Diese Besprechung enthält Spoiler – und dass ich das bei einem James-Bond-Roman schreiben kann, zeigt schon, wie ungewöhnlich „Der Mann von Barbarossa“ ist.
James Bond und sein Vorgensetzer M rätseln, was wirklich hinter der Kooperationsbitte steckt. Denn sie ergibt keinen Sinn. Da entführt eine geheimnisvolle Terrororganisation, die sich Waage der Gerechtigkeit nennt, in den USA einen Rentner, der ein untergetauchter Kriegsverbrecher sein soll, und erpresst die russische Regierung. Sie soll den Mann vor ein Gericht stellen. Zunächst noch ohne eine konkrete Drohung. Danach bittet das KGB seine ehemaligen Erzfeinde, die westlichen Geheimdienste, um tatkräftige Mithilfe beim Kampf gegen die Terrorgruppe. Es soll ein Team aus britischen, israelischen, französischen und, selbstverständlich, russischen Agenten gebildet werden, das in Russland, unter russischer Leitung, die Terroristen findet.
Nur: warum können die Russen das nicht auch ohne fremde Hilfe erledigen? Und: warum haben die Terroristen den falschen Mann entführt? Was wollen sie wirklich? Wer sind die Hintermänner dieser Waage der Gerechtigkeit, die in den vergangenen Jahren unter dem Radar der Geheimdienste als eine Art freischaffende, organisatorisch hochgradig verzweigte Söldnertruppe für verschiedene Terrorgruppen arbeitete?
Das sind nur einige der Fragen, die James Bond hat, als er in das frühere ‚Reich des Bösen‘ aufbricht.
Kurz nach dem Eintreffen von Bond und den anderen westlchen Geheimagenten in Russland, beginnt die Waage der Gerechtigkeit, weil ihre Forderung nicht erfüllt wird, hochrangige Mitarbeiter des russischen Militärs und des Geheimdienstes zu ermorden. KGB-Offizier Boris Stepakow, der die westlichen Geheimdienste um Hilfe bat und die Operation leitet, glaubt, dass die Terrorgruppe gute Verbindungen in die obersten Ränge des russischen politischen Systems hat.
John Gardner, der zwischen 1981 und 1996 sechzehn James-Bond-Romane (inklusive zweier Filmromane) schrieb, hält „Der Mann von Barbarossa“ für seinen besten Bond-Roman.
Jetzt, nachdem der Roman erstmals ins Deutsche übersetzt wurde, kann man prüfen, ob Gardners Ansicht stimmt. Denn bei den Bond-Fans ist sein elfter Bond-Roman nicht so beliebt. Immerhin spielt Gardner hier mit der bekannten Bond-Formel und es ist eher ein George-Smiley- als ein James-Bond-Roman, der sehr nah an der damaligen politischen Wirklichkeit ist. Die Geschichte des im Original 1991 veröffentlichten Romans spielt wenige Tage vor der im Roman öfter erwähnten und für das Finale wichtigen Irak-Invasion, die am 16. Januar 1991 startete. Damals begann eine von den USA angeführte und durch eine UN-Resolution legitimierte Koalition mit Kampfhandlungen zur Befreiung Kuwaits. Irak hatte das Land wenige Monate vorher besetzt. Dieser Krieg ist bekannt als Zweiter Golfkrieg oder Erster Irakkrieg.
Die Geheimdienste versuchten damals mit der neuen Situation umzugehen und ihrer Rolle nach dem Kalten Krieg zu finden. Gleichzeitig überlegten die Regierungen, ob man Geheimdienste in der künftigen friedlichen Welt überhaupt noch benötigt. Und selbstverständlich wusste damals noch niemand, wie sich die ehemaligen Ostblockländer weiter entwickeln würden. Würde aus der 1990 gegründeten Russischen Föderation eine Demokratie, eine Marktwirtschaft, eine Diktatur, eine Militärdiktatur oder ein riesengroßes, weltbedrohendes Chaos entstehen? Gardner legt sich zwar nicht fest, aber Herkunft und Motiv des Bösewichts, sind dann doch erstaunlich nahe an der heutigen Realität. Im Roman will ein KGB-Offizier eine Situation herbeiführen, die es ihm ermöglicht, zum Staatschef zu werden.
Am Romanende sagt M zu Bond über den Bösewicht: „Der Mann hatte eine Überzeugung. Er hatte einem System gedient, an das er fest glaubte. Er sah, wie es zerfiel, und er hatte bereits große Macht. Sie haben recht, und ich kann nur davon ausgehen, dass es noch Tausende wie ihn gibt. Gläubige. Eine solche Überzeugung verschwindet nicht einfach über Nacht. Wahrscheinlich wird es noch andere geben. Das hier ist noch nicht ausgestanden.“
Dieser Bösewicht hat, und das erklärt die Entführung des alten Mannes am Romananfang, eine zu diesem Zeitpunkt nur ihm bekannte verwandschaftliche Beziehung zu dem entführten Kriegsverbrecher. Dieser titelgebende ‚Mann von Barbarossa‘ ist ein Ukrainer, der sich 1941 in der Frühphase des Unternehmens Barbarossa der SS ergeben hatte, den Nazis bei ihren Verbrechen half, zum Stellvertreter eines SS-Unterscharführers wurde und unter dem ebenfalls historisch verbürgten SS-Kommandanten Franz Reichsleitner im Vernichtungslager Sobibór diente. Nach dem Krieg tauchte Josif Woronzow unter.
Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund entfaltet Gardner eine Geschichte, die sich über viele Rückblenden und Berichte von in das Geschehen involvierter Personen entfaltet, während James Bond ihnen zuhört. So vergeht viel Lesezeit, bis James Bond in Russland ist und erstmals Mitgliedern der Terrorgruppe begegnet und er bei einem von den Terroristen organisierten Schauprozess als Kameramann arbeiten muss, ohne dass es in der gewohnten Menge zu Bond-typischer Action und Liebesabenteuern kommt.
Diese von Gardner gewählte Struktur führt dazu, dass „Der Mann von Barbarossa“ kein typischer James-Bond-Roman ist. Es ist aber ein guter Roman, der sich durchgängig wie ein James-Bond-Roman liest. Das konnte man ja von den letzten James-Bond-Romanen, die von verschiedenen Autoren geschrieben wurden, nicht immer behaupten. Und es ist, was ein großer Teil des Lesevergnügens ist, ein Roman, der heute eine Zeitkapsel aus der Vergangenheit ist, als weltpolitische Veränderungen auch ein ganzes Genre vor die Sinnfrage stellten.
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John Gardner: James Bond: Der Mann von Barbarossa
(übersetzt von Anika Klüver und Stephanie Pannen)
Cross Cult, 2017
400 Seiten
15 Euro
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Originalausgabe
James Bond: The Man from Barbarossa
Hodder & Stoughton, 1991
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Hinweise
Wikipedia über John Gardner (deutsch, englisch)
Wired for Books unterhält sich mit John Gardner (1984 und 1985 – zwei Audiofiles)
Meine Besprechung von Jeffery Deavers James-Bond-Roman “Carte Blanche” (Carte Blanche, 2011)
Meine Besprechung von William Boyds James-Bond-Roman “Solo” (Solo, 2013)
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