Ein bisschen unbeholfen ist Marianne Winckler schon als sie sich zunächst auf eine Stelle bewirbt und später als Putzfrau arbeitet. Sie hat nämlich keine Ahnung, was sie beim Jobcenter beantragen soll, welche Stellen für sie in Frage kommen und wie eine Bewerbung geschrieben wird. Sie erklärt ihre Ahnungslosigkeit damit, dass sie seit Ewigkeiten nicht arbeitete, vor kurzem von ihrem Mann verlassen wurde und jetzt in einer neuen Stadt anfangen will.
Das ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn Marianne ist eine Schriftstellerin, die jetzt über das Leben des Prekariats schreiben will. Nicht besserwisserisch von oben herab, sondern im Rahmen einer investigativen Recherche unter falscher Identität. Günter Wallraff wurde mit solchen Mißstände aufdeckende Reportagen bekannt. Legendär sind seine Undercover-Recherche bei der Bild-Zeitung (in den Siebzigern) und als türkischer Gastarbeiter, der in verschiedenen Firmen schlecht bezahlte Jobs annahm (in den Achtziger).
Mit Marianne tauchen wir in das anstrengende Leben der Putzfrauen in der nordfranzösischen Hafenstadt Caen ein.
Emmanuel Carrères Film basiert auf dem Bestseller „Putze: Mein Leben im Dreck“ von Florence Aubenas. Die bekannte Journalistin Aubenas schrieb im Rahmen einer Undercover-Recherche über ihre Erfahrungen als Frau, die in Caens ohne eine Ausbildung eine Arbeit sucht. Sie bekommt nur schlecht bezahlte Jobs als Putzfrau angeboten. Das 2010 erschienene Buch ist ein schonungsloser Einblick in das Leben des Prekariats. Für den Film wurde eine sich nah an den Reportagen bewegende Geschichte erfunden, die letztendlich in der Gegenwart spielt. Damit ist „Wie im echten Leben“, ohne es explizit zu sagen, auch eine Abrechnung mit Emmanuel Macron und seiner Politik, die immer wieder auf heftigen Protest, zum Beispiel von den Gelbwesten, stieß. Denn die Putzfrauen in Carrères Drama sind viel zu sehr damit beschäftigt, genug Geld für sich und ihre Familien zu verdienen, sich gegenseitig zu helfen und auch manchmal einige Stunden gemeinsamen Glücks zu erleben.
Treibende Kraft hinter dem Film war Juliette Binoche, die auch die Hauptrolle übernahm. Sie sprach immer wieder Aubenas auf eine Verfilmung an. Irgendwann gab Aubenas ihre Zustimmung für eine Verfilmung, wenn Emmanuel Carrère das Drehbuch schrieb. Er war Filmkritiker, ist Buch- und Drehbuchautor (unter anderem mehrere Fred-Vargas-Verfilmungen) und Regisseur von einem Dokumentar- und einem Spielfilm. Carrère übernahm dann auch die Regie.
Sein Film ist typisches französisches Starkino mit sozialem Gewissen, das über Mißstände aufklärt und ein breites Publikum erreichen will. So sollen wir glauben, dass Frankreichs schönste Frau eine Putzfrau ist; – auch wenn sie eine Schriftstellerin ist, die eine Putzfrau spielt. Die anderen Rollen werden von Laien gespielt, die sich selbst spielen. Das verleiht dem Spielfilm eine starke dokumentarische Note.
Carrère erzählt das mit einem Blick auf die soziale Situation der porträtierten Frauen. Er verleiht ihnen eine Stimme und zeigt Probleme innerhalb der französischen Gesellschaft auf. Diese Probleme gibt es so ähnlich auch in anderen Industriegesellschaften.
Als Starkino – wie gesagt: Juliette Binoche spielt die Hauptrolle – macht der Film auch Konzessionen an den Publikumsgeschmack. Alles ist sehr gefällig erzählt. „Wie im echten Leben“ ist nie – und will es auch nie sein – ein Arthaus-Film oder radikales politisch-aufklärerisches und anklagendes Politkino, wie wir es von Ken Loach kennen. Carrères Film ist eher eine Geschichte über Freundschaft, Solidarität und Verrat. Denn natürlich erfahren Mariannes neue Kolleginnen und Arbeitsfreundinnen, die ihr bedingungslos vertrauen, irgendwann, dass sie keine mittellose geschiedene Frau, sondern eine erfolgreiche Schriftstellerin ist und zu einer ganz anderen gesellschaftlichen Klasse gehört.
In diesem Rahmen ist „Wie im echten Leben“ ein sehr gelungenes Drama, das Diskussionen anstoßen kann.
Wie im echten Leben (Ouistreham, Frankreich 2021)
Regie: Emmanuel Carrère
Drehbuch: Emmanuel Carrère, Hélène Devynck
LV: Florence Aubenas: Le Quai d’Quistreham, 2010 (Putze: Mein Leben im Dreck)
mit Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine, Patricia Prieur, Evelyne Porée, Didier Pupin
Länge: 107 Minuten
FSK: ab 6 Jahre
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Hinweise
AlloCiné über „Wie im echten Leben“
Moviepilot über „Wie im echten Leben“
Diese Woche erscheint der Film auf DVD: