DVD-Kritik: Sam Fullers Noir „Der nackte Kuss“

Sam Fullers für wenig Geld gedrehter und damals wegen seines In-your-face-Stils sicher schockierender Film „Der nackte Kuss“ ist eine irritierende, teils packende, teils langweilende, letztendlich nicht überzeugende Mischung aus Noir, Melodrama der Douglas-Sirk-Schule und Klippschuldidaktik, die gerade wegen ihrer Machart einlädt, die Geschichte und einzelne Szenen in die verschiedensten psychologischen, psychoanalytischen, sozialen und politischen Richtungen zu interpretieren – und so mehr in dem Film zu sehen, als wirklich vorhanden ist. Denn die ziemlich absurde Story plätschert eher vor sich hin, als dass sie von Sam Fuller, der auch das Drehbuch schrieb und den Film produzierte, zielstrebig in eine Richtung getrieben wird.

Das erste Mal begegnen wir Kelly (Constance Towers), als sie wütend einen betrunkenen Mann zusammenschlägt und sich von ihm die ihr zustehenden 75 Dollar nimmt. Das nächste Mal, zwei Jahre später, taucht sie in einer lauschigen All-American-Kleinstadt auf, springt mit dem Stadtpolizisten ins Bett, beschließt nach einem Blick in den Spiegel ihr Leben zu ändern, nimmt sich in einer Pension ein Zimmer und nimmt einen Job als Krankenschwester für verstümmelte Kinder an. Sie ist schnell allseits beliebt, trifft sogar den Finanzier der örtlichen orthopädischen Klinik, einen jungen, gut aussehenden Millionär, Junggesellen und Nachfahren des Stadtgründers, der sich auch sofort in sie verliebt und sie trotz ihrer Vergangenheit als Prostituierte (hm, das hieß damals wohl noch Freudenmädchen und heute Sex-Arbeiterin) heiraten will.

Die Hochzeit platzt, als Kelly entdeckt, dass ihr Zukünftiger ein Pädophiler ist und ihr einreden will, dass sie beide Ausgestoßene aus der Gesellschaft und daher füreinander bestimmt seien. Sie erschlägt ihn und muss sich im letzten Drittel des Films gegen eine Armada zweifelhafter Belastungszeugen wehren.

Ernst nehmen kann man die Geschichte dieses B-Picture nicht. Dafür ist sie zu sehr schlechte Kolportage. Sam Fuller badet zu sehr im Klischee der Hure mit dem goldenen Herzen und kinderliebenden Übermutter. Sie ist eine Über-Doris-Day. Nur um Kelly dann Sekunden später in typischer Tough-Guy-Manier agieren zu lassen. Die Schauspieler spielen oft zu theatralisch. Die Dialoge sind oft gruselig. Einzelne Szenen dauern viel zu lange, andere sind erkennbar Füllmaterial um die Laufzeit zu strecken. Die Gewalt, die Verstümmelungen der Kinder und der Sex, vulgo nackte Haut und Bilder aus dem Bordell, sind zu sehr auf den Effekt beim damaligem vergnügungssüchtigem Publikum hin inszeniert. So schlägt in den ersten Minuten eine wütende Frau endlos auf einen Mann ein – und die Kamera übernimmt die Perspektive des Mannes, was dazu führt, dass die Furie uns, die nichtsahnenden Zuschauer, schlägt. In diesem Moment wird ein Ton vorgegeben, der nicht zu den späteren teils süßlichen, teils dokumentarischen Szenen passt.

Der nackte Kuss“ wäre ein krudes, nicht besonders interessantes B-Movie, wie es tausend andere gibt, wenn Sam Fuller nicht von Anfang an die Kleinstadt als bigotte Vorhölle zeigen würde. Da springt ein anständiger und geachteter Polizist sofort mit Kelly ins Bett. Da gibt es ein gut funktionierenden, von einer Frau geleitetes Bordell, in dem auch die ehrbaren Bürger verkehren und die Aussage der Puffmutter hat bei der Polizei mehr Gewicht als die Aussage der zugezogenen, auf ihrer Arbeit äußerst beliebten, großherzigen und kinderliebenden Kelly. Es gibt ein Krankenhaus für verstümmelte Kinder und Sam Fuller, der im zweiten Weltkrieg Soldat war und seine Kriegserfahrungen in dem Spielfilm „The Big Red One“ verarbeitete, zeigt exzessiv, nach dem Koreakrieg und kurz vor dem Beginn der offenen US-Intervention in Vietnam, ihre künstlichen Gelenke und wie sie sich mühsam mit ihnen bewegen. Der Zukünftige, ein gutaussehender Junggeselle und Frauenschwarm, ist ein Pädophiler; was Kelly nach dem ersten Kuss wusste. Denn es war ein ’nackter Kuss‘, was, so erklärt sie uns, das Kennzeichen eines Perversen sei. Und er will eine ehemalige Prostituierte heiraten.

