Nachdem David Cronenbergs „Eine dunkle Begierde“ (A dangerous Method, 2011) schnell als Nebenwerk abgetan wurde, waren die Erwartungen für „Cosmopolis“ hoch. Immerhin schrieb Cronenberg nach „eXistenZ“ (1999) wieder das Drehbuch für einen Spielfilm und im Cronenberg-Kanon werden die Filme, die er nach eigenen Büchern inszenierte, als die für ihn wichtigeren, persönlicheren, angesehen.
Als Vorlage nahm er ein Buch von Don DeLillo. DeLillo ist ein seit Jahrzehnten abgefeierter US-amerikanischer Autor, der mit „Unterwelt (Underworld, 1997) auch zum Bestsellerautor wurde. „Unterwelt“ ist, nach der Seitenzahl, sein Opus Magnum, das noch einmal alle seine Themen und Obsessionen auf gut tausend Seiten bündelt und, aufgrund der Länge, auch einen zerfaserten Eindruck hinterlässt.
In „Cosmopolis“ erzählt Don DeLillo auf knapp zweihundert Seiten von einem 28-jährigem Börsenspekulanten, der im April 2000 in seiner Limousine durch Manhattan fährt. Er will einen Haarschnitt bei seinem Frisör haben. Dass gleichzeitig alle Straßen wegen des Besuches des Präsidenten und einem Trauermarsch für einen Sufi-Rap-Star gesperrt sind, ist ihm egal. Auch dass der Komplex vor einem Anschlag warnt und daher die Sicherheitsmaßnahmen für Packer erhöhen will, ist im egal. Immerhin wird er von Bodyguards beschützt und seine Limousine ist sein von der Außenwelt abgeschottetes Büro, in dem er, nach Belieben, Leute empfangen kann. Für Geschäfte. Für philosophische Diskurse. Für Sex. Für seine tägliche ärztliche Untersuchung. Gerne auch gleichzeitig.
Die Fahrt ist auch eine Reise zu Eric Packers innersten Ängsten, ein Porträt von New York, vor allem der von Packers Limousine abgefahrenen 47. Straße und der Finanzindustrie – vor 9/11 und vor dem großen Finanzcrash. Gleichzeitig entwirft Don DeLillo eine Vision einer Welt, die mehr an die Cyberspace-Welten von William Gibson, als an die Realität erinnert. Jedenfalls die damalige.
Denn Packer verliert an diesem Tag sein ganzes Vermögen an der Börse. Doch dieser Verlust bleibt abstrakt. Es sind nur Zahlen auf einem Bildschirm.
Für den Film nahm David Cronenberg dann Don DeLillos Roman und verfilmte ihn mit minimalen Veränderungen. Er ließ ein, zwei Szenen weg, die sich im Film nicht realisieren ließen. Er stellte einige Kleinigkeiten um. Die größte Änderung ist, dass im Film Benno Levin (gespielt von Paul Giamatti) erst am Ende auftaucht. Davor hat Levin im Film nur einen Cameoauftritt im Hintergrund, als er, mit einer Perücke minimal verkleidet, zu einem Geldautomat geht. Im Buch gibt es dagegen 14 Seiten mit „Benno Levins Bekenntnissen“. Das Ende, der lange Dialog von Levin, der Packer umbringen will, und Eric Packer (gespielt von Robert Pattinson [mein Interview mit ihm]), ist dann wieder gleich. Im Drehbuch hatte diese Szene 22 Seiten und Cronenberg inszenierte sie fast ohne Schnitte.
Der Film ist dann auch folgerichtig ausschließlich aus Eric Packers Perspektive erzählt. Die Kamera verlässt nur mit Packer die Limousine.
Auch Don DeLillos Dialoge wurden Eins-zu-Eins übernommen. Dummerweise sind sie als Literatur vielleicht okay (obwohl sie mir schon da zu künstlich sind), aber in einem Film sind sie einfach nur noch gekünstelt.
