Neu im Kino/Filmkritik: Altmodische Rätselkrimiunterhaltung mit „See how they run“

Kennst du einen, kennst du alle“ lästert US-Regisseur Leo Köpernick (Adrien Brody) am Anfang von „See how the run“. In Hollywood steht er auf der Schwarzen Liste. In London soll er 1953 Agatha Christies Theaterstück „Die Mausefalle“ verfilmen. Das läuft gerade erfolgreich im Londoner West End. Köpernick führt dann weiter aus, dass selbstverständlich die unsympathischte Person, die mitspielt, ermordet wird, ein Detektiv nacheinander alle Verdächtigen verhört und am Ende wird die Person als Täter enttarnt, die bis dahin die unverdächtigste Person war. Deshalb hat er das Drehbuch nicht gelesen, sondern dem Drehbuchautor sofort die Szenen vorformuliert, die aus der drögen Tätersuche einen spannenden Thriller machen.

Das erklärt Köpernick uns in einer flotten Voice-Over-Montage, in der er uns gleichzeitig die für die spätere Geschichte wichtigen Figuren vorstellt. Sie wurden zur Feier der hundertsten Aufführung des Stückes eingeladen. Dort beginnt er eine Schlägerei mit dem Hauptdarsteller des Stücks. Wenige Minuten später wird unser Erzähler hinter den Kulissen des Theaters ermordet und vom Täter kunstvoll auf der Bühne drapiert.

Dieser Beginn bricht schon einmal in zwei Punkten mit den Konventionen des Rätselkrimis. Danach ist das Opfer nicht der Erzähler der Geschichte. Denn er ist, neben Mörder, die einzige Person, die den Täter kennt. Und in einem normalem Agatha-Christie-Rätselkrimi geschieht der Mord erst in der Mitte der Geschichte. Bis dahin konnten alle sich ausreichend verdächtig machen. In Tom Georges Film geschieht er bereits nach wenigen Minuten.

Danach folgt, entsprechend den Konventionen, der Auftritt des Ermittlers, der sich zuerst einmal mit den Verdächtigen, also mit allen Ensemblemitgliedern und den Gästen der Feier, wozu vor allem der Filmproduzent und der Drehbuchautor, gehören, herumärgern muss. Helfen soll Inspector Stoppard (Sam Rockwell) Constable Stalker (Saoirse Ronan), eine junge, sehr ambitionierte Streifenpolizistin, die sich alles notiert. Alles. Auch, dass sie sich nicht alles notieren soll. Denn es könnte später wichtig sein.

Mit Kenneth Branaghs Agatha-Christie-Verfilmung „Mord im Orientexpress“ und Rian Johnsons „Knives out“ erlebte der Rätselkrimi im Kino als Starkino eine kleine Renaissance. Vom Buchmarkt war er nie ganz verschwunden; auch wenn diese Cozies bei den Hardboiled-Fans nicht allzu beliebt sind. Im Fernsehen hat der traditionelle Rätselkrimi schon seit Ewigkeiten eine zweite Heimat gefunden. Exemplarisch genannt seien die zahlreichen mehr oder weniger direkt auf Agatha-Christie-Figuren, wie Hercule Poirot und Miss Marple, basierenden TV-Serien und unzählige weitere TV-Serien, wie, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen, „Death in Paradise“, „Father Brown“ und „Monk“.

So vergnüglich diese Rätselkrimi sind, so unfilmisch sind die langwierigen Befragungen der Verdächtigen. Das sagt auch Köpernick uns, bevor er ermordet wird. Deshalb hatte er dem Drehbuchautor Mervyn Cocker-Norris (David Oyelowo) Rückblenden, Texteinblendungen und viel Action am Filmende vorgeschlagen. Cocker-Norris lehnte das empört ab. Er hätte auch die zahlreichen Split Screens, die Tom George oft einsetzt, abgelehnt.

Gefallen hätten ihm dagegen sicher die zahlreichen Anspielungen auf Agatha Christie, ihr Stück „Die Mausefalle“, auf das Theater, Rätsel- und Hollywood-Krimis. Mit Fakten wird dabei eher lässig umgegangen. Das macht aus „See how they run“ schon ab der ersten Minute einen Meta-Krimi, der seinen Spaß mit den Regeln haben will.

Dabei steht Georges Film, nach einem Drehbuch von Mark Chappel, nicht in der Tradition der aktuellen Kino-Wiederbelebungen des Rätselkrimis, sondern in der Tradition damaliger Filme und TV-Filme. Letztendlich ist in dieser Liebeserklärung an den traditionellen Rätselkrimi alles sehr gemütlich inszeniert. Die Dialoge mäandern immer wieder vor sich hin. Die Pointen sind eher harmlos. Die Morde weitgehend unblutig. Und wenn sich alle zum großen Finale im Haus von Agatha Christie versammeln, wird selbstverständlich Tee gereicht.

Die betuliche Rätselkrimikomödie richtet sich primär an den traditionsbewussten Rätselkrimifan, der nicht verunsichert werden möchte, es aber genießt, wenn die Regeln stilbewusst ein wenig durch den Kakao gezogen werden. Genau deshalb könnte „See how they run“ in einigen Jahren einer dieser Filme sein, die regelmäßig, gerne mit einer „Leiche zum Dessert“, im Fernsehen laufen und jedes Mal wohlwollend aufgenommen werden.

P. S.: „Die Mausefalle“ läuft immer noch im West End und der Mörder ist

See how the run (See how they run, Großbritannien/USA 2022)

Regie: Tom George

Drehbuch: Mark Chappel

mit Sam Rockwell, Saoirse Ronan, Adrien Brody, Ruth Wilson, David Oyelowo, Reece Shearsmith, Harris Dickinson, Charlie Cooper, Shirley Henderson, Lucian Msamati, Pippa Bennett-Warner, Pearl Chanda, Paul Chahidi, Sian Clifford, Jacob Fortune-Lloyd, Tim Key, Ania Marson

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „See how they run“

Metacritic über „See how they run“

Rotten Tomatoes über „See how they run“

Wikipedia über „See how they run“ (deutsch, englisch)

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