Heute fällt in diesen Momenten vor allem auf, wie hanebüchen vieles in dem Film ist. Aber 1964 liefen „Das war der wilde Westen“, „Alexis Zorbas“, „My Fair Lady“ (mt Audrey Hepburn), „Mary Poppins“ (mit Julie Andrews), „Cleopatra“ (mit Elizabeth Taylor), „Schick mir keine Blumen“ (mit Doris Day), und „Marnie“ (mit Tippi Hedren) im Kino. Dagegen ist „Der nackte Kuss“ aus einer vollkommen anderen Welt.

Insofern ist „Der nackte Kuss“ als wütender Blick hinter die saubere Fassade des Kleinstadt-Amerikas und der dort herrschenden Doppelmoral interessant. Denn Sam Fuller greift in „Der nackte Kuss“ die gesellschaftlichen Konventionen ständig an, demaskiert und unterläuft sie. Als psychologische Zeitdiagnose ist der Noir höchst aufschlussreich. Denn, es ist eine Binsenweisheit, dass man aus den kleinen, schnell gedrehten Werken, den B-Pictures in denen die Macher, solange sie einen billig produzierten Film, der sein Geld einspielen würde, ablieferten, ihre Botschaft kompromisslos formulieren konnten, mehr über die wahren Verhältnisse in einem Land lernen kann, als aus den hochbudgetierten Filmen.

Aber ein guter Film ist „Der nackte Kuss“ nicht. Ein bizarrer, ein irritierender, ein teils langweilender, teils beunruhigender und polarisierender Film ist „Der nackte Kuss“ schon, der jetzt in der „Arthaus Retrospektive“ als sparsam ausgestatte DVD mit gutem Bild und Ton erschien.

 

Andere Stimmen

 

The one who maintained the highest noir profile in the 1960s was Sam Fuller with a trio of startingly brash movies – ‚Underworld USA‘ (1961), ‚Shock Corridor‘ (1963) and ‚The Naked Kiss‘ (1964). All three were forthright attacks on bourgeois hypocrisy and suburban values and the closest in feel to the noirs of the classic era. In Fuller’s uncompromising vision, the cynicism, pessimism and dark existentialism of film noir were far from dead.“ (Alexander Ballinger/Danny Graydon: The Rough Guide to Film Noir, 2007)

 

Weitgehend einfühlsamer und zurückhaltender Kriminalfilm mit melodramatischen Akzenten. Hervorragend: das sensible Spiel der Hauptdarstellerin.“ (Lexikon des internationalen Films)

 

Fuller demontiert in diesem Film, der von vielen Kritikern als sein bösartigstes und beunruhigendstes Werk angesehen wird, so ziemlich alle Ideale, die den Amerikanern hoch und heilig sind.“ (TV Spielfilm: Das große Filmlexikon, 2006)

 

Die deutsche Premiere war am 30. September 1982 im WDR.

Der nackte Kuss (The naked kiss, USA 1964)

Regie: Sam Fuller

Drehbuch: Sam Fuller

mit Constance Towers, Anthony Eisley, Michael Dante, Virginia Grey, Patsy Kelly, Marie Devereux

DVD

Arthaus/Kinowelt

Bild: 1,33:1 (4:3 Vollbild)

Ton: Deutsch, Englisch (Mono Dolby Digital)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Trailer, Wendecover

Länge: 87 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Wikipedia über „Der nackte Kuss“

Der Film Noir über „Der nackte Kuss“

Film-Rezensionen über „Der nackte Kuss“

Turner Classic Movies: Sean Axmaker über „Der nackte Kuss“

The Last Drive In: Monstergirl über „Der nackte Kuss“ (Teil 1, Teil 2, Teil 3)

Criterion: Michael Dare über „Der nackte Kuss“

You Tube: der gesamte Film in bescheidener Bildqualität

1 Responses to DVD-Kritik: Sam Fullers Noir „Der nackte Kuss“

  1. […] Ein kleiner Noir-Klassiker der etwas anderen Art. Denn ein guter Film ist „Der nackte Kuss“ nicht. Ein bizarrer, ein irritierender, ein teils langweilender, teils beunruhigender und polarisierender Film ist „Der nackte Kuss“ schon; – mehr dazu in meiner ausführlichen Besprechung des „nackten Kusses“. […]

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