Die Atmosphäre ist irreal oder, je nach Blickwinkel, hyperreal. Denn alle Charaktere bewegen sich wie Avatare durch eine künstliche Welt, die erst am Ende, wenn Packer sich in einem Frisörsalon, der sogar den Frisörsalon in dem Coen-Film „The Man, who wasn’t there“ modern erscheinen lässt, sich der Alltagsrealität etwas nähert. Aber auch dann inszeniert Cronenberg die Szene, als ob Packer sich in einem Alptraum befindet. Es ist eine Cyberwelt, in der es in der Matrix Hinweise auf kommende Ereignisse gibt (oder auch nicht) und in der, wie im Buch, Ereignisse hart hintereinander geschnitten werden, ohne dass die gewählte Reihenfolge die einzig mögliche oder die logisch sinnvollste ist. Alles steht unverbunden nebeneinander und nur durch Packers Reiseziel hat „Cosmopolis“ eine rudimentäre Geschichte.
Zum Ansehen ist „Cosmopolis“ dann auch hartes Brot. Denn Cronenberg lässt die Kamera meistens statisch die Schauspieler beobachten, die sich kaum bewegen und auch mimisch so wenig tun, dass die Grenze vom Unterspielen zum überhaupt nicht mehr spielen lässig überschritten wird. Einerseits trägt eben diese visuelle Kargheit zur besonderen Atmosphäre des Films bei, andererseits ist es für das Auge ähnlich anregend, wie Farbe beim Trocknen zuzusehen. „Cosmopolis“ wirkt wie ein abgefilmtes Hörspiel mit theatralischen Dialogen, das mit Standbildern der Schauspieler illustriert wird. Besonders Eric Packer ist ein Nichts mit der Ausstrahlung eines Besenstiels. Das liegt weniger bis gar nicht an den schauspielerischen Qualitäten von Robert Pattinson, sondern an dem von Cronenberg geschriebenem Drehbuch und dem von ihm gewähltem ästhetischen Konzept, das sogar Weltklasseschauspieler wie Paul Giamatti hilflos zurücklässt. Und dabei dachte ich bis jetzt, dass Giamatti alles glaubwürdig spielen kann.
Wenn man allerdings zuerst Don DeLillos Roman liest, der sich fast wie der Roman-zum-Film liest, und sich dann den Film ansieht, wird man schon einige Hintergründe kennen und genauer verfolgen können, wo das alles hinführt. Daher empfehle ich: zuerst das Buch lesen, dann – wenn man will – den Film sehen.
„Cosmopolis“ hat als furchtbar werkgetreue Adaption schon etwas, aber er ist auch furchtbar prätentiös und leblos.
Cosmopolis (Cosmopolis, Frankreich/Kanada 2012)
Regie: David Cronenberg
Drehbuch: David Cronenberg
LV: Don De Lillo: Cosmopolis, 2003 (Cosmopolis)
mit Robert Pattinson, Juliette Binoche, Sarah Gadon, Mathieu Amalric, Jay Baruchel, Keven Durand, K’Naan, Emily Hampshire, Samantha Morton, Paul Giamatti
Länge: 108 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Vorlage
Don DeLillo: Cosmopolis
(übersetzt von Frank Heibert)
KiWi, 2012 (Film Tie-In)
208 Seiten
8,99 Euro
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Originalausgabe
Cosmopolis
Scribner, 2003
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Deutsche Erstausgabe
Kiepenheuer & Witsch, 2003
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Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Deutsche Facebook-Seite zum Film
Cannes-Presseheft für „Cosmopolis“ (informativ und schön gelayoutet)
Rotten Tomatoes über „Cosmopolis“
Perlentaucher über Don DeLillos Roman „Cosmopolis“
Stuttgarter Zeitung: Mein Interview mit Robert Pattinson (5. Juli 2012)
Meine Besprechung von Marcus Stigleggers “David Cronenberg” (2011)
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Vorankündigung: Mit David Cronenberg habe ich auch gesprochen. Das „Cosmopolis“-Interview gibt es bald in der Kriminalakte.