über „Das Ereignis“ (deutsch, englisch, französisch)

Bis wir tot sind oder frei“ lief nicht auf diesen großen Festivals. Das auf wahren Ereignissen basierende Drama hatte seine Premiere 2020 beim Filmfest Hamburg. Beim Black Nights Film Festival Talinn 2020 wurde die Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Beim Avanca Film Festival 2021 wurde das Drama unter anderem als bester Film ausgezeichnet.

In den deutschsprachigen Regionen der Schweiz lief Oliver Rihs‘ Film bereits im Januar 2021 an. Und das ist nachvollziehbar. Denn trotz der auch bei uns bekannten Schauspieler, wie Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase, Anatole Taubman und Bibiana Beglau in den Hauptrollen, ist es primär ein schweizer Film der eine schweizer Geschichte erzählt. Nämlich die von dem Ausbrecherkönig Walter Stürm und wie er in den Achtzigern zu einer Symbolfigur und Held der linken Szene wurde. Einige wichtige Rolle spielte dabei Barbara Hug.

Sie gehört zu dem 1975 gegründeten Zürcher Anwaltskollektiv. Diese Anwälte verteidigen, teils zu symbolischen Honoraren, Linke, Mieter*innen, Arbeitnehmer*innen und, im Allgemeinen und im Besonderen, von der staatlichen Repressionsmaschinerie betroffene Menschen. Das können mehr oder weniger friedliche Demo-Teilnehmer*innen, Autonome oder auch Menschen, die wegen terroristischer Taten angeklagt sind, sein. Das Kollektiv versteht sich als Teil einer Bewegung für eine Schweiz, die weniger verknöchert und rückständig ist. Und das war die Schweiz damals. Sie liegen im ständigen Streit mit dem sie bei der Arbeit behindernden Staat. Die seit ihrer Kindheit gehbehinderte Hug ist eine taffe Anwältin, die wegen ihres Verstandes und ihrer ebenso klaren, wie kämpferischen Argumentation vor Gericht hohes Ansehen genießt.

Der 1942 geborene Unternehmersohn Walter Stürm ist zu diesem Zeitpunkt – der Film beginnt 1980 – bereits ein bekannter Berufsverbrecher mit zahlreichen Gefängnisaufenthalten und -ausbrüchen. Ihm geht es um Geld und Frauen. Politik interessiert ihn nicht. Aber sein unbändiger Freiheitsdrang und sein damit verbundener Kampf gegen das System sind anschlussfähig bei den Linken. Und so wird der unpolitische, aber charismatische Stürm, mit Hilfe seiner Anwältin Barbara Hug, zu einer Symbolfigur der Linken, irgendwo zwischen Robin Hood und Mini-Che-Guevara. Hug stellte ihn auch Mitgliedern der zweiten Generation der RAF vor.

Rihs‘ Drama konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Hug und Stürm – und den historischen Hintergrund, der inzwischen immer mehr in Vergessenheit gerät. Denn auch die Schweiz hatte ihre 68er-Bewegung.

Bis wir tot sind oder frei“ ist eine schöne Zeitreise in die achtziger Jahre, die in der schweizerdeutschen Originalversion sicher rundum überzeugte. Für die hiesige Auswertung sprachen die Schauspieler eine hochdeutsche Synchronisation ein. Diese aseptische Tonspur zerstört viel von der O-Ton-Atmosphäre und verleiht dem Drama das Flair eines bemühten Fernsehspiels.

Gerade weil ich ein wenig Schweizerdeutsch verstehe, hätte ich viel lieber die Orignalversion, gerne auch mit Untertitel, gesehen.

Bis wir tot sind oder frei (Schweiz/Deutschland 2020)

Regie: Oliver Rihs

Drehbuch: Dave Tucker, Oliver Rihs, Ivan Madeo, Norbert Maass, Oliver Keidel

mit Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase, Bibiana Beglau, Anatole Taubman, Pascal Ulli, Philippe Graber

Länge: 119 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Bis wir tot sind oder frei“

Moviepilot über „Bis wir tot sind oder frei“

Rotten Tomatoes über „Bis wir tot sind oder frei“

Wikipedia über „Bis wir tot sind oder frei“