Als ein Nachbardorf überfallen wird, beginnt für die dreizehnjährige Kyona und ihren jüngeren Bruder Adriel die titelgebende Odyssee durch eine Welt voller Gefahren. Zuerst mit ihren Eltern, später allein stolpern sie durch ein dystopisches Europa. Die Bilder und die Erlebnisse der beiden Kinder erinnern dabei an die Katastrophen, Diktaturen und Migrationsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts in Europa, Osteuropa und der Levante.
Florence Miailhes erzählt in ihrem Langfilmdebüt die Geschichte von Kyona und Adriel. Sehenswert ist der Film wegen seiner Geschichte und seiner Machart. Bekannt ist Miailhe als Regisseurin von animierten Kurzfilmen. „A Summer Night Rendez-Vous“ erhielt 2001 den César als bester Kurzfilm. „Conte de Quartier“ 2006 eine Lobende Erwähnung bei den Filmfestspielen von Cannes. 2015 wurde sie beim Animationsfilmfestival von Annecy für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet.
In „Die Odyssee“ erzählt sie eine Geschichte, die von der Flucht ihrer Urgroßeltern aus der jetzt zur Ukrainie gehörenden Hafenstadt Odessa inspiriert ist. Wie viele andere verließen sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wegen antisemitischen Pogromen ihre Heimat Odessa.
Sie könnte wegen ihrer Machart – „Die Odyssee“ ist ein Animationsfilm – fast überall und zu fast jeder Zeit spielen könnte. Denn alles, was auf ein bestimmtes Jahr oder Jahrzehnt deutet, wurde entfernt. Miailhe und ihre Co-Autorn Marie Desplechin ließen sich auch von Ereignissen und Bildern inspirieren, die später stattgefunden hatten. Gleichzeitig benutzten sie viele Märchenmotive. Sie abstrahierten also immer mehr von einem konkreten historischen Hintergrund zugunsten eines märchenhaften Tonfalls. Eines Horrormärchens, das die Welt aus der Sicht der durch mehrere Länder flüchtenden Geschwister betrachtet und in der sie von einem furchterregendem Erlebnis zum nächsten stolpern und sie Monstern, die wie Menschen aussehen, begegnen.
Und damit ist sie heute, während viele Ukrainer ihre Heimat mit unklarem Ziel verlassen müssen, wieder brennend aktuell.
Allerdings ist diese Aktualität ein Zufall. Denn Miailhe begann mit den Arbeiten für den Film schon vor Jahren. Ihre ersten Arbeiten an der Geschichte waren 2006. 2010 erhielten sie und Marie Desplechin den Drehbuchpreis auf dem Festival Premier Plans in Angers. Danach musste der Film noch finanziert werden. Die Produktion dauerte dann drei Jahre. Denn Miailhe erstellte auch ihr Langfilmdebüt mit der von ihr favorisierten Öl-auf-Glas-Technik: „Ich habe schon immer mit animierter Malerei direkt unter der Kamera gearbeitet. Diese Praxis erfordert präzises und intuitives Arbeiten. Ich habe sie im Laufe meiner filmischen Karriere immer weiter verfeinert. Die Animation wird Bild für Bild auf mehreren Glasschichten direkt unter der Kamera ausgeführt. Dieses System ist so aufgebaut, dass so weit wie möglich alles zur gleichen Zeit und von der gleichen Person gemacht wird: die Figuren, das Set, die Effekte, die Farbe. So kann das Bild jederzeit in seiner Gesamtheit konzipiert werden. Für Animator*innen fühlt es sich an, als würden sie ein Gemälde zum Leben erwecken. Es stimmt, dass animierte Malerei etwas länger dauert als andere Animationstechniken, aber vor allem, weil die Arbeit schwieriger zu teilen ist. Wir sind gezwungen, in einem kleinen Team zu arbeiten und die Produktion dauert deshalb viel länger. Abhängig von Aufnahmen und Animator*innen konnten pro Tag mal 6 Sekunden, dann wieder nur eine Sekunde Film entstehen.“
Die so entstehenden Bilder sehen prächtig aus und sie sind auch sehr farbenprächtig. Außerdem unterscheiden sie sich wohltuend von anderen Animationsfilmen, die sich doch sehr oft sehr ähneln.
Zu den eindrucksvollen Bildern kommt eine wirklich furchterregende und Gänsehaut erzeugende Tonspur, die hörbar macht, was in den Zeichnungen nicht zu sehen ist. Das macht „Die Odyssee“ zu einem Trickfilm, der kein Kinderfilm ist.
Die Odyssee (La Traversée, Frankreich/Deutschland/Tschechische Republik 2021)
Regie: Florence Miailhe
Drehbuch: Marie Desplechin, Florence Miailhe
mit Hanna Schygulla (Erzählerin)
Länge: 84 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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